III. Teil. Die artikulare Täuschung.
 

1. Tastlokalisation am linken Arm.
 

a) Der Unterarm liegt parallel zur Querachse des Körpers.

    Um alle Vorgänge und Erscheinungen, die bei der segmentalen Täuschung zu konstatieren waren, im Zusammenhang miteinander erledigen zu können, haben wir in vorgreifender Weise über weiter unten folgende Versuchsgruppen berichten müssen. Von nun an jedoch werden wir die ursprüngliche Reihenfolge beibehalten, wodurch der gelegentliche Einfluß der fortschreitenden Übung der Versuchspersonen leichter zu überschauen sein wird.

    Wir kommen jetzt zur vierten Versuchsgruppe, welche sich von der ersten auf S. 28 beschriebenen hauptsächlich darin unterscheidet, daß die Augen der Versuchspersonen während der Dauer der Versuchsreihe geschlossen bleiben. Außerdem ist die Methode in folgender Weise verbessert worden: Die reizende Spitze wird nicht mehr einfach in der Hand des Experimentators gehalten, sondern an einer mechanischen Einrichtung befestigt; der Reiz kann an jeder beliebigen Hautstelle geschehen und später genau wiederholt werden; auch die Druckstärke ist gut kontrollierbar. Das früher benutzte Drahtnetz ist nun durch eine Blechscheibe ersetzt, worauf für jede Versuchsuntergruppe ein neues Stück weißes Papier festgeklemmt wird; auf diesem Papier werden alle Lokalisationen unmittelbar registriert, wodurch man sich die langwierige Ausrechnung der Koordinaten erspart. Der rechte suchende Arm des Beobachters liegt jetzt in einer Binde, welche von der 5—6 m hohen Decke des Zimmers herabhängt; in dieser Weise läßt sich der Arm mit möglichst wenig Anstrengung und unter Vermeidung von allerhand störenden Berührungen in beliebiger Richtung bewegen; durch eine kleine Flexion des Handgelenkes bringt der Beobachter seinen Stift zur Papierfläche hinab, und auf dieser zeigt er sodann die vermeintliche Stelle des gleichzeitigen Reizes; ich kann vorweg sagen, daß diese Binde sich vorzüglich bewährt hat; sie hat verschiedene störende Bedingungen fern gehalten, aber sonst weder den variabeln noch den konstanten Fehler im geringsten modifiziert.

    Die Beobachter waren dieselben wie in der ersten Versuchsgruppe, mit der Ausnahme, daß ich selbst durch Wa. ersetzt wurde. Der gereizte Arm blieb während der Dauer einer Versuchsreihe ruhig liegen; der Oberarm lag senkrecht, der Unterarm parallel zur Querachse des Körpers. Zwei Hautstellen, 5 cm unterhalb des Ellbogens, bzw. 3 cm oberhalb des Handgelenks, wurden abwechselnd geprüft; jedesmal wurden 16 Einzelversuche gemacht und daraus Mittelwerte gewonnen; aus allen solchen Mittelwerten für dieselbe Hautstelle wurden schließlich die Gesamtmittelwerte berechnet. Durch die verbesserte Methode konnte man jetzt die Versuche doppelt so rasch wie in der ersten Versuchsgruppe ausführen, wodurch man eine größere Serie von unmittelbar vergleichbaren Werten bekam. Im ganzen wurden 656 Einzellokalisationen gewonnen.

    In bezug auf die Richtung, in der die suchende Hand sich der gereizten Stelle näherte, durfte der Beobachter nicht mehr ausschließlich in der natürlichen Weise vorgehen; jetzt mußte er vielmehr von rechts, links, vorn und hinten sukzessiv ausgehen, und insbesondere mußten die Untergruppen von je 16 Einzellokalisationen gleich oft mit jeder der vier Richtungen anfangen. Die erstrebten Vorteile bestanden darin, nicht nur den Einfluß der Richtung zu entdecken und zu eliminieren, sondern auch zu verhindern, daß sich die sukzessiven Lokalisationen in mechanische Wiederholungen abschwächten, statt jedesmal wirklich neue Wahrnehmungen zu sein. Auf dem Papier wurde jede Richtung durch ein besonderes Symbol gekennzeichnet.

    Der konstante Fehler oder die »Täuschung« läßt sich offenbar durch die Linie von der Reizstelle zur Stelle der mittleren Lokalisation darstellen. Als mittlere Lokalisation war in der ersten Zeit einfach der Kreuzungspunkt der zwei geraden Linien angenommen worden, welche die Gruppe der Einzellokalisationen parallel, bzw. senkrecht zum Körper des Beobachters halbierten; später glaubte ich größere Genauigkeit dadurch zu erzielen, daß ich für die mittlere Lokalisation den Schwerpunkt aller Einzellokalisationen ausrechnete; bei größeren Versuchsreihen kamen diese zwei Punkte immer dicht nebeneinander zu liegen.

    Der mittlere variable Fehler wurde zuerst einfach dem Radius eines Kreises gleich gesetzt, welcher die Stelle der mittleren Lokalisation zum Zentrum hatte und die Einzellokalisationen derart in zwei Hälften teilte, daß die eine Hälfte innerhalb, die andere außerhalb der Peripherie lag; auch in dieser Hinsicht habe ich später einen genaueren Wert gesucht, indem ich die durchschnittliche Entfernung der Einzellokalisationen von ihrem Schwerpunkte mit 0,84435 multiplizierte1); bei größeren Versuchsreihen stimmte auch dieser Wert sehr annähernd mit demjenigen überein, welchen die einfachere Methode ergab.
 
 

    1) Nach bekannter Wahrscheinlichkeitsformel ist die wahrscheinliche Abweichung = der durchschnittlichen Abweichung ´ 0,84435.
 
 

    Wir wollen zunächst betrachten, wie die Ergebnisse durch die verschiedene Bewegungsrichtung beeinflußt wurden, in welcher der lokalisierende Arm herankam. Die Beobachter selbst wollten kaum an irgendeine Beeinflussung glauben, da sie, einmal an der scheinbaren Region der Reizung angelangt, zur näheren Ortsbestimmung derselben überall bequem herumtasten durften; sie sagten, wenn es störende Einflüsse gäbe, so könnten diese jedenfalls nicht in einer konstanten Tendenz, sondern nur in herabgesetzter Genauigkeit bestehen, da allerdings bei den weniger gebräuchlichen Richtungen das erste instinktmäßige Herankommen der Hand etwas an Sicherheit zu verlieren scheine. Objektiv nun war es gerade umgekehrt; die Ausgangsrichtung zeigte keinen Einfluß auf den variabeln, wohl aber auf den konstanten Fehler; denn bei jeder Person trat eine individuelle Neigung hervor, entweder durchweg nach dem Ausgangspunkte hin zurückzubleiben, oder aber durchweg zu weit vorzudringen; in beiden Fällen war die Größe der Diskrepanz in allen vier Richtungen für denselben Beobachter ganz gleich, aber sie war ungleich für verschiedene Versuchspersonen. Die erstere Tendenz des Zurückbleibens überwog; denn sie fand sich bei vier Personen und hatte einen durchschnittlichen Betrag von 10 mm, während das zu weite Vordringen nur bei zwei Personen geschah, und dann nur 6 mm betrug; im Durchschnitt also blieb eine kleine Tendenz nach dem Ausgangspunkt zu bestehen, welche mit der auf S. 33 beobachteten Tendenz gegen den Ulnarrand des Armes vollkommen übereinstimmt. Durch gleichmäßiges Ausgehen von allen vier Richtungen tritt nun zwar der konstante Lokalisationsfehler viel reiner hervor; dafür aber wird der variable Fehler unrechtmäßig vergrößert, es sei denn, daß man ihn für jede Richtung besonders berechnet. Wenn man nämlich alle Versuche zusammenstellt, ohne Rücksicht darauf, daß sie von verschiedenen Ausgangspunkten aus gewonnen worden sind, so hat der variable Fehler eine Größe von 18,1 mm2). Wenn man ihn dagegen für jede Richtung allein nimmt, so beträgt er 16,1 mm3). Er ist also kaum größer als in der ersten Versuchsgruppe, obwohl, wie wir bald sehen werden, der konstante Fehler enorm gewachsen ist. Beide Arten von Fehlern, der variable und der konstante, sind also nicht merklich voneinander abhängig.

    2) ± 0,5 mm (v = 18,1; n = 656).

    3) ± 0,4 mm (v = 16,1; n = 656).

    Die konstanten Fehler sind in Fig. 6 angegeben4); sie belaufen sich auf nicht weniger als 64 bzw. 65 mm. Ihre Richtungen deuten offenbar darauf hin, daß sie ganz verschieden sind von der Täuschung, die wir im vorigen Abschnitt behandelten; aber sie sind um so schwieriger zu enträtseln, als sie möglicherweise von irgendeiner der vier Fehlerquellen (S. 19) herrühren könnten; sie lassen sich als eine Unterschätzung der Länge des rechten Unterarms, oder aber als eine Rechtsdrehung um die rechte Schulter5), zur Not sogar als eine Unterschätzung der Entfernungen vom linken Ellbogen auffassen. Aber viel genauer paßt die vierte Deutungsmöglichkeit: durch eine scheinbare Linksdrehung um die linke Schulter. Denn wie die unterbrochenen Linien zeigen, liegen beide Lokalisationen auf Kreisen, welche durch die Reizstellen gehen und dieses Schultergelenk zum Zentrum haben; in beiden Fällen beträgt die Abweichung ungefähr 13,5° nach links. Schließlich können vielleicht mehrere dieser Fehlerquellen gleichzeitige sich summierende Wirkungen ausgeübt haben.

    4) Mit wahrsch. Abw. von nur 0,9 mm (v = 16,8; n = 328). Selbst die wahrscheinliche Abweichung größter Ordnung, welche sich. aus den individuellen Variationen ergibt (S. 27), ist nur 5 mm (v = 13; n = 6), und würde auf der Figur kaum bemerkt werden.

    5) Man muß sich immer vergegenwärtigen, daß eine z. B, nach links ausfallende Lokalisation zwar für den gereizten Arm eine Linkstäuschung, aber für den suchenden Arm eine Rechtstäuschung bedeutet.
 
 

    Diesmal traten auch die individuellen Variationen des konstanten (aber nicht des variabeln) Fehlers viel deutlicher zutage. Denn die mittlere Abweichung der mittleren Lokalisationen je einer Versuchsperson belief sich auf 13 mm, d. h. über siebenmal so viel wie die bloß wahrscheinliche zufällige Abweichung (erster Ordnung)6), aber immerhin ein kleiner Wert gegenüber dem konstanten Fehler selbst. Auch spielten die »systematisch variabeln« Fehler hier eine größere Rolle als vorher.
 
 

    6) 1,7 mm.

    Auch durch subjektive Beobachtung konnte die Ursache der Täuschung nicht besser aufgeklärt werden. Alle Beobachter sagten, daß die Lokalisation ausschließlich durch die unmittelbaren räumlichen Eigenschaften der Empfindungen bewerkstelligt werde; wenn eine konstante Tendenz vorhanden wäre, so wollten sie sie vorzugsweise dem rechten Arm zuschreiben, da dessen Lage weniger deutlich vorgestellt wurde als die des Reizes; einmal jedoch machte H. die bedeutungsvolle Bemerkung, daß sein linker Arm allmählich nach links zu rücken scheine. Im übrigen stimmten die subjektiven Wahrnehmungen mit denen in der ersten Versuchsgruppe überein.

b. Der Unterarm liegt nach vorn ausgestreckt.

    Durch diese veränderte Stellung des gereizten Armes, unter Beibehaltung aller andern Versuchsbedingungen, konnte man hoffen, der Täuschung näher auf den Grund zu kommen.

    Die Ergebnisse in bezug auf den Einfluß des Ausgangspunktes, wie auch die Variationen zwischen den Individuen, entsprachen ganz denen der vorigen Versuche. Der mittlere variable Fehler wurde etwas größer; aus allen Lokalisationen derselben Person für dieselbe Hautstelle zusammen berechnet, betrug er 20,2 mm7); wenn man für jeden Ausgangspunkt eine besondere Rechnung ausstellt, so sinkt der Mittelwert auf 18,4 mm8) herab. Die mittleren konstanten Fehler sind in Fig. 7 dargestellt9); die schon vorhin sehr gezwungen erschienene Deutung, daß sie durch Unterschätzung der Entfernungen vom Ellbogen bewirkt würden, kann man jetzt definitiv verwerfen; aber die andern drei Deutungen sind alle noch denkbar, obwohl auch hier wieder eine scheinbare Linksdrehung um die linke Schulter viel genauer mit den Beobachtungen übereinstimmen würde; denn auch hier liegen beide Lokalisationen sehr annähernd auf den Kreisen durch die Reizstellen, und zwar gleichfalls mit einer Abweichung nach links von ungefähr 13,0°.

    7) ± 0,6 mm (v = 20,2; n = 634).

    8) ± 0,5 mm (v = 18,4; n = 634).

    9) Mit einer wahrscheinlichen Abweichung von 1 mm; aas den individuellen Variationen gerechnet, steigt sie bis 5 mm wieder.
 
 

    Nunmehr möchten wir einen Einwand entkräften, den uns der Leser wohl seit einiger Zeit gemacht haben wird: in dieser ganzen Klasse von Lokalisationsversuchen kommt nämlich der Stift des Beobachters überhaupt nicht bis zur gereizten Haut, sondern vermag auf die vermeintliche Stelle nur von oben her hinzuzeigen, so daß also vielleicht nicht die Tastempfindungen als solche, sondern der vertikale Zwischenraum zwischen dem Stift und der Haut die Schuld an der Täuschung tragen könnte. Nun sind aber die letzten zwei Versuchsgruppen derart eingerichtet worden, daß sie diesem Einwand möglichst vorbeugen sollten. Dabei ging ich von der Erwägung aus, daß, wenn der vertikale Zwischenraum einen beträchtlichen Einfluß wirklich ausübte, dieser Einfluß eine Abhängigkeit vom Betrage des Zwischenraums aufweisen müßte. In der einen Hälfte der Versuche mußte daher der Beobachter den Stift möglichst kurz fassen, so daß die Fingerspitzen nur ungefähr 2 cm über der gereizten Haut schwebten; in der andern Hälfte dagegen wurde der Stift möglichst lang gehalten, so daß sich die Fingerspitzen ungefähr 12 cm höher als die gereizte Haut befanden; die Stifthaltung wurde allemal von mir korrigiert, wenn der Beobachter den Stift merklich schief hielt. Es stellte sich nun heraus, daß selbst diese Versechsfachung des vertikalen Zwischenraums kaum einen merkbaren Unterschied in den Ergebnissen erzeugte: der variable Fehler betrug bei kurzer Fassung des Stiftes 19 mm 10), bei langer 19,2 mm 11), und die konstanten Fehler stimmten so genau miteinander überein, in bezug sowohl auf die Größe, als auf die Richtung, daß die Gesamtmitte der Lokalisationen, die man durch jede der beiden Methoden erhielt, obgleich ihre Stellen 12 mm von der wirklichen Reizstelle entfernt lagen, doch innerhalb einer Grenze von 2 mm miteinander zusammenfielen12).

    10) ± 0,5 mm (v = 19; n = 640).

    11) ± 0,5 mm (v = 29,2 ; n 640).

12) Die wahrscheinliche zufällige Entfernung ist 1,1 mm. .
 
c. Entwicklung der Täuschung.

    In den zwei vorhergehenden Versuchsgruppen schien die Täuschung erst nach mehreren Lokalisationen ihre volle endgültige Größe zu erreichen. Um diesen Entwicklungsprozeß genauer und reiner zu beobachten, zog ich mir jetzt einen neuen, mit den bisherigen Versuchen unbekannten Beobachter U. zu Hilfe. In dieser 6. Versuchsgruppe wurden nicht nur die Lokalisationen, sondern auch ihre Reihenfolge registriert. Zwar sind dann die Ergebnisse zu sehr durch den variabeln Fehler getrübt, als daß man viel mit den Einzellokalisationen anfangen könnte, wohl aber ließen sich Mittelwerte von je vier Lokalisationen, besonders bei einem so ausnahmsweise konsequenten Beobachter wie U, zur Untersuchung ausgeprägterer Erscheinungen erfolgreich verwenden. Die vier zusammen verwerteten Lokalisationen hatten immer je eine der vier Ausgangsrichtungen S. 42—43).

    Aus den Ergebnissen wollen wir diesmal zuerst die konstanten Fehler hervorheben. Diese sind in Fig. 8 dargestellt13), wobei die Nummern die Reihenfolge anzeigen. Die allgemeine Richtung ist, wie man sieht, dieselbe wie bei den andern Personen in der 4. und 5. Versuchsgruppe; der endgültige Betrag ist noch viel größer. Bis nach der 48. Einzellokalisation (Nummer 12 auf der Figur) blieb der Arm unbewegt; der Fehler entwickelt sich ganz allmählich, und zwar in einem asymptotischen Verlaufe; denn schon nach sechs Einzellokalisationen hat er beinahe, aber selbst nach achtundvierzig hat er kaum vollständig das Maximum erreicht. Hierauf zwischen jeder der 24 nachfolgenden Einzellokalisationen bewegte ich den Arm des Beobachters unregelmäßig hin und her; trotzdem entwickelte sich der Fehler immer ruhig weiter; am Ellbogen, wo die Versuche anfingen und deshalb durch die Entwicklung etwas gehemmt wurden (siehe im folgenden S. 60), schwang die Lokalisation zuerst über das Ziel hinaus, kehrte dann aber bald zurück ins Gleichgewicht.
 
 

    13) Tür die mittleren Abw. läßtsich nur ein Maximalwert aufstellen (siehe den folgenden Absatz), der den wahren jedenfalls beträchtlich übertrifft; jener wäre ±6,7mm (v = 13,4; n = 4).
 
 

    Da hier der »konstante« Fehler eben aufhört konstant zu bleiben, so wird die Ausscheidung des rein variabeln (d. h. zufälligen) Fehlers nicht mehr gut ausführbar. Höchstens läßt sich ein Maximalwert ermitteln, indem man die Entfernungen der Einzel- von ihren entsprechenden Mittellokalisationen mißt, wodurch man einen Mittelwert von 13,4 mm14) bekommt; aber von diesem Betrag kommt wegen der sich fortentwickelnden »konstanten« Fehler (sowie auch wegen der Verschiedenheit der Ausgangsrichtungen) ein beträchtlicher, jedoch schwer bestimmbarer Teil in Abzug. Eine solche Vermischung des rein variabeln mit dem konstanten Fehler ist nun nicht einmal auf das Entwicklungsstadium des letzteren beschränkt; denn dieser konstante Fehler, obwohl keineswegs ungesetzmäßig, ist doch durch viele schwer kontrollierbare Einflüsse starken Schwankungen unterworfen (wie wir in Teil V sehen werden). Dies ist auch der Grund, weshalb ich auf S. 20 zu der Behauptung kommen mußte, daß alle experimentellen Ergebnisse über Lokalisationsfeinheit ziemlich wertlos bleiben, bevor man alle Täuschungsbedingungen gründlich erforscht hat.
 
 

14) ± 2,4 mm (v = 13,4; n = 48), wieder als Maximalwert.
 
 
 
2. Blicklokalisation am linken Arm.

a) Die Täuschung längs des ganzen Arms.

    In der 4. bis 6. Versuchsgruppe ist die Zurückführung der Täuschung auf ihre Quelle zwar mit einiger Wahrscheinlichkeit, aber immer noch nicht ganz sicher geschehen. Es wurde daher jetzt zu einer neuen Lokalisationsmethode übergegangen; der Beobachter sollte nämlich statt der rechten Hand die Blicklinien auf die vermeintliche Reizstelle dirigieren15).

    15) Wie auf S. 13 u. 16 auseinandergesetzt, hat diese Blicklokalisation bloß eine äußerliche Ähnlichkeit mit der gewöhnlichen Volkmannschen Methode, in letzterer ist die vermeintlich gereizte Stelle nicht eigentlich durch die Richtung der Blicklinien, sondern vielmehr durch Deckung des empfundenen mit einem reproduzierten Sehfelde bestimmt. Bei der Blicklokalisation dagegen hat die Beschaffenheit des Sehfeldes nur den Nebenzweck, die Abweichung der Blicklinien von der wirklichen Stelle genau meßbar zu machen.
 
 

    Zuerst suchte ich das Verfahren möglichst natürlich zu gestalten: 2 cm über dem gereizten Arm, in horizontaler Ebene, lag ein großer schwarzer, mit einem Spiegel bedeckter Schirm; 2 cm über dem Schirm schwebte ein Modell des Armes. Der Beobachter sah in den Spiegel hinein, und nahm ein Bild wahr, welches sich von der wirklichen visuellen Wahrnehmung des Armes nur dadurch unterschied, daß es unabhängig von der- taktilen Wahrnehmung desselben verschiebbar war; er sollte nun dieses Spiegelbild so einstellen, daß es in bezug auf seine räumliche Lage mit der taktilen Wahrnehmung übereinstimmte. Bei dieser Versuchsordnung konnte ich leider nicht die erwünschte Genauigkeit erlangen; denn jede neue Stellung des Armes ändert auch dessen Gestalt, so daß kein Modell treu bleiben konnte; außerdem ist die Lokalisation einer komplexen diffusen Empfindungsmasse weniger eindeutig als die eines scharf hervortretenden künstlich gereizten Punktes.

    Ich mußte also zur künstlichen Reizung zurückkehren; das Spiegelbild des Modells ersetzte ich durch das eines aufrecht auf dem Spiegel stehenden Stäbchens; mittels eines langen Handgriffes verschob der Beobachter das Stäbchen, bis sein Spiegelbild mit der vermeintlichen Stelle des gleichzeitigen Reizes zusammenfiel; der vom Schirme gelieferte schwarze Untergrund begünstigt die Entstehung einer lebhaften Vorstellung des (nicht sichtbaren) gereizten Armes. Dieser selbst lag möglichst nahe unter dem schwarzen Schirm (ungefähr 2 cm davon) auf derselben Gipsmatrix wie früher. Auf den Schultern des Beobachters lag horizontal, einem breiten spanischen Kragen vergleichbar, ein 80 X 70 cm großes Stück Karton, welches den Körper (auch die rechte Hand) und den Rand des Apparates völlig verdeckte, aber den dunkeln Grund, wo der Arm vorgestellt wurde, noch übersehen ließ. Von der Basis des Stäbchens aus erstreckte sich, nach der dem Beobachter entgegengesetzten Seite, ein langer Zeiger, wodurch ich die jeweilige Stellung des Stäbchens genau registrieren konnte; der Zeiger ging durch einen horizontalen Schlitz eines vertikalen Schirms, welcher die ganze Registrierung dem Beobachter verbarg. Der Beobachter mußte das Stäbchen sukzessiv von allen vier Richtungen her heranbringen, um es mit der vermeintlichen Reizstelle in Übereinstimmung zu setzen.

    In dieser 7. Gruppe glaubte ich alle Versuche mit nur einem Beobachter Wa. anstellen zu dürfen; denn dieser Herr hatte sich durch die vorigen Versuche als merkwürdig frei von »systematisch variabeln« Fehlem und selbst individuellen Eigentümlichkeiten gezeigt; seine Mittellokalisation hatte immer mit der aller Beobachter zusammengenommen sehr genau übereingestimmt. Jeder von elf Punkten längs des ganzen linken Armes wurde an sechs Tagen täglich sechsmal geprüft. Während einer Sitzung blieb der Arm ruhig liegen. Den Ergebnissen der 5. Versuchsgruppe entsprechend wurden jedesmal zuerst 8 bloß vorbereitende Lokalisationen gemacht, damit die Täuschung sich entwickeln und ins Gleichgewicht kommen konnte; eine solche Vorbereitung an einer Hautstelle genügte für den ganzen Arm und die ganze Sitzung; sie wurde nicht an den Fingern vorgenommen, da die sofort auf diese empfindlichen Körperteile gerichtete Aufmerksamkeit den ersten Eindruck zu befestigen und die Entwicklung der Täuschung zu hemmen schien; jeden Tag entwickelte sich die Täuschung langsamer, obwohl sich dabei ihr endgültiger Umfang kaum verminderte.

    Wenn man die Ergebnisse für jede Sitzung getrennt berechnet, so ergibt sich ein mittlerer variabler Fehler von 16 mm 16); aber wenn man die Resultate aller sechs Tage zusammenwirft, so bekommt man einen variabeln Fehler höherer Ordnung (s. S. 26), welcher auf 25,2 mm17) steigt.

    16) ± 0,6 mm (v = 16; n = 396).

    17) ± 0,9 mm (v = 25,2; n = 396).
 
 

    Die konstanten Fehler sind in Fig. 9 dargestellt. Obgleich jetzt der Beobachter mit den Blicklinien, statt mit der rechten Hand, nach der vermeintlichen Reizstelle sucht, so sieht man doch, daß der konstante Fehler ohne merkliche qualitative oder selbst quantitative Änderung geblieben ist. Jetzt können wir mithin den rechten suchenden Arm, wenigstens der Hauptstelle nach, von der Urheberschaft der Täuschung endgültig freisprechen. (Also gerade das Gegenteil der spekulativen Voraussetzung aller auf S. 11—12 erwähnten Forscher.) Die Hypothese einer segmentalen Täuschung am linken Arm haben wir schon fallen gelassen (s. S. 46). Es bleibt nur noch die Auffassung der Täuschung übrig, auf welche schon alle Beobachtungen mehr oder weniger entschieden hingewiesen haben, nämlich daß sie in einer scheinbaren Linksdrehung des linken Armes um das Schultergelenk besteht.

    Die Fig. 7, welche viel vollständiger als die Fig. 4, 5, 6 ist, zeigt jedoch, daß der Drehpunkt nicht ganz genau mit dem Schultergelenk zusammenfällt, sondern eine kleine kontinuierliche Verschiebung aufweist, wodurch die Täuschung schließlich am Schultergelenk selbst nicht ganz verschwindet. Als Erklärung dieser Diskrepanz kann unmöglich der Zufall in Betracht kommen, da die betreffenden Abweichungen viel größer als die bloß wahrscheinlichen sind und außerdem einen vollkommen regelmäßigen, kontinuierlichen Verlauf aufweisen; ebensowenig kann man diese neue zu derjenigen am Schultergelenk hinzutretende Täuschung für segmental halten, denn in diesem Fall wäre sie schon in Fig. 3, Fig. 4, Fig 5 zum Vorschein gekommen; sie kann also nur artikular sein, und hiermit eindeutig einer Fehlschätzung der jetzt erst als Faktor auftretenden Kopfdrehung (einschließlich Augen) zugeschrieben werden; und in der Tat ist die Annahme einer mit der Linkswendung des Kopfes wachsenden Rechtsdrehung seiner scheinbaren Stellung (im Vergleich zur wirklichen Stellung) in vollster Übereinstimmung mit den beobachteten Diskrepanzen. Alles, was nicht die natürliche Folge obiger zwei Täuschungen am Schulter- und am Kopfgelenke ist, läßt sich ungezwungen als eine allgemeine Unterschätzung der visuellen im Vergleich mit der taktilen Entfernung erklären. Später werden wir sehen, daß eine allgemeine Fehlschätzung solcher Art bei jedem Beobachter mehr oder weniger vorhanden ist; bei einigen Personen besteht sie in einer Unter-, bei andern in einer Überschätzung. In dieser Versuchsgruppe haben wir also die Täuschung in einen Haupt- und zwei Nebenfaktoren — Linksdrehung des linken Armes, Rechtsdrehung des Kopfes und Unterschätzung der visuellen Entfernung — zerlegen müssen. Es scheinen vielleicht jetzt die Deutungen der konstanten Fehler sich bedenklich kompliziert zu haben; am Ende jedoch werden sie sich in überraschende Einfachheit wieder auflösen.

    Die auf S. 36 erwähnte Täuschung, wo der Beobachter die Lage des gereizten Armes zu niedrig annahm, konnte jetzt objektiv gemessen werden; denn an das Stäbchen brachte ich eine auf- und abwärts verschiebbare Scheibe. Diese wurde dann so justiert, daß ihr Spiegelbild dem Beobachter in derselben Tiefe wie seine gereizte Haut erschien; man hätte nun erwarten können, daß die eingestellte Höhe der Scheibe über der spiegelnden Fläche dem tatsächlichen Abstande der Haut unter derselben gleich geworden wäre, sie war aber bei allen Beobachtern mehrere Zentimeter größer.

b) Blick- verglichen mit Tastlokalisation.

    Bis jetzt war der Apparat nur gerade groß genug, um einen frontalwärts liegenden Arm prüfen zu können; nun konstruierte ich einen neuen Apparat, der für den ganzen Fühlraum beider Hände ausreichte (s. Fig. 10). Der Kopf des sitzenden Beobachters ragte aus einem großen horizontalen, den Hals eng umschließenden Schirm heraus. Der gereizte Arm lag auf einem Tisch (in der Figur weggelassen) unterhalb des Schirmes, konnte frei in jeder Richtung bewegt werden und war so unterstützt, daß die zu reizenden Hautstellen ungefähr 2 cm unter dem Schirm lagen. Um den andern, das Stäbchen justierenden Arm emporkommen zu lassen, sind zwei Stücke des Schirmes, je rechts und links vom Kopfe, entfernbar; wenn Versuche zu gleicher Zeit an beiden Armen vorgenommen wurden, mußte ich selbst das Stäbchen nach Anweisungen des Beobachters justieren. Ein Spiegel so groß wie der ganze horizontale Schirm hätte manche Schwierigkeiten geboten; da er aber nur dort nötig war, wo das Stäbchen gespiegelt werden sollte, so brachte ich einfach das Stäbchen auf eine spiegelnde Basis. Der Reiz wurde mit der Spitze eines langen Drahtes gegeben, dessen entgegengesetztes Ende am Rande des Schirmes befestigt war; vor jeder Versuchsreihe wurden beliebig viel Drähte, einer für jede gewünschte Reizstelle, angebracht (in der Figur ist nur ein Draht gezeichnet). Um die Lokalisationen zu registrieren, war ein Stück weißes Papier, groß genug, um die ganze in Betracht kommende Fläche zu decken, auf den Schirm gelegt und leicht befestigt; über dem Papiere und dem ganzen Schirme lag ein schwarzes Tuch; auf dem Tuche stand das Stäbchen, welches der Beobachter hin und her schob, bis das Spiegelbild mit der Stelle des Reizes zusammenzufallen schien; dann führte ich meine Feder unter das schwarze Tuch hin und registrierte genau die Stelle des Stäbchens18); diese Stelle blieb dem Beobachter unsichtbar; und um eine jede Erinnerung auszulöschen, wurde nach jeder Lokalisation das schwarze Tuch unregelmäßig verschoben Damit der Beobachter sich möglichst unabhängig von unmittelbaren visuellen Erinnerungen orientiere, wurden ihm schon einige Schritte vor dem Apparat die Augen verbunden. In dieser Situation wurde er 3—4 mal herumgedreht und jetzt erst in den Apparat gebracht. Diese Versuchsanordnung war ebenso brauchbar für Tastlokalisation.

    18) In Fig. 8 ist der Spiegel rund gezeichnet, um den Reflex des Stäbchens darstellen zu können; aber in Wirklichkeit war der Spiegel nur auf der Seite des Stäbchens nach dem Beobachter zu angelegt, so daß meine Feder leicht bis an die Stelle des Stäbchens selbst herankommen konnte.

    Die erste Versuchsgruppe mit dem neuen Apparat (die 8. Gruppe überhaupt) sollte Tast- und Blicklokalisation genau miteinander vergleichen. Wieder hat mir Wa. seinen wertvollen Beistand geleistet; dank der merkwürdigen Gleichmäßigkeit seiner Lokalisationen konnte ich die ganze Versuchsgruppe in einer einzigen Sitzung durchführen und damit die Vergleichbarkeit der Werte sehr erhöhen. Selbst mit diesem Beobachter glaubte ich jede Lokalisation wenigstens 10 mal wiederholen zu müssen, wodurch die ganze Gruppe 3 Stunden Versuchszeit beanspruchte, jedes Mittel wurde angewandt, um einer Ermüdung entgegenzuwirken, obgleich bei derartigen Lokalisationen Ermüdung keine merkliche Rolle zu spielen scheint. Es wurden dann 8 Stellen längs des ganzen linken Armes je 10 mal mit Tast-, sowie auch 10 mal mit Blicklokalisation geprüft.

    Der sich daraus ergebende mittlere variable Fehler war für Tastlokalisation 15,6 mm19); für Blicklokalisation 17,4 mm20).

    19) ± 1,1 mm (v = 13,6; n = 80).

    20) ± 1,4 mm (v = 17,4; n = 80).
 
 

    Die mittleren konstanten Fehler sind in Fig. 11 dargestellt21). Die Blicklokalisationen (in der Figur die ausgezogenen Linien) bieten offenbar, trotz der neuen Versuchseinrichtung, die befriedigendste Ähnlichkeit mit den früheren (Fig. 10), nur sind die Fehler größer geworden. Die Tastlokalisationen dagegen (in Fig. 11 die unterbrochenen Linien) zeigen zwar denselben allgemeinen Verlauf, aber mit einer ganz regelmäßigen Abweichung; ein Teil dieser Abweichung erklärt sich durch die schon in der letzten Gruppe konstatierte Überschätzung der visuellen Entfernung; der andere Teil ist nur dadurch zu deuten, daß die frühere scheinbare Rechtsdrehung des Kopfes jetzt durch eine solche des rechten Armes ersetzt worden ist. Daß beide Arme eine Täuschung derselben Art aufweisen, kann wohl nicht verwundern; auch wird es später direkt nachgewiesen werden (S. 66); vielmehr hat man eine Erklärung dafür nötig, weshalb die Täuschung vom rechten Arm nicht schon in Fig. 6, Fig. 7; Fig. 8 zum Vorschein gekommen ist, und weshalb sie auch jetzt immer noch nur 1/31/4 der Täuschung des linken Armes beträgt. Auf beide Fragen lassen sich befriedigende Antworten geben. Betreffs der Kleinheit der Täuschung des rechten Armes wird auf S. 74—75 nachgewiesen werden, daß eine artikulare Täuschung sofort auf einen kleinen Bruchteil herabsinkt, wenn man das betreffende Gelenk in Bewegung setzt. Und der Grund, weshalb diese Täuschung am rechten Arme jetzt erst überhaupt zum Vorschein kommt, liegt darin, daß eine artikulare Täuschung außerordentlich leicht hemmbar ist22), und daß sie in der Unterbrechung des Verlaufes der visuellen Wahrnehmung durch Schließen der Augen schon einige Schritte vor dem Apparat und durch die sichere Isolierung des Kopfes jetzt erst günstige Bedingungen vorfindet; deshalb ist jetzt auch am linken Arme die Täuschung bedeutend größer als in Fig. 9.

    21) Mit wahrsch. Abw. von 4 bzw. 5 mm (v = 13,6 bzw. 17,4; n = 10).

    22) Dieser Satz wird in Abschnitt V bewiesen werden.
 
 

    Diese Verbesserung der Bedingungen ist nicht minder spürbar in den subjektiven Wahrnehmungen. Der Beobachter Wa. bemerkt, daß seine Lagevorstellungen noch viel abstrakter und allgemeiner geworden seien; es kommt ihm nicht mehr vor, als ob er unter dem Schirm einen Arm von scharf definierter Gestalt hätte, sondern vielmehr, als ob der ganze Raum dort unten er selbst wäre.

 

c) Vergleich zwischen blickend-passiver, aktiv-passiver und blickend-aktiver Lokalisation.

    In den letzten beiden Versuchsgruppen haben wir die Täuschung in einen Haupt- und zwei Nebenfaktoren zerlegen müssen; hierbei aber ist vorausgesetzt, daß die Täuschungswirkungen sich mathematisch summieren. Gegen eine solche Voraussetzung läßt sich manches einwenden. Jastrow23) z. B. verglich die räumlichen Schätzungen durch »Hand«, »Arm« und »Auge« miteinander; er fand, daß Entfernungen nach Schätzung mit dem Auge oder mit dem Arm, wenn sie einer mit der Hand geschätzten Entfernung gleich erscheinen sollten, in Wirklichkeit doppelt so groß sein mußten. Daraus könnte man schließen, daß wenigstens das Auge und der Arm gleiche Schätzungen liefern würden; aber im Gegenteil mußte auch hier, um scheinbare Gleichheit zu erreichen, dem Auge eine in Wirklichkeit doppelt so große Entfernung wie dem Arme dargeboten werden. Dies mahnt zur Vorsicht, und wir wollen uns nicht damit begnügen, die Annahme der Zerlegbarkeit in den vorliegenden Fällen leidlich durchführen zu können; vielmehr wollen wir diese Annahme auf ihre allgemeine Richtigkeit prüfen. 23) Mind, XI, 1886, S. 539.
 
    Die Einzelbestimmungen, die in die Lokalisation eingehen (S. 16), kombinieren sich zu drei Arten von Hauptfaktoren: einem aktiven Körpergliede, einem passiven, und dem Blick; von diesen gehen nur zwei in jede Lokalisation ein; so z. B. sind in den bisherigen Tastlokalisationen der suchende Arm aktiv, der gereizte dagegen passiv gewesen. Der Kürze halber wollen wir solche Lokalisationen als »aktiv-passiv« bezeichnen. In ähnlicher Weise kam in den Blicklokalisationen neben dem »Blicken« noch der passive gereizte Arm in Betracht; und diese Lokalisation wollen wir gleichfalls möglichst kurz als »blickend-passiv« bezeichnen.

    Nun aber kann man ebensowohl »blickend-aktiv« lokalisieren, indem der Blick sich nicht mit der ruhenden, sondern mit der aktiv suchenden Hand zur räumlichen Deckung zu bringen sucht. Dadurch bekommt man schließlich drei Gleichungen zwischen je zwei dieser drei Faktoren; zwar reichen diese nicht aus, wie man vielleicht hoffen könnte, die Gleichungen vollständig zu lösen und so die absoluten Raumlagen zu bestimmen; wohl aber liefern sie Werte, auf Grund deren man entscheiden kann, ob die drei Faktoren in allen Gleichungen konstant bleiben. Es soll z. B. eine Linie B—P die Richtung und Größe des konstanten Fehlers durch eine blickend-passive Lokalisation, und eine andere Linie A—P den Fehler darstellen, wenn derselbe Reiz aktiv-passiv lokalisiert wird; es fragt sich jetzt: wird eine entsprechende blickend-aktive Lokalisation immer den Fehler B—A hervorbringen ?

Um diese Frage zu beantworten, ist eine neunte Versuchsgruppe angestellt worden. Da diese aber die ausgedehnteste und komplizierteste von allen war und den jetzigen Gedankengang allzusehr ablenken würde, so muß ich mich vorläufig auf das Hauptergebnis beschränken. Es stellte sich heraus, daß, solange man die drei Arten von Lokalisationen genügend rein und vergleichbar gestalten konnte (was keineswegs leicht auszuführen war), dann in der Tat der beobachtete blickend-passive Fehler mit der berechneten Linie B—A vollkommen übereinstimmte24).

    24) D. h. natürlich innerhalb der Grenze, welche Ton der Summation der drei darin vorkommenden wahrscheinlichen Abweichungen bestimmt wird.

    Also, theoretisch wenigstens, muß ich die Voraussetzung der mathematischen Summation der hier in Betracht kommenden Täuschungswirkungen für berechtigt halten; in der Praxis lernte ich aber bald, mit ihr nur sehr vorsichtig umzugehen.
 
 

d) Der ganze Fühlraum, bei geübten Beobachtern.

    In der zehnten Versuchsgruppe wandte ich mich der Hauptaufgabe zu, welcher der neue Apparat vor allem dienen sollte, der Erforschung der bis jetzt unerreichbaren seitlichen Teile des Fühlraumes. Wa. versuchte an den äußersten Grenzen einer noch bequemen Adduktion und Abduktion, sowie auch in zwei intermediären Stellungen, Reize auf dem Handrücken zu lokalisieren; das Verfahren war »blickendpassiv«; jede Stellung wurde nur viermal geprüft.

    Die sich daraus ergebenden mittleren Lokalisationen sind in Fig. 12 mit »W« bezeichnet25). Je mehr der Arm nach links zu liegen kommt, desto mehr vermindert sich offenbar die Täuschung nach links zu, um schließlich ins Gegenteil umzuschlagen. Der nächste Beobachter H. wurde am Handrücken und auch am Ellbogen geprüft; die Lokalisationen sind ebenfalls in Fig. 10 gegeben und stimmen mit denen von Wa. überein; nur tritt die Umkehrung der Täuschung rascher und intensiver ein.

    25) Der mittlere variable Fehler war 23,2mm, so daß die wahrscheinlichen Abweichungen der Mittellokalisationen = 12,6 mm.
 
 

    Aber die obigen Ergebnisse schienen mir bedenklich; denn selbst in Stellung 1 hatte sich die Täuschung gegenüber den durch die früheren Versuche festgestellten gefundenen Werten stark herabgesetzt. Deshalb prüfte ich H. in dieser Stellung noch einmal; jetzt war die Tendenz nach links ganz verschwunden26)! Ich prüfte nun mehrere der früheren Beobachter mehrmals in dieser Stellung 1 sowohl mit Tast- wie auch mit Blicklokalisation; in jeder neuen Versuchsstunde wurde (trotzdem streng darauf gehalten wurde, daß der begangene Fehler unwissentlich blieb) die Tendenz nach links so stark herabgesetzt, daß sie bald verschwand, und zuweilen sogar eine kleine Neigung zu der umgekehrten Richtung annahm27). Ich verwendete und verstärkte alle Mittel, welche früher die Ausbildung des Fehlers gefordert hatten; der Beobachter mußte den Arm mehrere Minuten in seiner Stellung erhalten, währenddessen ich seine Aufmerksamkeit abzulenken versuchte; alles umsonst, die Täuschung wollte nicht mehr entstehen.
 
 

    26) Auf die Komponenten dieser Fehler in der Längsrichtung des Armes brauche ich wohl nicht weiter einzugehen. Man sieht, daß Wa. wieder die visuelle Entfernung unterschätzt. Dasselbe ist auch bei H. der Fall, aber kombiniert mit unserem früheren segmentalen Zentripetalismus (s. den II. Teil); letzterer wird, wie immer, nur dann merklich, wenn die artikulare Täuschung weniger die Oberhand hat.

    27) Einige Versuche in Stellung 4 zeigten, daß auch hier der Fehler sich verminderte.
 
 

    Wie gesagt, wurden diese Beobachter sowohl in Blick- wie auch in Tastlokalisation geübt, und der Fehler erlosch dann für beide Versuchsarten, allerdings für letztere weniger vollkommen. Ich wollte nun sehen, was sich ereignen würde, wenn die Übung ausschließlich in Blick- oder ausschließlich in Tastlokalisation geschah. Mit Blicklokalisation schien die Täuschung ebenso rasch zu verschwinden, wie bei gemischter Übung, und war dann schließlich auch für die Tastlokalisation nicht mehr vorhanden. Mit ausschließlicher Tastlokalisation dagegen konnte ich keine Verminderung des Fehlers konstatieren (dabei aber muß man im Auge behalten, daß sich alle Beobachter in dieser Versuchsgruppe schon an den Gruppen 1, 4 und 5 beteiligt hatten).

    Wie soll man nun dieses Verschwinden der Täuschung erklären? In der ersten Versuchsgruppe war es offenbar die Folge teilweiser Erkennung und Verbesserung der begangenen Fehler; aber jetzt waren alle Maßregeln getroffen, um dem Beobachter die Erkennung seines Fehlers unmöglich zu machen; auch ist kein Grund vorhanden, weshalb diese Erkennung für Blicklokalisation so viel leichter sein sollte als für Tastlokalisation; dazu kommt noch der sonderbare Gegensatz, daß nur Wiederholung der Sitzungen, keineswegs Anhäufung der Versuche innerhalb einer Sitzung die Täuschung herabsetzte. Mir scheint es, als ob bei jeder neuen Sitzung die allererste Lagevorstellung (wo, wie wir gesehen haben, die Täuschung noch nicht entwickelt ist) sich fester in die räumliche Anordnung des Sehfeldes hineinwebt und auf diese Weise die Täuschung immer weniger aufkommen läßt

    Es war nun unter diesen Verhältnissen, daß ich vorübergehend zu dem in der ersten Versuchsgruppe konstatierten segmentalen Fehler zurückkehrte. Dieser hatte sich damals trotz des Einflusses des Halbwissens als äußerst standhaft erwiesen. Blieb er dies auch noch unter der Einwirkung der Blicklokalisation? Die jetzt durchgeführte und schon auf S. 37—39 (als zweite) angegebene Versuchsgruppe ergab eine entschiedene Bejahung dieser Frage. Überall zeigt sich die kleine segmentale Täuschung ebenso zäh, wie die große artikulare Täuschung veränderlich ist.

e) Der ganze Fühlraum bei unbefangenen Beobachtern.
    Die 11. Versuchsgruppe kam auf das gegenwärtige Thema zurück und sollte Aufschluß darüber geben, wie sich die Täuschung unter der neuen viel reineren Methode bei Beobachtern im natürlichen uneingeübten Zustande gestaltete; hiermit werden wir die Versuche über die Lokalisationsfähigkeit des linken Armes zum Abschluß bringen dürfen.

    Zu diesem Zwecke haben F., Ke., L., Z., Kn., G. und N. ihre freundliche Hilfe geboten. Das Verfahren bestand in Blicklokalisationen und war auch sonst genau wie in der 8. Gruppe beschaffen. Es wurden wieder vier Stellungen geprüft, aber Stellung 1 unterschied sich von Stellung 2 nicht durch größere Adduktion der Schulter, sondern durch Flexion des Ellbogens (s. Fig. 13, Fig. 14, Fig. 15). In jeder Stellung wurden durchschnittlich sechs Einzellokalisationen gemacht, immer Ellbogen und Handrücken miteinander abwechselnd; vier Beobachter gingen von Stellung 1, drei dagegen von Stellung 4 aus. Der mittlere variable Fehler beträgt 27,1 mm28), Die Verteilung der variabeln Fehler ist folgende:

Tabelle II.


Stellung 1 2 3 4
Variabler Fehler in mm29) (Hand) 22,8 27,2 28,3 37,8
(Ellbogen) 22,7 25,9 25,5 26,4

    Auffallend ist das sehr regelmäßige Wachstum des Fehlers mit der Abduktion; dafür lassen sich mehrfache Erklärungen aufstellen, deren nächstliegende wohl die größere Übung bei größerer Abduktion ist.

28) ± l mm (v = 27,1; n = 336).

29) ± 2 mm (v = 27,1; n = 42).
 
 

    Die konstanten Fehler für die fünf zuerst genannten Beobachter sind in Fig. 13 in der üblichen Weise zusammengestellt30). In den Stellungen 1 und 2 tritt wieder die alte Täuschung wie in Fig. 7—11 zutage; in Stellung 3 setzt sich der Fehler bedeutend herab; und in Stellung 4 ist er nur eben noch bemerkbar.

    30) Die wahrscheinlichen Abweichungen erster Ordnung (s. S. 26) sind nur 5 mm (v = 27,1; n = 30); aber wenn man noch dazu die individuellen Unterschiede in Anschlag bringt, so steigen sie auf 32 nun (v = 71; n = 5). Für manche Betrachtungen muß wohl der zweite Wert maßgebend sein; doch scheint dabei der große mittlere individuelle Unterschied von 71 mm nicht wirklich rein variabel zu sein, sondern vielmehr hauptsächlich aus Schwankungen im Betrage der zwei konstanten Fehler hervorzugehen, letztere sind erstens die alte Täuschung nach links, zweitens die konstanten Fehlschätzungen der visuellen im Vergleich zu den taktilen Entfernungen (wobei aber, wie man sieht, die Unter- und die Überschätzungen sich schließlich ziemlich genau ausgleichen).

    Für G. und N. sind die besonderen Fig. 14 und Fig. 15 gegeben31), weil die enormen Größen der Fehler, zusammen mit der frappanten Ähnlichkeit zwischen den beiden Fällen, offenbar etwas ganz anderes als bloße extreme, zufällige Schwankungen anzeigen32). Näher betrachtet stimmen diese Lokalisationen vollkommen mit den obigen überein, bis auf eine Ausnahme: diese besteht in der erstaunlichen Verkleinerung der scheinbaren Länge des Armes. Unmöglich kann diese Verkleinerung etwa einer Überschätzung der visuellen Entfernung zugeschrieben werden; einer solchen Hypothese widerstreiten nicht nur die Größe des Betrages und die subjektiven Beobachtungen (s. S. 65), sondern in erster Linie die Tatsache, daß die Verkleinerung sich erst allmählich entwickelte33).
 
 

    31) Hier hat man nur mit der wahrscheinlichen Abweichung erster Ordnung zu tun, 11 mm (v = 27,1; n = 6).

    32) Trotz des normalen Zuwachses des konstanten Fehlers bleibt der variable genau wie bei den andern fünf Beobachtern 27,2 mm (für G. 28,4; für N. 26,0 mm).

    33) Diese beiden Beobachter gingen von Stellung l aus. Eine analoge Erscheinung entwickelte sich in sehr geringem Grade auch bei den fünf andern; denn für die drei, welche von Stellung 4 ausgingen, lagen die Lokalisationen des Ellbogens in Stellung 1 näher zum Körper wie in Stellung 2; während für die zwei, welche von Stellung 1 ausgingen, dieses Verhältnis umgekehrt war. Aber eine solche fünfmalige Übereinstimmung hat noch keine ganz zwingende Beweiskraft, da sie schon durch bloßen Zufall aus 32 Fällen (25) einmal zu erwarten wäre.

    Auf die Erklärung dieser merkwürdigen Erscheinung werden wir erst auf S. 93 eingehen können; vorläufig wollen wir nur bemerken, daß sie offenbar segmentaler Art ist.

    Die konstanten Fehler dieser Beobachter, trotz ihrer enormen Größe beim ersten Auftreten, zeigten sich bei erneuerten Versuchen ebenso bereit, zu sinken und zu verschwinden, wie die der früheren Beobachter.

    Die auf S. 36 und 53 erwähnte vertikale Täuschung war bei diesen ungeübten Beobachtern ebenso verstärkt, wie die horizontale. L. beklagte sich über die Schwierigkeit der Lokalisation, weil, wie er meinte, der Arm so tief unter dem Schirm läge; auf meine Frage, wie tief denn der Arm wohl liege, sagte er: »15 bis 20cm «; während diese Entfernung in Wirklichkeit bloße 2 cm betrug!

    Bei allen bisherigen Blicklokalisationen war die rechte Hand, in der Justierung des Stäbchens, durchweg tätig, obwohl sie von der gereizten Hautstelle fern blieb (s. Fig. 10). Um den Einfluß dieser Tätigkeit zu ermitteln, wurde ein Beobachter in der Weise geprüft, daß er das eine Mal seine beiden Arme unter den Schirm, und zwar in symmetrisch zueinander gelegenen Stellungen brachte, während das Stäbchen von mir nach seinen Anweisungen justiert wurde; und dann so, daß er es selbst justierte, wie es bisher üblich war. Die mittleren Lokalisationen fielen identisch aus. Ein anderer Beobachter machte diese zwei Arten Versuche in umgekehrter Reihenfolge, aber gleichfalls mit ebenso geringer Verschiebung der Lokalisation.

    In dieser Versuchsgruppe waren nicht nur die objektiven, sondern auch die subjektiven Erscheinungen viel ausgeprägter, als bei lange eingeübten Beobachtern. Wie schon Wa. fand (S. 56), schien die Vorstellung des Armes noch mehr »abstrakt» als bei den früheren Versuchsanordnungen; nur ein Beobachter wollte finden, daß sie der Hauptsache nach irgendeinen empfindungsartigen, gleichviel ob visuellen oder taktilen Charakter an sich trüge34).

    34) Die Ausnahme betraf N., der seine Vorstellungen als »dunkel visuell« charakterisierte.
 
 

    Wie früher H., so bemerkten jetzt G. und N., daß die scheinbare Stelle, gerade als sie sie bestimmen wollten, um 1—2 cm. wegrückte; wenn die Beobachter nachfolgten und die Stelle wieder zu bestimmen suchten, so rückte sie wieder weiter; die angegebene Richtung dieser Verschiebung stimmte genau mit der des konstanten Fehlers überein. Auch beim Aufhören des Reizes verschob sich sehr häufig die scheinbare Stelle; aber nur für N. geschah auch dieses im Sinne des konstanten Fehlers; sonst war es unregelmäßig. Ke. (der von Stellung 1 ausging) stellte sich plötzlich am Schlusse der Versuche in Stellung 2 den Arm beträchtlich flektiert vor und meinte, bis dahin einen Irrtum begangen zu haben, wenn er ihn ausgestreckt (richtig) vorgestellt hatte. Einmal war eine derartige Täuschung so lebhaft, daß der Beobachter seinen Arm wirklich durch verborgene mechanische Hilfsmittel von mir verschoben dachte.

    Alle erwähnten Täuschungen hatten, in starkem Gegensatze zum logischen Fehlschuß (s. S. 36), einen unmittelbar sensorischen Charakter. Keinen Augenblick hat G. oder N. geglaubt, daß die Reizstelle wirklich so nahe am Körper wäre; denn sie nahmen wahr, daß die Reize ihren Handrücken, bzw. Ellbogen, trafen, und sie wußten wohl, daß diese Körperteile viel weiter ablägen; aber zu ihrer eigenen Überraschung wollten die Empfindungen nicht damit übereinstimmen.

    Alle Beobachter meinten auf der Hand viel sicherer als auf dem Ellbogen zu lokalisieren; aber objektiv haben wir es gerade umgekehrt gefunden35). Diese Diskrepanz möchte ich dadurch erklären, daß der objektive Fehler nicht nur aus einer segmentalen, sondern auch aus einer artikularen Komponente besteht, und daß letztere gegen die Peripherie hin immer gröber werden muß36); das Sicherheitsgefühl dagegen beruht ausschließlich auf den bewußten Nuancierungen und dem »Raumsinn« der die segmentale Komponente liefernden Hautempfindungen, welche sich gegen die Peripherie hin immer verfeinern.

    35) 3. Tabelle II (s. o.).

    36) Wenn der Gelenkwinkel fehlgeschätzt wird, so muß die Größe der entstehenden Täuschung offenbar dem Abstand der Reizstelle vom Gelenke proportional sein.
 
 

3. Lokalisation an andern Körperteilen.

a) Am rechten Arm.

    Bis jetzt sind immer Reize am linken Arm lokalisiert worden. Es wurde nun eine (zwölfte) Gruppe sowohl von Tast- als auch von Blicklokalisationen in ganz ähnlicher Weise am rechten Arm vorgenommen; und sie führte zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Die Täuschung war ebenso groß wie vorher, nur trat sie jetzt in Form einer Rechts- statt einer Linksdrehung auf. Die Versuche waren eingehend genug, um diese allgemeine Übereinstimmung zwischen den beiden Armen zu konstatieren, aber doch nicht so eingehend, daß die vermutlich vorhandenen kleinen Unterschiede festgestellt werden konnten; dann würde ihre ausführliche Beschreibung nur eine zwecklose Wiederholung des schon Gesagten sein37).

    37) Auch sind andere solche Versuche mit der rechten Hand im Teil IV angegeben; s. S.75 u. 80.
 
 

b) An den Oberschenkeln.

    Die vorderen Flächen der Oberschenkel bieten besondere Vorteile zur experimentellen Untersuchung; sie sind für beide Hände bequem zugänglich; sie lassen sich ungefähr senkrecht zu den Blicklinien stellen; und auf die artikulare Komponente der Lagewahrnehmung wirkt eine nicht allzu große Anzahl von Gelenken ein.

    Der Apparat wurde nach demselben Prinzip wie der in Fig. 12 gebaut; wiederum verbarg ein großer horizontaler Schirm alles, was sich darunter befand; aber diesmal umgürtete er nicht den Hals, sondern die Hüften des Beobachters; letzterer saß so auf einem Stuhl, daß die Oberschenkel horizontal ungefähr 2 cm unter dem Schirm lagen, und von mir beliebig ab- oder adduziert werden konnten. Sowohl Blick- als Tastlokalisationen wurden angewandt; die letzteren wurden abwechselnd zur Hälfte mit der linken und der rechten Hand ausgeführt. Jeder Schenkel wurde an zwei Hautstellen und in zwei Stellungen geprüft (Fig. 16).

    In dieser (13.) Gruppe wandte ich nicht nur die bisher gebräuchliche Methode des mittleren Fehlers, sondern auch die der minimalen Änderungen an; es wurde jedoch auf ihre reinste Form verzichtet, da sich wohl die Punkte eben unmerklicher, aber nicht die eben merklicher Unterschiede mit befriedigender Sicherheit beobachten ließen. Der suchende Stift (bzw. Blick) geht von irgendeinem Punkte aus, welcher eine übermerkliche seitliche Abweichung von der scheinbaren Stelle des Reizes zeigt, und wird dann langsam herangebracht, bis zum Grenzpunkt, wo er zuerst mit diesem zusammenzufallen scheint; hierauf geschieht derselbe Vorgang von der entgegengesetzten Seite aus; dann werden die zwei analogen Grenzpunkte in einer zur vorigen senkrechten Richtung ausgesucht, wobei man von Punkten ausgeht, die der Mitte der vorher als unter der Schwelle liegend gefundenen Strecke gegenüberstehen; nun wird die Mitte der jetzt als unter der Schwelle liegend konstatierten Strecke als die endgültige Stelle der Lokalisation betrachtet. In Versuchen, wo der Reiz während des Suchens fortdauert (wie den gegenwärtigen), und wo man von psychologisch geschulten Beobachtern unterstützt wird, bestimmt man die Täuschung rascher mit dieser als mit der früheren Methode, des mittleren Fehlers, obwohl man mit beiden doch schließlich zu ähnlichen Ergebnissen kommt. Zur Bestimmung der Lokalisationsfeinheit dagegen bekommt man zwar leidlich gut untereinander vergleichbare Werte von verschiedenen Prüfungen derselben Person, kaum aber von verschiedenen Personen; diese scheinen ungleiche Anlagen zum Sicherheitsgefühl zu haben.

    Von den fünf Beobachtern, F., S., H., M. und B., hatte der erstgenannte nur die 11. Gruppe durchgemacht, während die andern an fast allen mitwirkten. Für den kleinen Teil der Versuche nach der Fehlermethode war der mittlere variable Fehler für Tastlokalisation 27,0 mm38); für Blicklokalisation 35,2 mm39). Die mittlere »unterschwellige« Strecke schwankte bei den verschiedenen Beobachtern von 103 mm bis zu 42 mm, und bei einem Beobachter reichte sie sogar bis zu negativen Werten hinab; im allgemeinen erhielt ich von denjenigen Versuchspersonen größere Werte, von denen ich glaube, daß sie eine gründlichere experimentell-psychologische Schulung genossen hatten.

    38) ± 2 mm (v = 27; n = 88).

    39) ± 6 mm (v = 35,2; n = 16).
 
 
 
 
 

    Die mittleren konstanten Fehler (aus den gesamten Ergebnissen berechnet) sind in Fig. 16 dargestellt. Da die Täuschungen überhaupt klein sind, so tritt nun wieder der Zentripetalismus hervor; die vorderen Lokalisationen nämlich neigen nach hinten, die hinteren nach vorn. Die übrige und überwiegende Komponente der Täuschung besteht offenbar in einer scheinbaren Drehung beider Beine einwärts; auch ist diese Drehung größer in den Stellungen größerer Abduktion (Stellungen 1 der Fig.).

    Die zwei Hände gaben zwar nicht identische, wohl aber symmetrische Ergebnisse. Bei drei Beobachtern (einschl. F.) lokalisierte die rechte Hand links und die linke Hand rechts von der Blicklokalisation; beim vierten waren diese Verhältnisse gerade umgekehrt; der fünfte hielt die Mitte inne, indem die Ergebnisse jener drei Lokalisationsarten annähernd zusammenfielen. Bei allen fünf Beobachtern stimmte dieses Verhältnis der Tast- zur Blicklokalisation mit demjenigen überein, welches sich in ihren unmittelbar vorhergehenden Versuchsgruppen gezeigt hatte und eher ein Übungsprodukt als den natürlichen Zustand darstellen dürfte.

c) Am rechten Fußknöchel.

    Die Arme und die Oberschenkel waren es, welche die unzweideutigsten Resultate verhießen; deshalb sind diese, besonders die ersteren, mit möglichster Gründlichkeit untersucht worden. Die andern weiter unten behandelten Körperteile kommen mehr ergänzungsweise in Betracht.

    Der für diese angewendete Apparat (Fig. 17) ist einfach, aber doch sehr brauchbar unter solchen Umständen, wo keine große Genauigkeit erstrebt werden kann. In Fig. 17 ist die linke Hand der gereizte und die rechte Hand der suchende Körperteil; die den Apparat ansetzende Hand des Experimentators ist nicht mit gezeichnet worden; der horizontale Schirm ist gewöhnlich viel größer, als er in den Figuren erscheint40); der reizende Draht ist unten vom Schirme weg gekrümmt, so daß die Spitze anderthalb cm frei steht und federn kann; auf der oberen Fläche des Schirmes ist leicht zu erneuerndes weißes Papier festgeklemmt, worauf die Lokalisationen graphisch registriert werden. Statt horizontal kann der Schirm auch vertikal gehalten werden, was schon in den folgenden Versuchen geschehen mußte.
 
 

    40) Man macht den Schirm von bequemer Größe und Gestalt, je nach dem zu untersuchenden Körperteil.

Diese (14.) Gruppe bezog sich auf den rechten Fußknöchel, und zwar auf zwei Stellungen desselben. In der ersten wurde der Fuß möglichst zurückgezogen, wie dies in Fig. 18 zu sehen ist; aber in Wirklichkeit wurde der Stift horizontal und parallel zur Querachse des Körpers gehalten, was sich in der Fig. nicht gut darstellen ließ. In der zweiten Stellung wurde der Fuß möglichst nach vorne ausgestreckt; auch jetzt hielt der Beobachter den Stift horizontal und parallel zur Querachse des Körpers. Es beteiligten sich die Herren B., S., H., K., M., und ich selber.

    Der mittlere variable Fehler hatte bei zurückgezogenem Fuße eine Größe von 20,1 mm41), bei ausgestrecktem eine solche von 21,1 mm42).

    41) ± 2 mm (v = 20,1; n = 48).

    42) ± 2 mm (v = 21,1; n = 48).
 
 

    Die mittleren Lokalisationen sind in den Fig. 18 und Fig. 19 dargestellt, nur sind die Fehler etwas vergrößert worden, um deutlicher gesehen zu werden; ihr wahrer Mittelwert betrug in beiden Stellungen 55 mm43).

    43) Die wahrscheinliche Abweichung erster Ordnung (S. 26) ist 3 mm; wenn sie aus den individuellen Variationen berechnet ist, so steigt sie auf 9 mm.
 
 

d) An der Handfläche.

    In der 15. Gruppe war die Handfläche der gereizte, und der Mittelfinger derselben Hand der suchende Körperteil.

    Der Apparat (Fig. 20) beruhte auf demselben Prinzip, nur wurde jetzt der Stift durch ein Stück Draht ersetzt, welches derart umgebogen war, daß es sich auf dem Papier leicht verschieben ließ, und eine federnde Spitze nach oben darbot. Es ergab sich bei einem variabeln Fehler unter 2 mm ein konstanter rehler von mehr als 20 mm, und zwar nach dem Handgelenk zu.

4. Das Unterschätzungsgesetz.

    Bis jetzt haben wir die aufgedeckten artikularen Täuschungen durch die einfachste Bezeichnung des jeweiligen Tatbestandes ausgedrückt. Jetzt wollen wir versuchen, diese mannigfachen Erscheinungen — zwar immer noch mit möglichst strenger Beschränkung auf den beobachteten Tatbestand — unter einen gemeinsamen Begriff zu subsumieren und zu einer allgemeinen Induktion zu verwerten. Ich glaube hiernach als empirisches Gesetz aufstellen zu dürfen, daß jede artikulare Teilbestimmung einer Lagevorstellung täuscht, indem die Abweichung von dem am häufigsten vorkommenden Gelenkwinkel unterschätzt wird (und zwar wird man für die meisten Gelenke annehmen dürfen, daß der »am häufigsten vorkommende« Winkel annähernd der Mittellage des Gelenkes entspricht44)). Wir wollen nun sehen, inwiefern der obige Satz mit den tatsächlichen Beobachtungen übereinstimmt.

    44) »Am häufigsten vorkommend« läßt sich bekanntlich in mehreren etwas voneinander verschiedenen Weisen auffassen; zwischen diesen zu entscheiden, reichen unsere Daten nicht aus.

    Die ersten und gründlichsten Versuche bezogen sich auf den linken Arm in den frontalen Stellungen; in diesen ist offenbar der Arm maximal adduziert; eine Unterschätzung solcher Abweichung von der Mittellage muß dann eine scheinbare Drehung nach links hervorbringen; und eine solche Drehung haben wir tatsächlich gefunden (Fig. 6, 7, 8, 9, 10, 11). Und ganz dasselbe läßt sich auch vom rechten Arm sagen (vgl. S. 66).

    Dann haben wir die mittleren und die maximal abduzierten Stellungen untersucht. Im ersten Falle sollte nach der Hypothese keine Täuschung, im zweiten Falle eine scheinbare Rechtsdrehung eintreten. Hier scheint also die Hypothese schon zu versagen, da wir in beiden Fällen eine merkbare, obwohl mit wachsender Abduktion sich stark reduzierende Linksdrehung beobachten (Fig. 1345)). Doch muß man sich erinnern, daß diese Beobachtungen notwendigerweise mittels Blicklokalisation erlangt worden sind, und daß die Hypothese ebensosehr eine Unterschätzung der Linksdrehung des Kopfes — also eine scheinbare Rechtsdrehung desselben — erfordert; und eine solche haben wir tatsächlich gefunden (S. 52); nun aber muß diese scheinbare Rechtsdrehung des Kopfes der scheinbaren Linksdrehung des Armes fast diametral entgegenwirken 46). Wir können den Zusammenhang sogar quantitativ bestimmen; die Täuschung, welche vom Kopfe herrührt, kommt in den Lokalisationen über dem Schultergelenk in Fig. 9 und Fig. 1147) rein zum Ausdruck; dort findet man eine mittlere scheinbare Linksdrehung von ungefähr 9°; diese müßte an der ausgestreckten Hand eine Linkstäuschung von 11 cm erzeugen; nun aber hatten wir in Fig. 13, Stellung 4, eine Linkstäuschung von bloß 5 cm; also muß der Arm für sich in Stellung 4 eine Täuschung von 11—5 cm nach rechts erzeugt haben. In analoger Weise kann man berechnen, daß der Arm für sich in Stellung 3 ganz frei von Täuschungen ist. Schließlich also stellt sich heraus, daß selbst die mittleren und maximal abduzierten Stellungen des Armes sowie auch die Kopfstellungen gerade die Täuschungen aufweisen, welche die Hypothese verlangt.
 
 

            45) Die Ergebnisse in Fig. 12 leiden zuviel unter dem unberechenbaren Einfluß vorhergehender Übung, um hier brauchbar zu sein. In Fig. 14 und Fig.15 sind alle anderweitigen Ergebnisse durch die erstaunliche Verkleinerung zurückgedrängt. Da bleibt nur Fig. 13, welche aus den Lokalisationen von fünf unbefangenen Beobachtern zusammengestellt ist.

46) Vgl. Anmerkung 5), T,III
 
            47) In Fig. 11 kommt nur die mit angezogener Linie gezeichnete Lokalisation in Betracht.
 
 

    Die Täuschungen am rechten und am linken Oberschenkel (Fig. 16) lassen sich ohne weiteres als Unterschätzung der Abduktion auffassen.

    Die achte beobachtete Täuschung ist in Fig. 18 dargestellt. Hier besteht die größte Abweichung irgendeines Gelenkes vom normalen Winkel in einer maximalen Flexion des Knies. Eine Unterschätzung dieser Flexion müßte die Lokalisation nach vorne und unten verschieben; und dies hat sich auch gezeigt.

    In Fig. 19 befindet sich das Knie in ziemlich normaler Stellung, dafür aber tritt eine maximale Flexion des Hüftgelenkes ein, welcher dann eine Täuschung nach unten und hinten entsprechen sollte, und auch tatsächlich entsprach.

    Die zehnte Täuschung war an der Handfläche gelegen (Fig. 20). Hier sind sowohl Trochlea wie auch Basis der ersten Phalanx des Mittelfingers sehr flektiert; aber ersteres Gelenk dient hauptsächlich nur dazu, die Fingerspitze der Handfläche überhaupt zu nähern, und kommt also kaum in Betracht, während Unterschätzung der Flexion an der Basis dieser Phalanx die Lokalisation nach dem Handgelenk zu verschieben müßte. Die Beobachtung bestätigte dies.

    Sodann denken wir daran, daß in den Versuchen der Arm auf einem 90 cm hohen Tisch lag, während er doch gewöhnlich nach unten hängt. Die von der Hypothese verlangte Unterschätzung dieses Emporhebens mußte die Vorstellung des Armes in eine zu niedrige Lage versetzen. Auch dieses haben wir wiederholt konstatiert.

    Schließlich kann ich hier vorweg auf eine Täuschung hinweisen, die erst in Teil IV ausführlich besprochen werden soll. Der Beobachter wurde an der rechten Seite des Kopfes gereizt, wobeiseine suchende Hand die Fig. 21 gezeichnete Stellung einnahm; dabei ist der Ellbogen sehr flektiert und die Schulter sehr abduziert; Unterschätzungen dieser Abweichungen von den gewöhnlichsten Winkeln müssen die Lokalisation nach unten bzw. nach hinten bringen, welcher Fall auch tatsächlich eintrat48).

    48) Bei allen Versuchen muß man natürlich die Störung beseitigen, welche durch die Ausgangsrichtung der suchenden Hand erzeugt ist (S. 43—44).
 
 

    Alle (zwölf) beobachteten artikularen Täuschungen lassen sich mithin in dem hypothetisch angenommenen Sinne auffassen: als Unterschätzungen der Gelenkabweichungen vom häufigsten Winkel. Diesen Zusammenhang glaube ich also ziemlich sichergestellt zu haben49) Damit aber ist dieser Zusammenhang keineswegs erklärt, was erst in Teil V unternommen werden soll.

    49) Wenn man Unter- und Überschätzung als gleich mögliche Fälle setzte, so wäre eine solche Übereinstimmung durch bloßen Zufall nur 1 in 4096 (212) mal zu erwarten. Der Zufall ist also hier wohl die kleinste Gefahr.