II. Teil. Die segmentale Täuschung,

1. Halbwissentliches Verfahren.
 

a) Versuchsbedingungen.

    In einer Hinsicht konnte ohne Bedenken der Weg aller früheren Forscher gegangen werden, indem nämlich besondere Aufmerksamkeit der Lokalisation auf der Hand und dem Arme gewidmet wurde; denn hier bietet die Haut offenbar die größte Bequemlichkeit der Beobachtung und den weitesten Umfang der Sensibilität. Und meinen neuen Zwecken kam auch die Bewegungsfreiheit dieses Gliedes sehr gelegen.

    Aber in bezug auf mechanische Hilfsmittel für die experimentelle Untersuchung konnte die Einfachheit meiner Vorgänger nicht mehr beibehalten werden. Denn es wurde jetzt verlangt, erstens, irgendeinen beliebigen aus einer großen Anzahl vorher gewählter Hautpunkte sofort reizen zu können; zweitens, dieselbe Reizung bei jeder späteren Gelegenheit und in jeder der vorher gewählten Gliedstellungen wiederholen zu können; drittens, die suchende Hand in möglichste Nähe der gereizten Hautstelle, jedoch ohne Berührung, herankommen zu lassen; und viertens, jede Lokalisation vollständig zu registrieren.

    Zu diesen Zwecken wurde die Volarfläche des Unterarms des Beobachters von einer dazu modellierten und gut gefütterten Gipsform aufgenommen. Aus der Unterlage der Form stiegen vier vertikale Stäbchen empor, welche unmittelbar über der oberen Armfläche ein feines horizontales Drahtnetz1) trugen. Die ganze kastenartige Einrichtung lag verschiebbar auf einem Tisch und wurde nach einer von mehreren darauf markierten Stellungen jedesmal genau justiert.

    1) Sieben Maschen pro Zentimeter.

    Der Beobachter saß an einem bestimmten Ort vor dem Tische, die Augen wurden geschlossen, der Arm in den Kasten gelegt, und letzterer, nach einigen vorbereitenden unregelmäßigen Bewegungen, in eine der markierten Stellungen gebracht. Der Reiz erfolgte mit einem dünnen Drahte, der leicht durch die Maschen ging; die Intensität des Reizes war die, welche der Beobachter für die günstigste hielt Während der Reizung mußte der Beobachter auf die vermeintliche Stelle mit einem Stifte, der gerade so dick war, um nicht durch die Maschen zu dringen, von obenher hinzeigen. Der begangene Fehler wurde dann durch die auf den Maschen angebrachten Koordinaten registriert; wenn der Beobachter z. B. die Lokalisation auf einen Punkt: zwei Maschenreihen unterhalb und drei rechts von der Reizstelle verlegte, so schrieb man ins Protokoll y = – 2, x = + 3; durch diese Zahlen konnte man nun sowohl die Fehler sich wieder genau vor Augen führen, als auch allerlei Berechnungen vornehmen.

    In dieser Weise wurde jeder von sechs Beobachtern an 30 Punkten auf der Dorsalfläche des linken Vorderarms, je in vier Stellungen, gereizt. Die Punkte, sowie auch die Stellungen, welche während jeder Versuchsreihe unregelmäßig variiert wurden, sind in Fig. 1 gezeigt. Die ganze Serie von 120 Lokalisationen konnte in drei Sitzungen, jede von einer Stunde Dauer, leicht gewonnen werden.
 
 

b) Objektive Ergebnisse.

    Da diese erste Versuchsgruppe einen mehr rekognoszierenden Charakter haben sollte, so hatte sie eine möglichst große Variation der Bedingungen erstrebt; die Ergebnisse konnten dann nach den verschiedensten Merkmalen — Längsverteilung, Querverteilung, Entfernung vom Gelenke, Flexion des Ellbogens, Flexion des Schultergelenkes, individuellen Variationen usw. — vergleichsweise gruppiert werden. So war man imstande, dieselben Daten wiederholt zu benutzen, und den weitesten Überblick in der kürzesten Zeit zu gewinnen. Dafür aber mußte jede Gruppe, um eine genügende Anzahl von Fällen darzubieten, eine mehr oder weniger gemischte Natur bekommen, wodurch feinere Züge vielleicht verschleiert und entgegengesetzte Wirkungen teilweise neutralisiert worden sind.

    Der mittlere variable Fehler stellte sich in einer Größe von annähernd 16,7 mm2) heraus; davon war die Komponente in der Längsrichtung des Armes 13 mm3), und die in der Querrichtung 10 mm4). Wenn man dieses Gesamtergebnis in kleinere Gruppen zerlegt, so glaubt man auf den ersten Eindruck hin beträchtliche Unterschiede in den Fehlergrößen, je nach dem Reizort, der Armstellung und der Individualität, zu erblicken; aber nach Berechnung der wahrscheinlichen Abweichung zeigt sich allemal die Beweiskraft doch nicht hinreichend, um gegen eine bloße Zufallsvorspiegelung zu schützen; und wenn man durch Ausdehnung der Gruppen die wahrscheinliche Abweichung herabsetzt, vermindern sich im selben Maße auch die Unterschiede. Vermutlich sind irgendwelche derartige Unterschiede sehr klein, und jedenfalls erfordert ihre Entdeckung eine viel ausführlichere Versuchsserie als diese.
 
 

    2) ±0,4mm (v = 16,7; n = 720). Für diesen Wert sind die Ergebnisse aller drei Sitzungen desselben Beobachters zusammengestellt worden, wodurch der variable Fehler (dank dem »systematisch variabeln« Fehler) etwas größer ausfällt, als wenn jede Sitzung allein für sich genommen wäre; vgl. S. 26.

    3) ± 0,3 mm (v = 13; n = 720).

    4) ± 0,3 mm (v = 10; n = 720).

    In bezug auf den konstanten Fehler ist der Schein noch täuschender; sehr verschiedene Arten der Gruppierung und der Betrachtung der Verhältnisse der Glieder untereinander erwecken den Eindruck einer starken Differenzierung der Fehlerrichtung. Aber auch hier wieder halten die Erscheinungen einer strengeren Prüfung fast niemals stand; eine Ausnahme jedoch, vorerst noch wenig sichtbar, trat gerade bei solcher genaueren Prüfung klar zutage, indem sie dadurch von den überdeckenden, auffallenderen Zufälligkeiten befreit wurde. Sie besteht in einem konstanten Fehler im Sinne der Längsachse des Armes, welcher in der Nähe des Ellbogens eine distale Richtung hat, aber, mit Entfernung vom Ellbogen allmählich kleiner werdend und durch den Wert Null hindurchgehend, in eine proximale Richtung umschlägt. Die Größen und die Wendung ersieht man aus Tabelle I.

Tabelle I.


Entfernung vom Ellbogen (mm) 25 50 75 100 125 150 175 200 225 250
Mittlerer konstanter Fehler in der Längsachse des Armes (mm)5) 6,1 2,4 1,9 0,1 0,7 12,1 10,0 13,2 10,9 13,5
Richtung + bezeichnet distal des Fehlers – " proximal
+
+
+
+
+
-
-
-
-
-

 

    5) ± 1,5 mm (v = 13; n 72).

    Dieses Ergebnis läßt sich auch anschaulich machen durch die in Fig. 2 gegebene graphische Darstellung, wo die Abzissen die Entfernungen vom Ellbogen, die Ordinaten die Fehler darstellen.

    Noch viel ergiebiger kann dasselbe Ergebnis in der numerischen Korrelation zwischen dem Fehler und der Entfernung vom Ellbogen verwertet werden; da findet man nach der bekannten Bravaisschen Formel, daß der Korrelationskoeffizient sich auf 0,89 (± 0,04) beläuft6). Aber jede scheinbare Korrelation wird durch die »Beobachtungsfehler« (hier die variabeln Lokalisationsfehler und auch, in minimalem Grade, die örtlichen Fehler beim Ansetzen der Reizspitze) unrechtmäßig vermindert7). Da solche Einflüsse nichts mit dem konstanten Fehler an sich zu tun haben, so sollten sie möglichst eliminiert werden, wodurch die Korrelation auf 0,94 steigt8).
 
 

    6) Wo bekanntlich die vollständige Korrelation durch 1,0 dargestellt wird. Bei solchen spärlichen Daten ist natürlich an mehrere Koeffizienten zur schärferen Bestimmung der Korrelation nicht zu denken.

    7) Diese Verminderung ist leicht aus dem Grenzfall zu ersehen, wo die Beobachtungsfehler so groß sind, daß die erlangten Werte so gut wie zufällig sind. In solchen Werten kann offenbar auch von der größten tatsächlichen Korrelation kaum noch eine Spur sich kundgeben.

    8) Siehe Anhang II.
 
 

    Die numerische Korrelation hat den Vorteil vor der graphischen Darstellung, daß sie mit andern ähnlichen Erscheinungen vergleichbar ist (wovon wir auf S. 40 Nutzen ziehen werden). Auch ist nur die numerische Korrelation außer Gefahr, bloß durch Zufall vorgespiegelt zu sein, indem man sofort sehen kann, daß ihr (unkorrigierter) Betrag 20 mal so groß wie ihre wahrscheinliche Abweichung ist, und also nicht einmal in Milliarden Fällen durch bloßen Zufall zu erwarten wäre. Eine graphische Darstellung dagegen vermag zwar sehr leicht ein Sicherheitsgefühl zu erzeugen, schwerlich aber, es zuverlässig zu begründen.

    Aber dem Zufall ist in der Tat, wie erst die numerische Behandlung lehrt, die scheinbare Unvollständigkeit der Korrelation (in der graphischen Darstellung kommt sie durch die Unregelmäßigkeiten der Kurve zum Ausdruck), hauptsächlich wenigstens, zuzuschreiben; denn nach Elimination der unrechtmäßigen Einflüsse wird diese Unvollständigkeit beinahe so klein wie die wahrscheinliche Abweichung; daraus ist zu schließen, daß möglicherweise bei Häufung der Versuche die Kurve schließlich zu einer geraden Linie werden würde, obwohl eine ganz geringe Krümmung etwas wahrscheinlicher ist9).

    9) Es kommt zwar manchmal vor, daß Forscher ausführliche Schlüsse schon unmittelbar aus ihrer graphischen Darstellungsweise zu ziehen wagen; aber es fragt sich noch, wie oft solche Schlüsse einen dauerhaften wissenschaftlichen Fortschritt darstellen! Ein Beispiel dieses mehr intuitiven Forschungsverfahrens liefern» einige von Pearce angegebene Kurven, welche der unsrigen sowohl äußerlich wie innerlich sehr nahe stehen (Archiv f. d. ges. Psychologie, I, S. 47). Aber Pearce (dessen sonstige Ergebnisse ich übrigens sehr schätze) will, statt die »Zick-Zack-Eigenschaft« seiner Kurven mathematisch auf Zufall zurückzuführen, ihr eine wichtige — vorläufig allerdings geheime — Bedeutung zuschreiben.

 
Wenden wir uns jetzt zur Deutung dieses konstanten Fehlers in der Richtung der Längsachse des gereizten Armes. Suchen wir zu bestimmen, welches Glied oder Gelenk dafür verantwortlich ist

    Es könnte zwar von vornherein gegen alle derartigen Bestimmungen überhaupt der Einwand gemacht werden, daß eine Lokalisation immer nur relativ sein kann, während die Bestimmung der Herkunft des Fehlers eine Kenntnis des absoluten Raumes in Anspruch nehmen würde; aber eine solche unvermittelte Hineinziehung der Relativitätstheorie wäre verfrüht und nur irreführend; überall müssen wir uns zunächst so ausdrücken, als ob wir Kenntnis von einem absoluten Raum besäßen. Wenn z. B. der Schütze die Scheibe verfehlt, so behauptet niemand, daß sich die Scheibe verschoben, sondern eben, daß er fehlgeschossen hat.

    Die Fehlerquelle kann nun vierfacher Art sein (s. S. 19): entweder liegt sie am rechten oder am linken Arm, und in beiden Fällen kann sie entweder artikular oder segmental sein. Von diesen vier Möglichkeiten lassen sich zwei ohne weiteres ausscheiden. Eine artikulare Täuschung am linken Arm10) ist schon deshalb nicht anzunehmen, weil dann der Fehler für jede Stellung in nur einer Richtung gelegen hätte, während er doch, wie gesagt, in der Hälfte der Fälle seine Richtung geradezu umkehrt; außerdem müßte dann der Fehler bei gestrecktem Arm (wie in Stellung 1 und 2, Fig. 1) in der Quer- statt in der Längsrichtung liegen. Und ebensowenig ist eine segmentale Täuschung am rechten Arm glaubhaft, da man darunter hauptsächlich eine Über- oder Unterschätzung der Armlänge verstehen müßte, was gar nicht mit der Fehlerrichtung übereinstimmt; und wenn man auch auf der Möglichkeit einer seitlichen Täuschung bestehen wollte (wie sie einer Krümmung des Gliedes entsprechen würde), so müßten wiederum alle Fehler nur nach einer Seite zu liegen.
 
 

    10) Das heißt, eine falsche Schätzung des Gelenkwinkels an der Schulter oder auch am Ellbogen.

    Weniger zu verwerfen ist die artikulare Täuschung des rechten Arms; denn in der Stellung 2, in welcher der linke Vorderarm annähernd eine Tangente zu der Flexionsbewegung des rechten Arms bildet, könnte der beobachtete Fehler ganz wohl daher rühren, daß alle seitlichen Abweichungen des rechten Armes von einer gewissen Mittellage überschätzt würden; aber in den andern Stellungen, 1, 3 und 4, ist diese Auffassung nicht mehr haltbar, da in diesen Fällen die Richtung des Fehlers merklich von der Längsrichtung des linken Vorderarms abweichen müßte, was doch nicht der Fall ist. So bleibt nur die vierte Möglichkeit übrig, eine segmentale Täuschung am linken Arm anzunehmen. Auf diese haben wir übrigens schon hingewiesen, indem wir vorgreifend den Fehler als in der Längsachse des gereizten Gliedes gelegen bezeichnet haben; hiernach ließe sich der Verlauf der Fehler am einfachsten und treffendsten so zusammenfassen, daß eine allgemeine Tendenz stattfand, nach der Mitte des gereizten Unterarms hin zu lokalisieren.

    Auch in der Querachse ist eine analoge zentripetale Tendenz merkbar; denn die ulnare Reihe von Reizstellen lag 40 mm von der radialen Reihe abseits, während die mittlere kreuzweise Entfernung der entsprechenden Lokalisationen nur 38 mm betrug; da aber schon die wahrscheinliche Diskrepanz ± 0,9 mm11), also beinahe die Hälfte der beobachteten Diskrepanz ist, so dürfte auf letztere nicht zu viel Gewicht zu legen sein.

    11) v = 10 mm; n = 240.
 
 

    Unter allen andern scheinbaren Lokalisationstendenzen bietet nur noch eine die erforderliche Beweiskraft; sie besteht in einer allgemeinen Neigung, die Lokalisation um eine Strecke im Betrag von 4 mm12) nach dem radialen Rande des gereizten Vorderarmes zu zu verschieben. An sich ist die Richtung kaum scharf genug bestimmbar, um zu entscheiden, ob wir hier wieder dieselbe Art Täuschung wie vorher haben, oder ob nicht vielmehr die Schuld am rechten suchenden Arm liegt; in der Tat wird die nächste Versuchsgruppe zeigen, daß diesmal die letztere Alternative viel wahrscheinlicher ist, und dass die betreffende Tendenz von einem Mangelin der Methode herrührt, indem die suchende Hand immer von dieser radialen (natürlichen) Richtung herankam (s. S. 43—44).
 
 

    12) ± 0,5 (v = 10, n = 720).
 
 

    Die individuellen Variationen der konstanten Fehler zeigten sich zwar größer ab die des variabeln, aber immerhin als nicht groß genug, um für erwiesen gelten zu dürfen. Als umfassendstes Beispiel hierfür berechnen wir die mittleren konstanten Fehler der gesamten Lokalisation je einer Person; diese bieten dann untereinander eine mittlere Entfernung von ungefähr 5 mm, welches nur doppelt so viel ist wie die durch Zufall wahrscheinliche Entfernung. Auffallender als die eigentlichen Individualitäten sind hier (und auch in allen andern Versuchen) die auf S. 26—27 beschriebenen »systematisch variabeln« Fehler; aber ich wüßte nichts Bestimmtes von ihnen auszusagen, außer daß sie bei gestörter Stimmung der Beobachter stärker hervorzutreten pflegen.
 
 

c. Subjektive Ergebnisse.

    Da die subjektiven Wahrnehmungen sowohl bei den verschiedenen Beobachtern, als auch in den verschiedenen Versuchsserien überraschend kleine Abweichungen zeigen, so können sie gleich jetzt ausführlich beschrieben und bei Schilderung der später folgenden Versuche unnötige Wiederholungen unterlassen werden; nur Ausnahmen oder Änderungen sollen dort erwähnt werden. Wenn es irgend anging, wurden alle solche Wahrnehmungen in der Form freier Erzählung aufgenommen; und wenn gelegentlich direkte Fragen sich unbedingt notwendig machten, so waren diese wenigstens von solcher Form, daß eine Suggestion möglichst vermieden wurde; vor allem wurde angestrebt, die unmittelbaren inneren Beobachtungen möglichst ohne reflexionsmäßige Umgestaltung zu Protokoll zu bringen.

    Der allgemeine Gang der Lokalisation wird von H. folgendermaßen geschildert: »Im ersten Moment der Berührung habe ich eine Vorstellung des Ortes der berührten Hautstelle und des suchenden Stiftes. Ich gehe mit dem Stift in die Nähe der Hautstelle; dann suche ich, indem ich mit dem Stift hin und her fahre, die Stelle, die der Berührung am nächsten zu sein scheint; oder in einer ausgezeichneten Region suche ich etwa die Mitte.«

    Diese Vorstellungen der berührten und suchenden Stellen wurden als unmittelbare Erlebnisse beschrieben; keineswegs entsprangen sie aus Lagenvorstellungen der mehr zentralwärts liegenden Körperteile, da letztere oft ganz konfus, schwankend, oder gar nicht vorgestellt wurden. Eine Beeinflussung der Lokalisation durch »Bewegungsimpulse» konnte nicht beobachtet werden. Der einzige scheinbar einflußreiche Nebenumstand bestand darin, daß mit Annäherung des suchenden Stiftes der Reiz selbst stärker zu werden schien, und diese Verstärkung dann oft als Wegweiser gebraucht wurde.

    Der spezifisch sensorische Charakter der Lagevorstellungen konnte selten als wirklich visuell bezeichnet werden; B., M., P. und S. vermeinten überhaupt, daß sie visuelle Komponenten im normalen Verlauf dieser Lagevorstellungen entdecken könnten; für H. waren sie zwar zeitweise wahrnehmbar, aber auch dann erschienen sie als bloß begleitende und unwesentliche Umstände; meine eigene Erfahrung stimmte mit der von H. überein. Aber dieser Mangel an visuellen Komponenten erzeugte kein entsprechendes Vorherrschen der Tastkomponenten; für die unmittelbare innere Beobachtung waren die Vorstellungen der Glieder großenteils, wie man es ausdrückte, »abstrakt«; fast eher aus logischer Bedrängnis schien es zu geschehen, wenn die meisten Beobachter schließlich zugaben, daß alles doch wirklich entweder visuell oder taktil sein müßte.

    Einstimmig waren die Beobachter darin, daß die Lokalisationsschärfe außerordentlich schwankte, und daß sie durch Änderungen in der Reizintensität gesteigert wurde; während der Berührung wurde die Lokalisation allmählich unklarer, aber im Moment des Aufhörens wurde die Klarheit plötzlich viel größer als selbst am Anfang. Zuweilen hatte die Lagenvorstellung eine überraschende Bestimmtheit, und dann vollzog man die Lokalisation mit entsprechendem Sicherheitsgefühl; dabei aber konnte ganz wohl der aktuelle Fehler sogar abnorm groß ausfallen. Einige Personen glaubten die Richtung vom Kopfe aus besser als die Entfernung schätzen zu können; mit andern Personen war dieses umgekehrt; alle fanden Versuche in Stellungen 3 und besonders 4 schwieriger als in 1 und 2; aber in keinem von diesen Fällen zeigte der aktuelle Fehler eine entsprechende Zu- oder Abnahme13). Auch haben mit wachsender Gewöhnung an die Versuche alle Personen ihre Lokalisationen entsprechend zu verbessern gemeint; dies aber traf objektiv nicht immer zu. Immer jedoch, wenn die Versuchsbedingungen wirklich konstant blieben, und trotzdem die Beobachter im allgemeinen besser oder schlechter zu lokalisieren glaubten, dann entsprachen dieser subjektiven Meinung auch regelmäßig die objektiven Messungen.
 
 

    13) Für die Stellungen 1, 2, 3 bzw. 4 waren die mittleren Fehler 16,2, 17,2, 15,7, bzw. 16,8 nun. (± 0,88, da n = 120 und v = 17,6 im Durchschnitt; man sieht, daß, wie gewöhnlich, die durch Berechnung zu erwartenden Schwankungen ein wenig größer als die tatsächlich beobachteten ausfallen; s. S. 25).

    In diesen Versuchen traten außer dem konstanten Fehler auch einige Täuschungen, und zwar mehr qualitativer Art zutage. Die frappanteste war die schon erwähnte scheinbare Verstärkung des Reizes bei Annäherung des suchenden Stiftes; zuerst glaubte ich, daß der Druck des Stiftes auf dem Drahtnetz der reizenden Spitze wirklich mechanisch mitgeteilt würde; dagegen aber fand ich, daß die scheinbare Verstärkung ebenso auffallend blieb, wenn man den Stift möglichst leise ansetzte, und auch dann, wenn die Lokalisation ganz falsch war; in späteren Versuchen (besonders den »aktiv-aktiven» und den schmerzhaften, S. 57 und 81) wurde jeder Zweifel aufgehoben; denn die Täuschung wiederholte sich noch stärker, unter Bedingungen, wo mechanische Übertragung absolut unmöglich war. In dieser Erscheinung läßt sich der Unterschied zwischen assoziativer und logischer Täuschung besonders deutlich und lehrreich beobachten; denn eine Täuschung der ersten Art wirkt als Ursache, eine logische Täuschung dagegen ist die Folge des scheinbaren Druckzuwachses; der Zuwachs nämlich scheint dem Beobachter eine unmittelbare Bewußtseinstatsache zu sein (erst nachträglich suchen wir diese Tatsache durch Assoziation mit der Annäherungsvorstellung zu erklären); aber sobald er den Zuwachs empfindet, so schließt er rückwirkungsweise — blitzschnell, jedoch bewußt —, daß die Annäherung wirklich geschieht.

    Eine andere interessante Täuschung war folgende: Gewöhnlich erzeugten die sukzessiven Reize Tast-, Kälte- und Schmerzempfindungen in bunter Abwechslung; zuweilen aber erzeugte ein einziger Reiz sowohl Kälte, als auch Schmerzempfindung, und zwar an verschiedenen Orten; bei einer solchen Gelegenheit konnte ich konstatieren, daß die Lokalisation des Schmerzes gut mit dem Reize übereinstimmte, während die der Kälte ungefähr 3 cm entfernt war.

    Eine weitere beobachtete Täuschung bestätigte eine Mitteilung von Henri, indem der Beobachter H. erklärte, er hätte die Tendenz, den gereizten Arm viel zu niedrig liegend vorzustellen.

    Zum Schluß muß ich auf einen Umstand aufmerksam machen, welcher den Versuchspersonen die Möglichkeit gab, ihre Fehler teilweise kennen zu lernen, und weshalb die ganze Versuchsserie als »halbwissentlich« bezeichnet werden mußte. Nach jeder Lokalisation nämlich durfte der Beobachter die Augen öffnen; dabei bekam er zwar keineswegs eine Kenntnis der wirklich gereizten Hautstelle, da das feine Drahtnetz alle Spuren des Reizes auf der Hand völlig verdeckte; wohl aber konnte er bemerken, welche Stellung der ganze Arm erhalten hatte, und dadurch die Lagenvorstellung davon zugunsten des nächsten Versuches korrigieren; und das Eintreten solcher Korrektion ist meines Dafürhaltens noch lange nicht dadurch widerlegt, daß keine Person sie beabsichtigte oder bemerkte. Da eine solche Korrektion nicht die Hautstelle, sondern nur die Gliedstellung traf, so war sie geeignet, wohl die obige segmentale Täuschung hervortreten zu lassen, aber dabei die etwa vorhandene Tendenz zu einer artikularen Täuschung einstweilen unwirksam zu machen. Infolge solcher Erwägungen änderte ich nunmehr die Versuchsbedingungen dahin um, daß die Beobachter die Augen die ganze Zeit geschlossen hielten; und dabei trat in der Tat eine artikulare Täuschung von solcher Größe hervor, daß die segmentale jetzt davon völlig überdeckt wurde; nur in zwei weiteren Versuchsgruppen wurde die erstere Täuschung wieder beseitigt, so daß die segmentale nochmals rein zutage trat. Diese zwei Versuchsgruppen wollen wir von der chronologischen Reihe abtrennen und gleich jetzt näher untersuchen.

2. Die Täuschung nach Übung.

    Die jetzt zu besprechende Versuchsgruppe lag in Wirklichkeit nach der zehnten (s. S. 60); denn erst dann hatte ich wieder Gelegenheit, unter Ausschluß des artikularen Fehlers zu experimentieren; ich erlangte dessen Unterdrückung durch die mittels Blicklokalisation gewonnene Übung. Die Versuchseinrichtung ist auf S. 50—51 beschrieben; sie unterschied sich von den vorigen Versuchsanordnungen im wesentlichen dadurch, daß die Augen der Beobachter die ganze Zeit verbunden waren; auch wurde der auf S. 33 gerügte Mangel beseitigt, indem jetzt die suchende Hand sich der gereizten Hautstelle von jeder der vier Hauptrichtungen gleich oft näherte.

    Der erste Beobachter, S., wurde 16mal an jeder von fünf Stellen der dorsalen Fläche des linken Vorderarms und der Hand in unregelmäßiger Reihenfolge gereizt. Die mittleren Lokalisationen für jede Stelle sind in Fig. 3(a) dargestellt; die wahrscheinliche Abweichung beträgt 5 mm14), also nur ungefähr ein Fünftel der jetzt wieder auftretenden zentripetalen Tendenz an beiden Enden des Unterarmes (Hand mit eingeschlossen).

    14) v = 21 mm; n = 16.

    Dieselbe Person wurde nach einer längeren Pause an vier Stellen des Oberarms gereizt. Fig. 3(b) stellt die mittleren Lokalisationen dar15); offenbar ist die zentripetale Tendenz noch stärker als vorhin.

15) Mit einer wahrsch. Abw. von 4 mm (v = 18; n = 19).
 
 
    Es blieb noch übrig, festzustellen, ob diese Tendenz sich nur auf das Zentrum des Gliedabschnittes als solchen bezog, oder ob sie sich auf das Zentrum irgendeines beliebigen gereizten Hautgebietes erstreckte; zu diesem Zwecke wurde nun ein anderer Beobachter H. den ganzen Arm entlang, wieder in unregelmäßiger Reihenfolge, gereizt. Die mittleren Lokalisationen sind in Fig. 4 dargestellt16) ; deutlich genug hat das Experiment gezeigt, daß das Anziehungszentrum nicht an anatomische Verhältnisse gebunden ist, sondern sich nach dem jeweilig gereizten Gebiet richtet.
 
  16) Mit einer wahrsch. Abw. von 6 mm (v = 19; n = 9).
 
    Interessant ist, zu beobachten, daß trotz der langen vorangegangenen Übung die variabeln Fehler sogar etwas größer als die derselben Personen in der ersten » halbwissentlichen « Versuchsgruppe sind17): die Bedingungen sind zwar etwas, aber doch nicht viel günstiger.
 
 

    17) Hier sind sie 21, 18 und 19 mm; dort waren sie 18 und 17.
 
 

    In dieser Versuchsgruppe hatte H. eine Doppelempfindung von merkwürdig regelmäßigem Verlauf; er erklärte nämlich, daß er bei jeder Reizung des Oberarms zwei deutlich voneinander verschiedene Empfindungen habe, eine stärkere, ihm nähere (diese wurde lokalisiert, und entsprach vermutlich dem wirklichen Reiz), und eine schwächere entferntere; die letztere habe einen seltsam einheitlichen Charakter. Den weiteren Verlauf der Erscheinung beschrieb er folgendermaßen: »Die beiden Empfindungen scheinen am Schultergelenk viel weiter voneinander entfernt zu sein, als am Ellenbogen, die subjektive Schätzung der Entfernung bewegt sich zwischen 8 und 2 cm. Die Entfernung der beiden Empfindungen nimmt von der Schulter nach dem Ellenbogen zu ab, und zwar in regelmäßiger Weise, bis beide am Ellenbogen in eine Empfindung verschmelzen.«
 
 

3. Wissentliches Verfahren.

    Nur noch in einer der von mir durchgeführten Versuchsgruppen geschahen die Lokalisationen an verschiedenen benachbarten Hautstellen und unter Beseitigung der sonst alles überdeckenden artikularen Täuschung, und zwar im Verlaufe der auf S. 60 beschriebenen Versuche. Hier wurde nicht in unregelmäßiger Reihenfolge gereizt, sondern zuerst wurde der Finger abgefertigt, dann der Handrücken, und so ging es weiter bis zur Schulter. Die nachträgliche Kenntnis des vom Beobachter begangenen Fehlers wurde ihm diesmal in möglichst genauer Weise vermittelt; als Vorübung machte der Beobachter H. sechs sukzessive Lokalisationen des Reizes am Finger, und jedesmal wurde ihm der begangene Fehler sofort gezeigt; dabei verschwand ganz allmählich ein anfangs 90 mm großer konstanter Fehler, ohne daß der Beobachter ihn zu korrigieren beabsichtigte; die räumliche Änderung fand in dem unmittelbaren Empfindungserlebnis statt. Nachher kamen die gültigen Versuche, wo an jedem Ort erst viermal mit nachträglicher Mitteilung des Fehlers und dann viermal ohne diese lokalisiert wurde.

    Die mittleren Lokalisationen sind in Fig. 5 dargestellt18); bei den Versuchen, wo der Beobachter von dem (unmittelbar) vorhergehenden Fehler Kenntnis genommen hatte, besaß der konstante Fehler (im Durchschnitt für den ganzen Arm) eine Größe von 21 mm19); ohne diese betrug er 29 mm20); in beiden Fällen war die Richtung des Fehlers dieselbe.

    18) Mit einer wahrsch. Abw. von 6 mm (v = 18,3; n = 8).

    19) Mit einer wahrsch. Abw. von 3 mm (v = 18,3; n = 36).

    20) Mit einer wahrsch. Abw. von 3 mm (v = 18,4; n = 36).
 
 

    Am Finger ist der konstante Fehler vieldeutig; er könnte wieder derselben Natur wie in den Fig. 3 und Fig. 4 sein, nur von Lokalisationen an früheren Tagen beeinflußt, oder er konnte ein Rest der artikularen Täuschung sein; er könnte endlich auch bloß ein »systematisch variabler« Fehler, oder selbst reines Zufallsergebnis sein21). Aber wenn wir nur den fortschreitenden Gang des Fehlers ins Auge fassen, so leuchtet ein, daß, je weiter die Versuche gegen die Schulter hinauf steigen, der Fehler desto entschiedener von einer proximalen in eine distale Richtung übergeht; wir haben also ganz dasselbe Phänomen wie in den obigen Versuchsgruppen; auch die numerische (unkorrigierte) Korrelation beträgt hier 0,8822), also fast genau dasselbe, wie die früher berechnete (S. 31). Besonders lehrreich ist diese Versuchsgruppe in bezug auf die Dauer der Beeinflussung durch vorhergehende Lokalisationen. Denn wenn diese Dauer ganz kurz wäre, so hätte die distale Tendenz schon beim ersten Wechsel der Reizstelle (also am Handgelenk) ihr Maximum erreichen müssen; aber man sieht im Gegenteil, daß, während die Versuche durch die ganze Sitzung gegen die Schulter fortschreiten, gleichzeitig auch die distale Tendenz in fortwährendem Wachstum begriffen ist. Alles deutet darauf hin, daß die täuschende Beeinflussung der vorhergehenden Lokalisationen wenigstens durch eine ganze Stunde hindurch nachwirkt.

    21) Denn der Betrag ist nur dreimal so groß wie die wahrscheinliche Abweichung.

    22) ± 0.04

    Da nun eine ganz ähnliche zentripetale Tendenz23) auch an allen andern Körperteilen vorzuliegen scheint (vgl. z. B. S. 68), so möchte ich schließlich die Ergebnisse in bezug auf die segmentale Täuschung in möglichst hypothesenfreien Ausdrücken zusammenfassen und als vorläufiges empirisches Gesetz folgendes aufstellen:

    Folgen an benachbarten Hautstellen mehrere Lokalisationsversuche aufeinander, so entwickelt sich allmählich eine starke, dauerhafte Verschiebung der Lokalisationstendenz nach dem Zentrum des gereizten Hautgebietes zu.
 
 

    23) Mit dieser zentripetalen Tendenz dürften wohl auch die merkwürdigen Doppelempfindungen von H. einen Zusammenhang haben.