2. Die allgemeinen Regeln der experimentellen Methode in ihren
psychologischen Anwendungen.
Wenn man sich bei der Aufstellung der Regeln der
experimentellen Forschung nicht sowohl die äußeren Bedingungen
der Beobachtung und die objektiven Maßregeln, die der Feststellung
und Bestätigung dienen, sondern, wie es im Hinblick auf die Frage
des psychologischen Experimentes naheliegt, in erster Linie die Anforderungen
berücksichtigt, die an den Beobachter zu stellen sind, und die dieser
selbst wieder dem experimentellen Verfahren entgegenbringt, so lassen sich,
wie ich glaube, die folgenden vier Sätze als die Grundregeln der experimentellen
Untersuchung und zugleich, je nachdem sie vollständig oder nur teilweise
befolgt werden, als die Maßstäbe betrachten, nach denen die
Zulässigkeit und Zuverlässigkeit eines jeden konkreten Versuchsverfahrens
zu bemessen ist. Diese Regeln gelten natürlich für jede Anwendung
der experimentellen Methode, wie sie denn auch vornehmlich in der naturwissenschaftlichen
Forschung zur Ausbildung gelangt sind: sie gelten aber doch in eminentem
Sinne für das psychologische Experiment. Denn bei der Formulierung
der Gesetze der naturwissenschaftlichen Induktion werden sie zum Teil als
selbstverständlich vorausgesetzt, und vermöge der Bedingungen
der objektiven Beobachtung kann das auch ohne weiteres geschehen. Dies
verhält sich anders bei der psychologischen Untersuchung, wo der Beobachter
und das beobachtete Objekt eigentlich immer zusammenfallen. Denn geht auch
das psychologische Experiment darauf aus, die zu beobachtenden psychischen
Vorgänge in gewissem Sinn zu objektivieren, indem es dieselben möglichst
aus dem Komplex der Bewußtseinsvorgänge zu isolieren und zu
Gegenständen selbständiger Beobachtung zu machen sucht, so können
diese doch die Eigenschaft, Bewußtseinsvorgänge zu sein und
in kausalen Beziehungen zu der Gesamtheit der psychischen Erlebnisse zu
stehen, niemals ganz von sich abtun. Die Situation des Physikers, der seinem
Objekt gegenübersteht, es seinen Zwecken gemäß herstellt
und verändert, ist und bleibt für den Psychologen eine unmögliche.
Er muß sich mit der größtmöglichen Annäherung
an sie begnügen. Eben darum bedarf er aber einer sorgfältigen
Beachtung der für den Physiker selbstverständlichen Regeln, die
sich auf sein eigenes Verhalten gegenüber den beobachteten Erscheinungen
beziehen. Diese Regeln lassen sich nun, wie ich glaube, folgendermaßen
formulieren:
1) Der Beobachter muß womöglich in der Lage sein, den Eintritt
des zu beobachtenden Vorganges selbst bestimmen zu können,
2) Der Beobachter muß, soweit möglich, im Zustand gespannter
Aufmerksamkeit die Erscheinungen auffassen und in ihrem Verlauf verfolgen.
3) Jede Beobachtung muß zum Zweck der Sicherung der Ergebnisse
unter den gleichen Umständen mehrmals wiederholt werden können.
4) Die Bedingungen, unter denen die Erscheinung eintritt, müssen
durch Variation der begleitenden Umstände ermittelt und, wenn sie
ermittelt sind, in den verschiedenen zusammengehörigen Versuchen planmäßig
verändert werden, indem man sie teils in einzelnen Versuchen ganz
ausschaltet, teils in ihrer Stärke oder Qualität abstuft.
Es ist einleuchtend, daß es schon auf naturwissenschaftlichem
Gebiet, trotz des hier bestehenden ungeheuren Vorzuges der Unabhängigkeit
des Gegenstandes von dem Beobachter, nicht unter allen Umständen möglich
ist, alle diese Anforderungen zu erfüllen. Den Eintritt astronomischer
oder meteorologischer Ereignisse kann niemand nach Willkür bestimmen.
Zwar kann hier in den meisten Fällen die Voraussicht, daß ein
Ereignis eintreten werde, eine der willkürlichen Erzeugung aquivalente
Situation herbeiführen. Aber daneben gibt es unerwartete Ereignisse,
die nicht nur im Gebiet der kosmischen Vorgänge, sondern auch bei
physikalischen, chemischen oder physiologischen Versuchen vorkommen können,
wo dann die Forderung der Einstellung der Aufmerksamkeit auf die weitere
Verfolgung der Erscheinung beschränkt bleibt. Ebenso können Bedingungen
bestehen, die eine Wiederholung der Beobachtung und eine willkürliche
Variation ausschließen oder mindestens nur innerhalb enger Grenzen
gestatten. Alle solche Momente beschränken die Sicherheit der Ergebnisse.
Man kann daher die Befolgung der vier Regeln nicht als eine absolute, in
jedem einzelnen Fall notwendig zu erfüllende Forderung bezeichnen.
Wohl aber bleibt ihre mehr oder weniger vollständige Einhaltung ein
Maß der Vollkommenheit einer experimentellen Methode als solcher;
abgesehen also von der Zuverlässigkeit der Beobachter und der angewandten
Hilfsmittel, über die sich natürlich allgemeine Regeln nicht
aufstellen lassen. So sind denn auch bei exakteren naturwissenschaftlichen
Untersuchungen durchgängig die vier angeführten Forderungen sämtlich
erfüllt, ausgenommen den seltenen Fall, wo nach der Natur des Phänomens
eine Abstufung ausgeschlossen ist, und wo daher die vierte Regel hinwegfällt.
Unerwartete Ereignisse dagegen, bei denen die Einstellung der Aufmerksamkeit
unzulänglich ist, kommen hauptsächlich in den reinen Beobachtungswissenschaften,
wie z. B. der Astronomie und Meteorologie, vor, nicht in den experimentellen
Gebieten. Wo sie in diesen auftreten, da gehören sie zu jenen zufälligen
Entdeckungen, die nicht sowohl selbst der experimentellen Methode zuzuzählen
sind, als die Ausgangspunkte zu deren Anwendung bilden können. Sind
aber immerhin schon in der Naturwissenschaft, besonders in deren verwickelteren
Gebieten, wie in der Physiologie, gelegentlich Experimente zulässig,
die nicht allen an ein exaktes Verfahren zu stellenden Anforderungen entsprechen,
so gilt das natürlich nicht minder für die Psychologie, wo jene
Zugehörigkeit der zu beobachtenden Erscheinungen zu dem Beobachter
von vornherein eine ähnliche willkürliche Beherrschung derselben,
wie sie dem Physiker zu Gebote zu stehen pflegt, eigentlich nur noch in
gewissen Grenzfällen möglich macht, in denen infolge der besonderen
Bedingungen des Versuches die Objekte der Selbstbeobachtung unmittelbar
an äußere physische Objekte oder Vorgänge gebunden sind
und dadurch derselben Fixierung durch die Aufmerksamkeit und der nämlichen
willkürlichen Variation der Bedingungen zugänglich werden, die
den Objekten der physikalischen Beobachtung an und für sich zukommen.
In diesem günstigsten Fall, auf den wir unten näher eingehen
werden, ist eben in unserer Vorstellung der Inhalt der psychischen Beobachtung
eins mit dem physischen Objekt, so daß wir damit auch diesen Inhalt
ebenso mit der Aufmerksamkeit fixieren und unseren Zwecken entsprechend
verändern können, wie es der Physiker zum Zweck der physikalischen
Untersuchung eventuell mit dem nämlichen Objekt tut. Natürlich
würde aber der Umkreis der psychologischen Aufgaben, die dazu herausfordern,
ihnen mit der experimentellen Lenkung und Unterstützung der Selbstbeobachtung
näher zu treten, ungebührlich verengt werden, wenn man sich auf
diese Grenzfälle beschränken und alle anderen Gebiete dem alten
Verfahren der sogenannten "reinen Selbstbeobachtung" überlassen wollte.
Sollte sich auch nur dadurch, daß man den Eintritt eines Vorganges
einigermaßen zu beherrschen, oder dadurch, daß man gewisse
äußere Symptome psychischer Vorgänge genauer zu verfolgen
imstande ist, für die Selbstbeobachtung eine größere Sicherheit
gewinnen lassen, so wird das, auch wo die sonstigen Mängel der letzteren
bestehen bleiben, immer schon eine erhebliche Verbesserung bedeuten. In
der Tat wird man darum hier angesichts der besonderen Schwierigkeiten des
Gegenstandes von vornherein damit rechnen müssen, daß in sehr
vielen Fällen nicht alle Anforderungen zu erfüllen sind, die
prinzipiell an die experimentelle Methode gestellt werden können,
sondern daß man sich mit Annäherungen begnügen muß.
Um so mehr scheint es mir aber notwendig, daß man sich bei jeder
psychologischen Anwendung experimenteller Methoden bewußt bleibe,
bis zu welchem Grade jenen prinzipiellen Forderungen wirklich genügt
ist, und inwieweit man berechtigt ist, von ihnen abzuweichen, und gleichwohl
noch eine erhebliche Verbesserung der gewöhnlichen Chancen der Selbstbeobachtung
erwarten darf. Mit Sicherheit wird man dabei nur voraussetzen dürfen,
daß, wo keine der angegebenen vier Regeln mehr zutrifft, das Experiment
überhaupt nutzlos ist, und daß es dann wahrscheinlich besser
sein würde, falls sich den Erscheinungen auf anderem Wege nicht beikommen
läßt, die experimentelle durch die gewöhnliche Selbstbeobachtung
zu ersetzen. Man könnte vielleicht denken, es sei überflüssig,
etwas so Selbstverständliches noch besonders hervorzuheben, da Experimente,
bei denen man die Erscheinungen weder willkürlich eintreten läßt,
noch die Aufmerksamkeit auf sie richtet, noch die gleiche Erscheinung wiederholt,
noch endlich ihre Bedingungen variiert, gar nicht vorkommen könnten.
Für naturwissenschaftliche Experimente mag das auch zutreffen. Anders
steht es aber auf psychologischem Gebiet. Hier hat man sich, wohl namentlich
unter dem Einfluß der meist völlig planlos ausgeführten
sogenannten Hypnotisierungsexperimente, daran gewöhnt, schließlich
das einzige wesentliche Merkmal des Experimentes darin zu sehen, daß
irgend eine Person A auf eine andere B irgend eine Einwirkung
ausübt. Man hat daher manchmal nach dem Vorbild solcher Versuche in
einer äußeren Beeinflussung das einzige wesentliche Merkmal
des psychologischen Experimentes gesehen und daran höchstens noch
das Nebenmerkmal geknüpft, das in Wirklichkeit für viele, sonst
allen Anforderungen entsprechende psychologische Experimente gar nicht
zutrifft, daß bei jedem Versuch zwei Personen beteiligt sein müßten,
der "Versuchsleiter" oder "Experimentator" und die "Versuchsperson", die
in diesem Fall eine eigentümliche Mittelstellung zwischen Versuchsobjekt
und Beobachter einzunehmen pflegt. Wenn diese Bedingungen erfüllt
sind, so scheinen damit manchen Psychologen die Kriterien eines echten
psychologischen Experimentes vorhanden zu sein, auch wenn von den sämtlichen
obigen Regeln keine einzige befolgt wird. Ich kann dieser Erweiterung des
Begriffs nicht zustimmen, sondern bin vielmehr der Meinung, daß sich
der Psychologe, wenn er überhaupt experimentieren will, von den allgemeinsten
Vorschriften experimenteller Methodik nicht emanzipieren kann, und daß
er am allerwenigsten von den Regeln abweichen darf, die sich auf die
subjektiven Bedingungen der Beobachtung beziehen, da es ja die subjektive
Beobachtung selbst ist, auf die der Psychologe alle seine experimentellen
Resultate gründet. Ich halte demnach solche ganz und gar äußerlichen
Merkmale, wie äußere Beeinflussung und Arbeitsteilung zwischen
zwei Personen, wie sie auch bei unzähligen anderen Ereignissen des
täglichen Lebens vorkommen, die wir ganz gewiß nicht Experimente
nennen, für völlig irrelevant, und ich glaube vielmehr, daß
es den sonst gültigen methodologischen Grundsätzen entspricht,
wenn ich als die wirklichen Kriterien des experimentellen Verfahrens die
obigen vier Regeln ansehe und demnach ein solches Verfahren als um so vollkommener
bezeichne, je mehr bei ihm diese Regeln befolgt sind, wogegen in Fällen,
wo keine einzige eingehalten ist, irgend eine Prozedur wohl einem Experiment
ähnlich sehen kann, in Wahrheit aber im wissenschaftlichen Sinne gar
kein Experiment ist. Danach scheint es mir zweckmäßig, die in
der Psychologie unter dem Namen der experimentellen Methoden vorkommenden
Verfahrungsweisen in drei Klassen von Experimenten zu scheiden: 1) Vollkommene
Experimente: so will ich diejenigen nennen, bei denen alle vier Regeln
befolgt sind. 2) Unvollkommene Experimente: es sei mir gestattet,
mit diesem Namen solche Methoden zu belegen, bei denen einzelne Regeln
zutreffen, andere aber unberücksichtigt bleiben und nicht selten vermöge
der Bedingungen der psychologischen Beobachtung unberücksichtigt bleiben
müssen. 3) Scheinexperimente: so will ich schließlich
diejenigen nennen, bei denen alle Regeln experimenteller Beobachtung außer
Betracht gelassen sind, aber irgend eine äußere Ähnlichkeit
mit dem wirklichen Experiment besteht.