5. Kritik der Ausfrageexperimente.

    Die Ausfrageversuche sind, wie bereits oben bemerkt wurde, unverkennbar aus den Reaktionsversuchen hervorgegangen: sie sind reduzierte Reaktionsversuche, bei denen an die Stelle des den Versuch einleitenden Reizes die Frage des Versuchsleiters und an die Stelle der Reaktionsbewegung die Antwort des Beobachters getreten ist. Wie bei den eigentlichen Reaktionsversuchen die Bewegung vollzogen wird, nachdem irgendein psychischer Vorgang, sei es eine Perzeption oder Apperzeption des Reizes oder eine Unterscheidung, Wahl u. dergl. vollzogen ist, so hat auch bei den Ausfrageversuchen die Antwort zu erfolgen, nachdem der Beobachter mit der durch die Frage angeregten intellektuellen Aufgabe ins Reine gekommen ist. Der zwischen Reiz und Reaktion liegende psychische Vorgang ist demnach zwar viel komplizierter als bei den gewöhnlichen Reaktionsversuchen; aber die äußeren Veranstaltungen zur Hervorrufung des Eindrucks wie zur Reaktion sind die denkbar einfachsten: die Ausfrageexperimente sind "Experimente ohne Instrumente".

    Nun ist es ein verbreitetes Vorurteil, daß zu jedem Experiment Instrumente gehören, und zuweilen glaubt man sogar, die Exaktheit des Experimentes einigermaßen nach der Kompliziertheit der Apparate bemessen zu dürfen, die zu seiner Ausführung gebraucht werden. Daß das letztere bei naturwissenschaftlichen so wenig wie bei psychologischen Experimenten zutrifft, ist einleuchtend. Es gibt vorzügliche Untersuchungen, die mit verhältnismäßig einfachen Mitteln, und unvollkommene, die auf sehr komplizierte Weise ausgeführt sind. Das ist um so selbstverständlicher, als die Apparate selbst wieder Fehlerquellen der Beobachtung mit sich zu führen pflegen, die sich bisweilen mit ihrer Häufung steigern. So gehören auch auf psychologischem Gebiet die gewöhnlichen Reaktionsversuche mit ihren Zeitmessungs- und Kontrollapparaten und ihren Signal- oder Telephonleitungen für die Kommunikation der in getrennten Räumen arbeitenden Teilnehmer gewiß instrumentell zu den allerkompliziertesten, sie gehören aber gleichzeitig methodologisch zu den unvollkommensten psychologischen Experimenten. Endlich "Experimente ohne Instrumente" sind zwar, wenn wir das Wort Instrument im weitesten Sinne nehmen, auf den naturwissenschaftlichen Gebieten ausgeschlossen: hier geht bei dieser Reduktion das Experiment von selbst in die einfache Beobachtung über. Denn der "willkürliche Eingriff in den Verlauf der Erscheinungen", in dem das Wesen des Experi-mentes besteht, kann hier nicht wohl ohne irgendwelche äußere Hilfsmittel zustande kommen. Das verhält sich aber einigermaßen anders beim psychologischen Experiment, wo jemand durch Worte oder Handlungen eines anderen eventuell in einer der experimentellen Einwirkung gleichwertigen Weise beeinflußt werden oder möglicherweise sogar sich selbst beeinflussen kann. Zu den Experimenten der letzteren, allereinfachsten Art gehören z. B. die bekannten Gedächtnisversuche von Ebbinghaus 1). Sie sind sogar im Hinblick auf die sorgfältige Wiederholung der Versuche und die planmäßige Variation der Bedingungen musterhafte Experimente, obgleich sich Ebbinghaus bei seiner Lernmethode gar keiner instrumentellen Hilfsmittel bedient und die Versuche nur an sich selbst angestellt hat. In anderen Fällen sind die angewandten Vorrichtungen von der allereinfachsten Beschaffenheit gewesen, wie z. B. in den schon erwähnten Assoziationsversuchen von Scripture und Cordes, und doch können solche Versuche treffliche Anwendungen experimenteller Methode genannt werden. Freilich ist hinzuzufügen, daß zu dieser Vereinfachung oder gar zu einer gänzlichen Enthaltung von instrumentellen Hilfsmitteln entweder eine sehr einfache Beschaffenheit der Probleme erforderlich ist, wie bei den genannten Assoziationsversuchen, oder aber ein noch relativ zurückgebliebener Stand ihrer Bearbeitung, wie bei den Ebbinghausschen Gedächtnis versuchen, die zu ihrer Zeit sehr verdienstlich waren, die aber bei dem heutigen fortgeschrittenen Zustand dieser Untersuchungen kaum mehr jemand in dieser einfachen Form wiederholen oder weiterführen wird.

1) H. Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. Untersuchungen zur experimentellen Psychologie. 1885.
 
 
    Aus allem dem erhellt, daß Apparate nicht im geringsten ein Kriterium für die Anwendung experimenteller Methoden und für die Brauchbarkeit der Versuche abgeben. Darin, daß die Ausfrageexperimente Experimente ohne Instrumente sind, kann also an sich kein Einwand gegen sie und gegen ihre Anerkennung als einer experimentellen Methode gesehen werden. Daraus folgt zugleich, daß es allein innere, im eigentlichen Sinne methodologische Merkmale sind, nach der diese wie jede andere Art von Experimenten zu beurteilen ist. Hier stehen uns aber als Maßstäbe einer solchen Beurteilung nur die vier oben aufgezählten Regeln zu Gebote, die, wie wir gesehen haben, bei den "vollkommenen" psychologischen Experimenten ausnahmslos, bei den "unvollkommenen" entweder teilweise oder indirekt durch planmäßige Beeinflussung von Erscheinungen, die mit den untersuchten Tatsachen in Beziehung stehen, befolgt werden. Wie verhält es sich nun in dieser Hinsicht mit den Ausfrageexperimenten? Von der Beantwortung dieser Frage allein, aber von ihr auch endgültig wird die Beurteilung des Wertes der Methode abhängen.

    1) Ist der Beobachter bei der Ausführung der Experimente in der Lage, den Eintritt des zu beobachtenden Vorgangs selbst bestimmen zu können? – Man muß bei dieser Frage zunächst festhalten, daß Beobachter nicht der sogenannte Versuchsleiter, sondern die Versuchsperson ist, die zuerst den in ihr durch die Frage angeregten psychischen Vorgang zu beobachten und dann auf ihn mit einem Ja oder Nein oder mit einer sonstigen Antwort zu reagieren hat. Nun ist der Versuchsleiter allerdings vollkommen in der Lage, den Eintritt des Vorgangs zu bestimmen, die Versuchsperson oder der wirkliche Beobachter ist aber darüber höchstens in bezug auf den Zeitpunkt des Eintritts orientiert, von dem Inhalt selbst hat er keine Ahnung und darf keine haben, denn das Gegenteil würde den ganzen Plan des Versuchs zunichte machen. Für den Beobachter ist also die an ihn gestellte Frage im eigentlichsten Sinne ein "unerwartetes Ereignis", d. h. der Eindruck gehört zu denjenigen Phänomenen, bei denen auf psychologischem so gut wie auf naturwissenschaftlichem Gebiet die Bedingungen zu exakter Beobachtung die allerungünstigsten sind. Nun muß freilich zugestanden werden, daß gerade bei manchen der "unvollkommenen" Formen psychologischer Experimente die Bedingungen dieser Grenze schon ziemlich nahe kommen: so z. B. bei den Assoziationsexperimenten, deren oben gedacht wurde, und bei gewissen Reaktionsversuchen, bei denen man den Reagenten gewisse psychische Akte vornehmen läßt, wie Unterscheidungen, eine Wahl zwischen verschiedenen, bestimmten Unterscheidungen im voraus zugeordneten Reaktionsbewegungen usw. Dennoch besteht, obgleich dieses Moment die Sicherheit der Versuche bereits merklich beeinträchtigt, immer noch ein sehr wesentlicher Unterschied gegenüber den Ausfrageexperimenten. Bei allen jenen Versuchen handelt es sich um höchst einfache psychische Vorgänge: bei Assoziationsexperimenten will man, ohne irgendeine willkürliche Geistestätigkeit auszuführen, den ersten beliebig aufsteigenden assoziierten Inhalt feststellen, ohne von ihm aus zu weiteren psychischen Akten überzugehen, die die Erinnerung an ihn wahrscheinlich wieder verwischen würden; bei den zusammengesetzten Reaktionen will man eine Bewegung ausführen, die einem bestimmten psychischen Vorgang eindeutig zugeordner ist. Das verhält sich bei den Ausfrageexperimenten ganz anders. Hier wird dem Beobachter eine meist nicht unerhebliche geistige Arbeit zugemutet, eine Arbeit, die ihn unter normalen Verhältnissen, d h. ohne den Zwang des Experimentes, stundenlang beschäftigen könnte, und die er nun plötzlich leisten soll, indes seine Gedanken zuvor wahrscheinlich völlig abliegende Wege gegangen waren. Man vergegenwärtige sich nur solche in Bühlers Gedankenexperimenten vorkommende Beispiele, wie: "was kann man sich unter einer weltgeschichtlichen Apperzeption denken?" oder: "kann die physikalische Atomtheorie durch irgendeine Entdeckung jemals als unhaltbar erwiesen werden?" usw. Derartige Fragen sind, wenn wir sie mit den von der astronomischen und physikalischen Beobachtungskunst gefürchteten und darum womöglich vermiedenen unerwarteten Ereignissen vergleichen, nicht nur unerwartet, sondern sie sind überdies außerordentlich verwickelt, und dementsprechend werden natürlich auch die psychischen Vorgänge, die sie in dem Befragten anregen, so komplizierter Art sein, daß sich dadurch die Schwierigkeit der Beobachtung unerwarteter Vorgänge geradezu ins unabsehbare steigert. Was schon auf physikalischem Gebiet die sonstigen Schwierigkeiten der Beobachtung unerwarteter Vorgänge erhöht, das ist, daß neben der Unmöglichkeit, sich vorbereitend auf sie einzustellen, die Überraschung ein psychischer Faktor ist, der direkt auch von dem Physiker als eine Störung des Bewußtseins empfunden wird, die die Zuverlässigkeit der Beobachtung auf das äußerste in Frage stellt. Wenn das selbst für die Beobachtung äußerer Naturerscheinungen gilt, wie viel mehr gilt es für die Selbstbeobachtung, wo dieser störende Einfluß nicht bloß die Beobachtung schädigt, sondern wo auch die zu beobachtenden Vorgänge selbst durch jede Gemütsbewegung verändert werden! Was man von jeher gegen die planmäßige Selbstbeobachtung eingewandt hat, daß sie notwendig den Gegenstand verändere, dessen Beobachtung sie sich zur Aufgabe mache, das gilt so von Anbeginn an von den Ausfrageexperimenten, die zu diesen verändernden Einwirkungen der Selbstbeobachtung schon beim Beginn des Experimentes noch den verderblichen Einfluß der Überraschung hinzufügen.

    2) Vermag der Beobachter bei den Ausfrageexperimenten den Verlauf der Erscheinungen mit Aufmerksamkeit zu erfassen und zu verfolgen? – Diese Frage läuft im Grunde auf die andere hinaus: kann es psychische Vorgänge, z. B. logische Denkakte, geben, zu deren Erzeugung die äußerste Spannung unserer Aufmerksamkeit erfordert wird, und die wir gleichzeitig unter Aufbietung einer eben solchen Spannung der Aufmerksamkeit beobachten? In der verneinenden Beantwortung dieser Frage sind wohl alle Psychologen einig, die sich irgendwie ernsthafter mit dem Problem der Aufmerksamkeit beschäftigt haben. Eine Verdoppelung der Persönlichkeit gibt es bekanntlich gelegentlich im Traum und in der Geistesstörung, in Zuständen, bei denen gerade die Funktionen der Aufmerksamkeit völlig darniederliegen. Eine Verdoppelung der Aufmerksamkeit in jenem Sinne, in welchem der Sprachgebrauch nicht bloß eine intensive Steigerung, sondern eine doppelte Richtung derselben bezeichnet, eine solche Verdoppelung gibt es weder im Traum, noch im wachen Bewußtsein, und in diesem um so weniger, je gespannter die Aufmerksamkeit den psychischen Vorgängen, die wir beobachten sollen, zugewandt ist. Das Äußerste des Unmöglichen, was wir einem Beobachter zumuten können, ist daher dies, daß wir von ihm verlangen, er solle über irgendein ihm vorgelegtes Problem mit angestrengter Aufmerksamkeit nachdenken, und diese Forderung noch dadurch unterstützen, daß wir, die Antwort erwartend, neben ihm stehen und ihn, mit der Uhr in der Hand, willkürlich oder unwillkürlich antreiben, sein Denken auf die äußerste Eile einzustellen, und wenn wir zu allem dem von ihm verlangen, er solle auf seine eigene Gedankentätigkeit aufmerken und das Beobachtete festhalten, um es nachträglich zu Protokoll zu geben. Mit Recht haben einsichtige Psychologen schon in der Zeit, da man auf die reine Selbstbeobachtung größeren Wert legte, als man es heute zu tun pflegt, anempfohlen, wer mit einigem Erfolg Selbstbeobachtungen auszuführen wünsche, solle sich nicht gerade die Zustände angestrengtester Aufmerksamkeit auf die Vorgänge selbst oder die bei willkürlicher Produktion derselben sich einstellenden Zustände auswählen, sondern er solle nachträglich, nachdem die ohne jede Absicht zur Ausführung einer Selbstbeobachtung verlaufenden Vorgänge vorüber sind, sie gelegentlich ins Gedächtnis zu rufen suchen. Hier geschieht von allem dem das Gegenteil: der Beobachter setzt sich nieder in der Absicht, Selbstbeobachtungen zu machen, das Material zu diesen wird ihm in der Form eines bisweilen recht schwierigen intellektuellen Problems gegeben, und er soll dann, noch dazu gedrängt durch den Gedanken, daß man auf seine Antwort warte, seine Gedankentätigkeit während ihres Ablaufs beobachten, um schließlich mittels der Reproduktion über sie zu berichten.

    3) Wird bei den Ausfrageexperimenten die Beobachtung wiederholt, um eine Kontrolle und größere Sicherheit der Ergebnisse zu gewinnen? – Falls man unter der Wiederholung bloß eine oft nacheinander stattfindende Anstellung von Versuchen nach der gleichen Methode verstehen wollte, so würde sich gegen die Behauptung, daß diese wichtige experimentelle Regel befolgt sei, kaum etwas einwenden lassen. Der gleiche Beobachter in einer größeren Reihe von Versuchen, der gleiche Versuchsleiter, die übereinstimmende Art, wie die Fragen gegeben, wie über sie nachgedacht, und wie sie beantwortet werden – alles das trifft im allgemeinen zu. Aber diese Äußerlichkeiten, bei denen möglicherweise ein gewisser Wechsel sogar sehr zweckmäßig sein kann, sind natürlich bei jener Regel der Wiederholung nicht gemeint, sondern bei gleichem beobachteten Inhalt soll das Experiment wiederholt werden, damit das, was bei der ersten Wahrnehmung wegen der Flüchtigkeit der Vorgänge etwa dem Beobachter entgehen mochte, bei einem zweiten Versuch nachgeholt und eventuell berichtigt werde. Eine solche Wiederholung schließen die Ausfrageexperimente ihrem Charakter nach aus. Jede Frage muß eine völlig neue sein. Die nämliche, ein zweites Mal gestellt, würde beinahe unvermeidlich den Versuch zu einem Gedächtnisversuch machen oder mindestens eine Vermischung und dadurch eine unabsehbare Verwickelung herbeiführen. Man mag also zugeben, daß die Natur des Problems das Hilfsmittel der Wiederholung ausschließt. Aber dann bleibt es immerhin ein großer Übelstand, daß dadurch den Experimenten eines der wichtigsten Hilfsmittel der experimentellen Methode entgeht, und daß sie eben damit zugleich einer der Hauptforderungen, die man an eine solche Methode stellen muß, nicht nachkommen, sondern in dieser Beziehung nichts sind als gewöhnliche Selbstbeobachtungen in einer durch das äußere Gewand eines experimentellen Verfahrens verschleierten Form.

    4) Findet bei den Ausfrageexperimenten die zu jeder erfolgreichen Anwendung experimenteller Methoden willkürliche Variation der Bedingungen statt, und ist eine solche überhaupt bei ihnen ausführbar? – Man könnte denken, die Möglichkeit einer beliebigen Variation der Bedingungen sei bei diesen Versuchen von selbst gegeben, da es in der Macht des Versuchsleiters steht, seine Fragen nach irgend einem von ihm im voraus entworfenen Plan einzurichten. Auch bringt es der Charakter der Versuche mit sich, daß die an die Versuchsperson gerichteten Fragen oder die ihr vorgelegten Gedanken irgend welcher Schriftsteller im voraus bereit gestellt werden, so daß der Versuchsleiter, der dieses Geschäft besorgt, an sich wohl irgend einen planmäßigen Wechsel der Bedingungen einführen könnte. Dennoch kommt es auch hier wieder nicht sowohl auf den Versuchsleiter als auf die Versuchsperson selbst an, die ja der eigentliche Beobachter und zugleich das Objekt ist, an dem experimentiert wird. Findet für diese eine planmäßige Variation der Bedingungen statt, und ist sie überhaupt in den Versuchen ausführbar? So gestellt muß offenbar die Frage verneint werden. Für die Versuchsperson ist jede Frage von der ersten bis zur letzten ein dem Gedankeninhalte nach unerwartetes Ereignis, und sie muß es sein, weil sonst die Versuche, die auf die Untersuchungen spontaner Gedankenbildungen gerichtet sind, mit solchen, in die zugleich Wiedererkennungs- und Erinnerungsvorgänge als wesentliche Faktoren eingreifen, zu einem ununterscheidbaren Gemenge zusammenfließen würden. Da demnach eine noch so planmäßige Anordnung der Fragen von Seiten des Versuchsleiters für die Versuchsperson gleichgültig bleibt, so ist es aber unvermeidlich, daß dieses Verhältnis auch auf den ersteren zurückwirkt. Auch der Experimentator wird es unterlassen, nach einem fest bestimmten Plan zu verfahren, wenn dieser zwecklos ist. In der Tat läßt die Reihenfolge der Fragen weder in den Urteilsversuchen Marbes, noch in den Gedankenexperimenten Bühlers, die ich oben als typische Beispiele herausgegriffen habe, irgend eine planmäßige Veränderung der Bedingungen entdecken. Denn wenn in verschiedenen Versuchsgruppen die Art der Frage oder die Form der Antwort abweichend gewählt wurden, z. B. die letztere bald durch eine Gebärde, bald durch ein Ja oder Nein usw. geschah, so ist das ebenso wenig eine Variation der Bedingungen im Sinne der experimentellen Methodik, als wenn man etwa die Antworten das eine Mal in deutscher, das andere Mal in lateinischer Schrift aufzeichnen ließe. Auch die vierte und neben der ersten wichtigste Regel, die berühmte Baconische "Abstufungsmethode", versagt also bei diesen Versuchen, und sie erweist sich sogar als unvereinbar mit ihnen.

    So ergibt sich unausbleiblich das Resultat: die Ausfrageexperimente sind überhaupt keine Experimente im Sinne einer wissenschaftlichen Methodik, sondern sie sind Scheinexperimente, die bloß dadurch, daß sie in der Regel in einem psychologischen Laboratorium vorgenommen werden, daß sich in ihnen ein angeblicher Experimentator und eine Versuchsperson gegenüberstehen, planmäßig aussehen, während sie es in Wirklichkeit nicht im geringsten sind, da sie alle Kriterien vermissen lassen, nach denen sich überhaupt experimentelle psychologische Selbstbeobachtungen von gewöhnlichen Selbstbeobachtungen unterscheiden. Wenn man sie nach den für die gewöhnliche Selbstbeobachtung gültigen allbekannten Regeln beurteilt, so kann aber keine Frage sein, daß sie das von allen vorsichtigen Psychologen bevorzugte Verfahren der gelegentlichen reproduktiven Beobachtung von Vorgängen, die ohne die Absicht einer Selbstbeobachtung eingetreten sind, wieder gegen die obsolete Methode der unmittelbaren willkürlichen Selbstbeobachtung der psychischen Erlebnisse eintauschen. Der Beobachter wartet nicht einen günstigen Zufall ab, sondern er setzt sich in die geeignete Positur, läßt die Gedanken kommen und strengt sich an, sie in ihrem Kommen und Gehen mit gespannter Aufmerksamkeit zu verfolgen, während er mit einer mehr oder minder schwierigen Frage beschäftigt ist, die gleichzeitig seine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Der ganze Unterschied von der alten, verpönten Form angeblicher Selbstbeobachtung besteht darin, daß der Beobachter den Gedanken nicht spontan bildet, sondern daß ihm durch den anwesenden Versuchsleiter die Anregung dazu gegeben wird.

    Nach den Vertretern dieser Methode besteht nun freilich ihr Vorzug vor der gewöhnlichen Form der Selbstbeobachtung eben darin, daß dem Beobachter ein "Versuchsleiter" beigegeben wird. Durch diese "Arbeitsteilung" sollen die Mißstände der alten Methode verschwinden, weil die Versuchsperson selbst nur von ihrem Erlebnis und seiner Beschreibung in Anspruch genommen sei 2). Nun ist sicherlich auch im Gebiet der Gedankentätigkeit recht wohl eine Arbeitsteilung möglich. Wenn sich z. B. zwei Personen über ein Problem unterreden, und jeder sein Wissen und Können herzubringt, um es zu lösen, so ist das eine Art Arbeitsteilung. Dagegen ist das Verhältnis zwischen einem Examinator und einem Examinanden keineswegs eine solche. Auch erleichtert nach der Versicherung vieler Examinanden, denen man die Glaubwürdigkeit nicht ganz versagen kann, das Ausfragen nicht ihre Gedankenproduktion, sondern sie vergessen im Drang der Frage manches, was sie zu Hause gewußt haben. Der "Versuchsleiter" befindet sich aber der Versuchsperson gegenüber in der Situation eines Examinators strengster Observanz. Plötzlich und unvermittelt stellt er seine Frage aus einem dem augenblicklichen Gedankenkreis der Versuchsperson möglicherweise ganz fernliegenden Gebiet. Die Not des Befragten durch hilfreiche Andeutungen zu erleichtern, wie es wohl einem mild gesinnten Examinator zusteht, ist ihm streng untersagt. Ich wüßte nicht, wie man hier noch von einer Arbeitsteilung reden könnte, und inwiefern überhaupt der Versuchsperson dadurch die Gedankenarbeit und deren Beobachtung erleichtert werden soll, daß sie sich nicht selbst, sondern daß ein anderer ihr die Probleme aufgibt. Vielmehr bildet ja hier, wie oben ausgeführt, schon der unerwartete Inhalt der Frage ein außerordentlich erschwerendes Moment. Doch ist es das nicht allein, was gegen diese angebliche Arbeitsteilung Bedenken erweckt. Es kommt dazu noch ein anderer Umstand, dessen ich oben unter den Regeln der Experimentalmethode nicht gedacht habe, weil man ihn bei psychologischen Experimenten bis dahin eigentlich für etwas Selbstverständliches hielt: das ist die möglichste Isolierung des Beobachters, die Fernhaltung namentlich der durch die Anwesenheit anderer Personen verursachten unvermeidlichen Störung. Die relative Größe dieser Störung nimmt aber naturgemäß zu, je mehr der Versuch eine aufmerksame Selbstbeobachtung in Anspruch nimmt. Eben darum ist es zur allgemein befolgten Regel bei den Reaktionsversuchen geworden, daß man Experimentator und Versuchsperson in getrennten Räumen unterbringt. Allerdings haben einige Psychologen, unter ihnen namentlich N. Ach, den Unterschied, ob der Reagent in Anwesenheit des Experimentators und im selben Raum mit den geräuschvoll arbeitenden zeitmessenden Instrumenten beobachte oder nicht, für im wesentlichen irrelevant erklärt. Ich kann aus eigener Erfahrung diese Bemerkung nicht im geringsten bestätigen. Auch glaube ich, daß ein so behutsamer Beobachter wie Ach gewiß nicht versäumt haben würde, sich die großen Vorzüge der Isolierung zu Nutzen zu machen, hätte er nicht von Anfang an die Absicht gehabt, die Reaktionsversuche mit der Ausfragemethode zu kombinieren. Denn der Behauptung gegenüber, daß es gleichgültig sei, ob man überhaupt solche die gespannteste Aufmerksamkeit des Beobachters in Anspruch nehmende Versuche in Anwesenheit dritter Personen, die etwa gar noch Auskunft erwartend und zum Protokollieren bereit dabei sitzen, oder ob man sie in Abwesenheit dieser distrahierenden Einflüsse vornehmen soll, darf man sich wohl auf die tägliche Erfahrung berufen. Ich möchte bezweifeln, ob es unter den Teilnehmern der Ausfrageexperimente viele gibt, denen es gleichgültig ist, ob sie in ihrem Studierzimmer allein sind oder sich in Gesellschaft befinden, vollends wenn sie sich von den Anwesenden beobachtet wissen. Ich bekenne, unter den Unbegreiflichkeiten der Ausfragemethode ist mir die unbegreiflichste die, daß ihre Vertreter diesen störenden Fehler nicht nur übersehen, sondern, unter Verwendung des hier gänzlich deplazierten Begriffes der Arbeitsteilung in eine Tugend verwandeln wollen. Und wenn nach dem durch die Erfahrung des täglichen Lebens hinreichend gestützten Urteil aller unbefangenen Beobachter schon bei einfachen Reaktionsversuchen durch die Anwesenheit Dritter, die ihrerseits den Beobachter beobachten, die Sicherheit der Versuche auf das empfindlichste gestört wird, so soll nun auf einmal da, wo die Versuchsperson nicht bloß eine einfache Unterscheidung zwischen zwei zuvor bekannten Eindrücken, eine Wahl zwischen zwei Bewegungen usw. ausführen, sondern wo sie eine nicht unerhebliche Gedankenarbeit vollbringen soll, dieser Nachteil ein Vorzug sein! Sind die Ausfrageversuche ihrem ganzen Charakter nach keine Experimente im wissenschaftlichen Sinne, so sind sie infolge der planmäßigen Einführung solcher, immerhin auch von der alten Selbstbeobachtungsmethode durchweg vermiedener Störungen, Selbstbeobachtungen unter erschwerenden Bedingungen.

            2) Bühler, a. a. O. S. 3 f.

    Nun gibt es aber noch eine zweite Form der Anwendung der Ausfragemethode, die freilich selbst nicht auf den Charakter eines Experimentes Anspruch erhebt, von der man jedoch vielleicht gerade deshalb, weil sie bescheidener auftritt, annehmen könnte, daß sie von den groben Fehlern der eigentlichen Ausfrageexperimente frei sei. Sie besteht in dem nachträglichen Ausfragen der Versuchspersonen über die von ihnen gemachten Selbstbeobachtungen; und sie entspringt dem Verdacht, daß der Versuchsperson manche ihrer Selbstbeobachtungen aus dem Gedächtnis entschwinden könnten, ehe sie Zeit fand, sie sich genau zu rekapitulieren und zu fixieren. Darum sucht man hier durch Ausfragen nach dem Experiment der Reproduktion des Erlebten zu Hilfe zu kommen. Selbstverständlich kann dieses Verfahren leicht mit den eigentlichen Ausfrageexperimenten verbunden werden. Die Versuchsperson befindet sich dann sozusagen in einem Kreuzfeuer von Fragen: zuerst soll sie auf den Inhalt der Frage, und dann soll sie auch noch über den Inhalt dessen Rede stehen, was sie nebenbei, während sie sich die Frage überlegte, in sich erlebt hat. Doch kann die nachträgliche Ausfragemethode auch für sich allein verwendet werden, und in dieser Form kann sie natürlich auch an wirkliche Experimente, nicht an bloße Scheinexperimente sich anschließen. In solcher Weise hat besonders N. Ach seine sonst in mancher Hinsicht verdienstlichen und sorgfältigen Reaktionsversuche ausgeführt. Er hat hierbei die allbekannten Reaktionsmethoden unter Anbringung mancher dankenswerter technischer Verbesserungen benutzt, und auch die in den Versuchen behandelten Fragen sind im wesentlichen die nämlichen wie in den früheren Reaktionsversuchen. Aber Ach hat sich außerdem veranlaßt gesehen, die Ausfragemethode in der soeben geschilderten ergänzenden Weise heranzuziehen, was neben dem Ausfragen der Versuchsperson nach Beendigung des Versuches das Zusammenarbeiten derselben mit Experimentator und Zeitmessungsinstrumenten als weitere Folge mit sich führte. Ist nun diese Verbindung eine wirkliche Vervollkommnung der Reaktionsversuche, wie Ach meint, oder ist sie es nicht? Daß das Zusammenarbeiten des Beobachters mit dem Experimentator schwerwiegende Nachteile mit sich führt, ist schon bemerkt worden. Immerhin, man könnte sich dies als ein notwendiges Übel gefallen lassen, wenn wirklich das nachträgliche Ausfrageverfahren für die Fixierung des flüchtigen Inhaltes der Selbstbeobachtung so bedeutende Vorteile mit sich führte, daß diese die Nachteile überwögen. Nun ist es allerdings keinem Zweifel unterworfen, daß das rasche Vergessen vieler nur flüchtig durch das Bewußtsein eilender Vorgänge, namentlich wenn sie zu den dunkler bewußten gehören, alle Aussagen über das in der Selbstbeobachtung Erlebte zu Fragmenten der Wirklichkeit macht, die noch dazu sicherlich in vielen Fällen durch Erinnerungstäuschungen gefälscht sind. Gerade darum ist die Wiederholung der Beobachtungen unter den gleichen Bedingungen bei diesen Versuchen ein unerlässliches Erfordernis, indem hier die in vorangegangenen Versuchen gemachten Beobachtungen ergänzt und eventuell berichtigt werden können. Dazu ist freilich nötig, daß nicht bloß irgendwie ähnliche, sondern möglichst identische psychische Inhalte erzeugt werden. Deshalb besteht auch einer der Hauptfehler der eigentlichen Ausfrageexperimente eben darin, daß sie eine solche identische Wiederholung ihrer Natur nach ausschließen. Es fragt sich nun: kann das nachträgliche Examen von Seiten des Versuchsleiters den aus der Flüchtigkeit der psychischen Inhalte und aus den Erinnerungstäuschungen entspringenden Lücken und Fehlern einigermaßen abhelfen? Ich glaube, daß auch diese Frage auf Grund geläufiger und durch zahlreiche Experimente bestätigter Erfahrungen auf das entschiedenste mit Nein beantwortet werden muß. Das nachträgliche Ausfragen, weit entfernt die Flüchtigkeit der Erinnerung zu beseitigen, ist nur geeignet, durch die suggestive Wirkung der Frage die Reproduktion auf abliegende Wege zu lenken, eben dadurch aber zugleich die sonst vielleicht nur unbedeutenden Erinnerungstäuschungen ins unabsehbare zu steigern. Aus W. Sterns Versuchen über die Psychologie der Aussage sind ja diese Dinge genügend bekannt 3). Ebenso weiß man, welche Rolle die Suggestion der Frage bei Gerichtsverhandlungen spielt, wenn etwa mehrere Zeugen über eine und dieselbe Tatsache, die sie gesehen haben, Auskunft geben sollen. Und bei den Ausfrageexperimenten handelt es sich nicht einmal um gesehene Tatsachen, sondern um rasch vergängliche, sehr oft nur dunkel bewußte Erinnerungsbilder! Wohl wird dem Experimentator empfohlen, er solle so vorsichtig wie möglich fragen und sich jeder Beeinflussung der Versuchsperson enthalten. Aber eine Frage ist an und für sich eine Beeinflussung, sie mag so vorsichtig wie möglich eingerichtet sein. Sie lenkt die Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung und bewirkt dadurch, daß alle Erinnerungsinhalte, die nicht in dieser Richtung liegen, und die vielleicht noch reproduziert werden könnten, erst recht verschwinden. Außerdem suggeriert sie dem Beobachter, daß er in der Richtung etwas wahrgenommen habe, in der die Frage liegt, auch wenn er in Wirklichkeit nichts wahrgenommen hat. Und nicht bloß der Befragte unterliegt der suggestiven Wirkung, auch der Fragende steht notwendig unter dem Einfluß seiner aus früheren Erfahrungen oder Überlegungen oder auch aus theoretischen Überzeugungen entspringenden Vermutungen. Er mag noch so vorsichtig sein, nach irgend etwas muß er doch fragen; und woher sollte ihm der Inhalt seiner Frage kommen, wenn nicht aus seinen eigenen psychischen Erlebnissen, also aus seinen Erfahrungen, Vermutungen und möglicherweise aus seinen Vorurteilen? Das nachträgliche Examinieren über den Inhalt vorangegangener Selbstbeobachtungen ergibt also mit innerer Notwendigkeit das Resultat einer Art doppelter Suggestion, einer "Fremdsuggestion" des Beobachters durch die vorgelegte Frage, und einer "Autosuggestion" des Versuchsleiters, der gewisse Erlebnisse in das Bewußtsein der Versuchsperson hineindenkt, um sie dann, wiederum aus dieser herauszufragen, ein Doppelspiel, wie man es auch in der Praxis bei den Suggestivfragen der Untersuchungsrichter beobachten kann. Es ist, wie ich meine, in hohem Grade zu bedauern, daß sich N. Ach durch die Ausfrageexperimente verführen ließ, seine sonst trefflich angelegten Versuche durch diese Benutzung des nachträglichen Ausfragens schwer zu schädigen. So wie sie mitgeteilt sind, wo sich nicht einmal das von der Versuchsperson spontan Erinnerte von dem ihr Suggerierten unterscheiden läßt. können ihre Resultate nur als provisorische gelten, die der Nachprüfung durch weitere Versuche bedürfen, welche von diesen Fehlerquellen frei sind. Gegenüber den eigentlichen Ausfrageexperimenten haben jedoch immerhin die Reaktionsversuche mit Zuziehung der nachträglichen Frage den Vorzug, daß sie sich nicht auf verwickelte Gedankenbildungen, sondern auf relativ einfache psychische Vorgänge beziehen, und daß sie sich bei dieser der Kontrolle bedienen, die die exakte Zeitmessung der Vorgänge bietet.

3) William Stern, Zar Psychologie der Aussage. Experimentelle Untersuchungen über Erinnerungstreue. 1902.