1.
Nach Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift waren die Meinungen über dieselbe sehr geteilt. Die Anerkennung betraf aber in der überwiegenden Zahl der Fälle Einzelheiten, während die Grundansicht, welche zur ersteren geführt hatte, meist verworfen wurde. Die öffentliche Kritik1), so weit sie mir bekannt geworden ist, blieb übrigens auch in der Ablehnung maßvoll und war in ihrer Aufrichtigkeit für mich sehr lehrreich.
2.
Wenn wir uns keinen Zwang antun, sehen wir die Erde feststehend, die Sonne aber und den Fixsternhimmel bewegt. Diese Auffassung ist für gewöhnliche praktische Zwecke nicht nur ausreichend, sondern sie ist auch die einfachste und vorteilhafteste. Die entgegengesetzte Ansicht hat sich aber für gewisse intellektuelle Zwecke als die bequemere bewährt. Obgleich beide gleich richtig und in ihrem Gebiet zweckmäßig sind, hat sich die zweite nur nach hartem Kampfe gegen eine der Wissenschaft widerstrebende Macht, welche hier mit der instinktiven Auffassung des gemeinen Mannes im Bunde war, geltend machen können. Die Zumutung, sich auf der Sonne statt auf der Erde stehend als Beobachter zu denken, ist nun aber nur eine Kleinigkeit gegen die Forderung, sein Ich für nichts zu achten, dasselbe in eine vorübergehende Verbindung von wechselnden Elementen aufzulösen. Diese letztere Auffassung ist ja längst von verschiedenen Seiten vorbereitet2). Wir sehen solche Einheiten, welche wir Ich nennen, bei der Zeugung entstehen und durch den Tod verschwinden. Wollen wir nicht die heute schon abenteuerliche Fiktion uns erlauben, daß diese Einheiten latent schon vorher vorhanden waren und ebenso nachher fortbestehen, so können wir nur annehmen, daß es eben temporäre Einheiten sind. Die Psychologie und die Psychopathologie lehrt uns, daß das Ich wachsen und sich bereichern, verarmen und schrumpfen, sich fremd werden und sich spalten, kurz schon während des Lebens sich bedeutend ändern kann. Trotz alledem ist das Ich für meine instinktive Auffassung das Wichtigste und Beständigste. Es ist das Band aller meiner Erlebnisse und die Quelle aller meiner Tätigkeit. So ist auch ein starrer Körper für die rohe instinktive Auffassung etwas sehr Beständiges. Wird derselbe geteilt, aufgelöst, mit einem andern chemisch verbunden, so vermehrt und vermindert sich die Anzahl dieser Beständigkeiten. Wir nehmen jetzt, um den liebgewordenen Gedanken um jeden Preis festzuhalten, latente Beständigkeiten an, wir flüchten uns in die Atomistik. Da wir den verschwundenen oder veränderten Körper oft wieder restituieren können, so beruht dies hier auf etwas besseren Gründen, als in dem obigen Falle.
3.
Wer einmal unter dem Einflusse Kants gestanden, einen idealistischen
Standpunkt eingenommen hat, und den Gedanken des Dinges an sich nicht bis
zu den letzten Spuren losgeworden ist, bei dem bleibt eine gewisse Neigung
zum Solipsismus zurück, die mehr oder weniger deutlich hervortritt.
Ich kenne diesen Zustand sehr wohl aus meiner frühen Jugend, und finde
denselben begreiflich. Der philosophische Denker macht dann das einzige
prinzipiell unlösbare Problem des Ich zum Ausgangspunkt für alle
übrigen. Das ist uns gegeben, darüber können wir nicht hinaus.
Wenn daher spekulative Philosophen sagen: "Der Solipsismus ist der einzige
konsequente Standpunkt", so wird dies verständlich aus ihrem Streben
nach einem abgeschlossenen, allumfassenden, fertigen System der Weltauffassung.
Ebenso konsequent, muß man allerdings sagen, ist auch der Materialismus
für jenen, der glaubt, daß die Materie das einzige unmittelbar
Gegebene, nicht weiter zu Enträtselnde sei. Dies gilt eben von jedem
System. Sagt mir aber ein Naturforscher, der Solipsismus sei der einzige
konsequente Standpunkt, so erregt dies meine Verwunderung. Ich will gar
nicht darauf Gewicht legen, daß dieser Standpunkt besser für
einen beschaulich dahinträumenden Fakir paßt, als für einen
ernst denkenden und aktiven Menschen. Ich glaube, aber, daß ein Naturforscher
durch diese Wendung die philosophische Denkweise mit der naturwissenschaftlichen
vertauscht. Der Naturforscher sucht keine vollendete Weltanschauung; er
weiß schon, daß all' seine Arbeit die Einsicht nur erweitern
und vertiefen kann. Für ihn gibt es kein Problem, dessen Lösung
weiterer Vertiefung nicht bedürftig wäre, aber auch keines, das
er als absolut unlösbar betrachten müßte. Ist ein Problem
derzeit unangreifbar, so löst er einstweilen andere, welche zugänglicher
sind. Kehrt er dann zu ersterem zurück, so hat es in der Regel viel
von seiner abschreckenden Physiognomie verloren.
Gewiß ist das Ich nicht erschöpft, wenn
man, ganz vorläufig, sagt, es bestehe in einem eigenartigen Zusammenhang
der Elemente, so lange die Art dieses Zusammenhanges im einzelnen nicht
erforscht ist. Aber die hierher gehörigen Einzelprobleme wird nicht
die Spekulation lösen, sondern die Lösung wird zunächst
den Psychologen, Physiologen und Psychiatern zufallen, welchen wir manche
wichtige Aufklärung über dieselben schon verdanken. Der physische
Untergrund des Ich, der Leib3), wird die
Anhaltspunkte liefern, welche die introspektive Psychologie nur sehr unvollständig
beschaffen kann. Der solipsistische Naturforscher würde einem Physiker
gleichen, für welchen das Thermometer das Grundproblem der Welt wäre,
weil er heute die Ausdehnung durch die Wärme noch nicht vollständig
durchschaut. Der solipsistische Philosoph hingegen scheint mir dem Manne
nachzuahmen, der sich das Umdrehen abgewöhnt hat, weil das, was er
sieht, doch immer nur sein Vorn ist. Über die unhaltbare instinktive
Spaltung des Ich in ein erlebtes Objekt und ein aktives oder beobachtendes
Subjekt, die jeden lange genug quält, der diesen Fragen denkend näher
tritt, vergl. Kap. I.
Wer von dem Ich als einer Realität, die allem zu Grunde liegt, nicht abzusehen vermag, der wird auch nicht umhin können, zwischen meinen Empfindungen und deinen Empfindungen einen fundamentalen Unterschied zu machen. So erscheinen dem, der an die absolute Beständigkeit des Körpers glaubt, alle Eigenschaften als diesem einen Träger angehörig. Wenn aber dieses silberweiße Stück Natrium schmilzt, sich in Dampf auflöst, der dem ursprünglichen Ding gar nicht mehr ähnlich sieht, wenn das Natrium in verschiedene Partien geteilt, in verschiedene chemische Verbindungen übergeführt wird, so daß mehr oder auch weniger Körper vorhanden sind als vorher, so läßt sich die gewohnte Denkweise nur mehr äußerst künstlich aufrecht halten. Es wird dann vorteilhafter, dieselben einzelnen Eigenschaften als bald diesem, bald jenem Komplex (Körper) angehörig anzusehen, und an die Stelle der nicht beständigen Körper das beständige Gesetz treten zu lassen, welches den Wechsel der Eigenschaften und ihrer Verknüpfungen überdauert. Die Zumutung, diese neue Denkgewohnheit anzunehmen, ist wieder keine geringe. Wie würden sich die antiken Forscher gesträubt haben, wenn man ihnen gesagt hätte: "Erde, Wasser, Luft sind gar keine beständigen Körper, sondern das Beständige sind die in denselben steckenden heutigen chemischen Elemente, von welchen viele nicht sichtbar, andere sehr schwer isolierbar oder aufbewahrbar sind. Das Feuer ist gar kein Körper, sondern ein Vorgang usw." Die große Wandlung, welche in diesem Schritt liegt, vermögen wir kaum mehr richtig abzuschätzen. Doch bereitet sich in der heutigen Chemie die Fortsetzung dieser Wandlung vor, und dieselben Wege der Abstraktion führen in ihrem Verlauf zu dem hier eingenommenen Standpunkte. So wenig ich nun das Rot oder Grün als einem individuellen Körper angehörig betrachte, so wenig mache ich auf dem Standpunkt, den ich zur allgemeinen Orientierung hier einnehme, einen wesentlichen Unterschied zwischen meinen Empfindungen und den Empfindungen eines andern. Dieselben Elemente hängen in vielen Verknüpfungspunkten, den Ich, zusammen. Diese Verknüpfungspunkte sind aber nichts Beständiges. Sie entstehen, vergehen und modifizieren sich fortwährend. Was aber augenblicklich nicht verknüpft ist, beeinflußt sich eben nicht merklich. Meine Auffassung wird nicht davon affiziert, ob es gelingen mag, oder nicht gelingen mag, durch eine Nervenverbindung fremde Empfindungen in mich hinüberzuleiten. Die bekanntesten Tatsachen sind für diese Auffassung eine genügende Basis.
5.
Vielleicht noch mehr als die Grundgedanken hat vielen Lesern der allgemeine Charakter meiner Weltauffassung widerstrebt, welchen sie, freilich irrtümlich, zu erkennen glaubten. Da muß ich nun zunächst sagen, daß derjenige gewiß von der richtigen Würdigung meiner Ansicht sehr weit entfernt ist, welcher dieselbe trotz wiederholter Proteste von meiner und auch von anderer Seite mit der Berkeleyschen identifiziert4). Etwas liegt ja daran, daß meine Ansicht aus einer idealistischen Phase hervorgegangen ist, welche noch Spuren in den Ausdrücken zurückgelassen hat, die auch nicht ganz verwischt werden sollen. Denn der bezeichnete Weg zu meinem Standpunkt scheint mir der kürzeste und natürlichste. Hiermit hängt es auch zusammen, daß meine Leser mitunter die Scheu vor dem Panpsychismus ergreift. In dem verzweifelten Kampf einer einheitlichen Weltauffassung gegen das instinktive dualistische Vorurteil verfällt mancher dem Panpsychismus. Ich hatte in früher Jugend solche Anwandlungen durchzumachen, und Avenarius laboriert noch in seiner Schrift von 1876 daran. In bezug auf diese beiden Punkte empfinde ich es geradezu als ein Glück, daß Avenarius dieselbe Auffassung von dem Verhältnis des Physischen und Psychischen auf ganz realistischer (wenn man will, materialistischer) Grundlage entwickelt hat, so daß ich auf seine Ausführungen einfach verweisen kann.
Nicht nur den Naturforschern, sondern auch den Fachphilosophen scheint meine Welt aus Elementen (Empfindungen) zu luftig. Daß ich die Materie als ein Gedankensymbol für einen relativ stabilen Komplex sinnlicher Elemente betrachte, wird als eine geringschätzige Auffassung bezeichnet. Die Außenwelt sei als eine Summe von Empfindungen nicht genügend erfaßt, man müsse zu den wirklichen Empfindungen mindestens noch die Empfindungsmöglichkeiten Mills einführen. Dagegen muß ich bemerken, daß auch für mich die Welt keine bloße Summe von Empfindungen ist. Vielmehr spreche ich ausdrücklich von Funktionalbeziehungen der Elemente. Damit sind aber die Mi1lschen "Möglichkeiten" nicht nur überflüssig geworden, sondern durch etwas weit Solideres, den mathematischen Funktionsbegriff, ersetzt. Hätte ich geahnt, daß ein kurzer präziser Ausdruck so leicht übersehen wird, und daß eine breite populäre Darstellung bessere Dienste tut, so würde mir eine Darstellung entsprochen haben, wie sie etwa H. Cornelius5), "über den Begriff der objektiven Existenz" in vorzüglicher Weise gibt. Allerdings würde ich auch hier den Ausdruck Möglichkeit vermieden und dafür den Funktionsbegriff verwendet haben.
5) Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Leipzig 1897, S. 99 und insbesondere S. 110 u. 111.
Von anderer Seite läßt man durchblicken, daß meine Position aus einer überwiegenden Sinnlichkeit und entsprechend geringem Verständnis für den Wert der Abstraktion und des begrifflichen Denkens zu verstehen sei. Nun, ohne starke Sinnlichkeit kann der Naturforscher nicht viel verrichten. Dieselbe hindert ihn aber nicht, klare und scharfe Begriffe zu bilden. Im Gegenteil! Die Begriffe der heutigen Physik können sich an Präzision und Höhe der Abstraktion mit jenen irgend einer andern Wissenschaft messen, bieten aber zugleich den Vorteil, daß man sie immer leicht und sicher bis zu den sinnlichen Elementen, auf welche sie aufgebaut sind, zurückverfolgen kann. Für den Naturforscher ist die Kluft zwischen der anschaulichen Vorstellung und dem begrifflichen Denken nicht so groß und nicht unüberbrückbar. Nebenbei möchte ich bemerken, daß ich über die physikalischen Begriffe keineswegs geringschätzig denke, sondern seit fast vier Dezennien mich vielfach und eingehender, als es zuvor geschehen ist, mit deren Kritik beschäftigt habe. Und da die Ergebnisse dieser Beschäftigung nach langem Widerstreben bei den Physikern allmählich Zustimmung finden, so möchte diese doch wenigstens keine leichtfertige sein. Wenn aber der Physiker, der von Haus aus gewöhnt war, zu jeder Definition ein Kilogewicht in die Hand gedrückt zu bekommen, sich allmählich mit Definitionen zufrieden gibt, die alle auf eine Funktionalbeziehung sinnlicher Elemente hinauslaufen, so wird wohl auch der Philosoph nicht noch physikalischer sein wollen. Die betreffenden Einzelausführungen können aber natürlich nicht in dieser Skizze Platz finden, welche nur ein Programm für den Anschluß der exakten Wissenschaften aneinander sein will, sondern nur in den physikalischen Schriften des Verfassers. Die Kenntnis dieser Schriften auch nur bei jedem Physiker, geschweige denn bei dem Fache Fernerstehenden vorauszusetzen, wäre ja höchst unbescheiden. Mit dieser Unkenntnis hängt es aber zusammen, daß man mir z. B. zumutet, die "Spontaneität" und "selbständige Gesetzlichkeit" des Denkens gänzlich übersehen zu haben. Auch den bloßen Empfindungen gegenüber verhalten wir uns ja nicht nur passiv, sondern dieselben lösen eine biologische Reaktion aus, deren natürliche Fortsetzung eben die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen ist. Würde letztere sofort vollkommen gelingen, so wäre hier der Prozeß wohl zu Ende. Da aber verschiedene unvollkommen angepaßte Gedanken mit einander in Widerstreit geraten, so setzt sich der biologische Prozeß fort. Es findet das statt, was ich die Anpassung der Gedanken aneinander genannt habe. Ich möchte nun wirklich wissen, welcher Prozeß der wissenschaftlichen Entwicklung, die logische eingeschlossen, hierin nicht einbegriffen wäre? Man erlaube mir, diese Gegenreden, in welchen ich nur längst und oft Gesagtes wiederholen müßte, vorläufig hier abzubrechen.
7.
Manchen Lesern erscheint die Welt in meiner Auffassung als ein Chaos,
ein unentwirrbares Gewebe von Elementen. Sie vermissen die leitenden einheitlichen
Gesichtspunkte. Dies beruht aber auf einem Verkennen der Aufgabe meiner
Schrift. Alle wertvollen Gesichtspunkte der Spezialwissenschaften und der
philosophischen Weltbetrachtung bleiben weiter verwendbar und werden auch
von mir verwendet. Die scheinbar destruktive Tendenz ist lediglich gegen
überflüssige und deshalb irreführende Zutaten zu unseren
Begriffen gerichtet. So glaube ich gerade den Gegensatz des Psychischen
und Physischen, des Subjektiven und Objektiven, richtig auf das Wesentliche
zurückgeführt und zugleich von traditionellen abergläubischen
Auffassungen gereinigt zu haben. Hierbei werden wissenschaftlich bewährte
Gesichtspunkte nicht alteriert und für neue wird zugleich Raum gewonnen.
Ich will auch nicht das elegisch oder fromm jammernde ,Ignorabimus' durch
eine selbstgenügsame verstockte Abkehr von Wissenswertem und Erkennbarem
ersetzen. Denn im Verzichten auf die Beantwortung als sinnlos erkannter
Fragen liegt durchaus keine Resignation, sondern der Masse des wirklich
Erforschbaren gegenüber das einzig vernünftige Verhalten des
Forschers. Kein Physiker wird heute, wenn er das Perpetuum mobile nicht
mehr sucht, kein Mathematiker, wenn er um die Quadratur des Zirkels oder
um die Lösungen der Gleichungen fünften Grades in algebraischer
geschlossener Form sich nicht mehr bemüht, darin Resignation sehen
wollen. So ist es auch in allgemeineren philosophischen Fragen. Die Probleme
werden entweder gelöst oder als nichtig erkannt.
Wo steckt der Fehler oder die Einseitigkeit in Machs
philosophischen Ansichten? Ich finde diese Frage eines meiner Kritiker
sehr milde. Denn ich bin überzeugt, daß meine Ausführungen
in mehr als einer Richtung sehr mangelhaft sind. Dies kann auch bei radikaleren
Umwandlungsprozessen der Ansichten kaum anders sein. Dieselben spielen
sich auch in einem Kopfe nie vollständig ab. Ich kann darum diese
Mängel auch nur fühlen aber nicht aufzeigen. Ich wäre ja
sonst ein gutes Stück weiter. Aber auch aus den Schriften meiner Kritiker
sind mir dieselben nicht klar geworden. Warten wir also noch ein wenig!
Daraus, daß meinen Ansichten Argumente entgegen
gehalten werden, die in diesem Buche und in anderen meiner Schriften ausführlich
erörtert sind, möchte ich keinem Menschen einen Vorwurf machen.
Es muß ja eine wahre Qual sein, die Masse des Erscheinenden lesen
und noch dazu in knapp zugemessener Zeit mit pflichtmäßiger
Überlegenheit beurteilen zu müssen. Ich habe für diesen
wichtigen Beruf nie Geschmack verspürt und habe deshalb in 40 Jahren
wohlgezählte 3 Rezensionen geschrieben. Es sei also den Herren gegönnt,
daß sie sich, wenn auch zum Teil auf meine Kosten, die Pein erleichtert
haben. Man wird mir hoffentlich dafür auch nicht übelnehmen,
daß ich nicht auf jeden Ausfall, auf jeden vermeintlich gut angebrachten
Sarkasmus reagiere.
Seither hat noch Hönigswald in einer
eigenen Schrift (Zur Kritik der Machschen Philosophie, Berlin 1903)
sich mit meinem Standpunkt beschäftigt. Ich muß nun anerkennen,
daß Hönigswald sich die Mühe nicht hat verdrießen
lassen, meine Schriften zu lesen; auch habe ich gegen das Ergebnis einer
Kritik, daß nämlich mein Standpunkt mit dem Kantschen
unverträglich ist, nicht das mindeste einzuwenden. Freilich werden
kaum alle Philosophen hiernach schon annehmen, daß mein Standpunkt
überhaupt unhaltbar ist. Mit Kant ist es mir eben eigentümlich
ergangen. Sein kritischer Idealismus war, wie ich in größter
Dankbarkeit anerkenne, der Ausgangspunkt meines ganzen kritischen Denkens.
Es war mir aber unmöglich denselben beizubehalten. Vielmehr habe ich
mich sehr bald den Ansichten Berkeleys wieder genähert, welche
in Kants Schriften mehr oder weniger latent enthalten sind. Durch
sinnesphysiologische Studien und durch Herbart kam ich zu Auffassungen,
verwandt den Humeschen, ohne damals Hume noch zu kennen.
Auch heute noch muß ich Berkeley und Hume gegenüber
Kant als die weitaus konsequenteren Denker ansehen. Es kann nicht
die Aufgabe eines Naturforschers sein, einen Philosophen wie Kant,
der aus den Zeit Verhältnissen beurteilt werden muß, zu kritisieren
oder zu widerlegen. Nebenbei gesagt wäre es auch keine große
Heldentat mehr, die Unzulänglichkeit der Kantschen Philosophie
zur Leitung der modernen Naturforschung aufzuzeigen. Das ist ja durch die
Fortschritte auf allen Gebieten, auch auf dem der Philosophie, längst
geschehen. Hönigswald verkennt gänzlich die vorsichtig
versuchende Näherungsmethode des Naturforschers, wenn er aus den Äußerungen
allgemeinerer Gesichtspunkte gleich ein abgeschlossenes philosophisches
System herausliest. Des Naturforschers Beständigkeiten sind keine
absoluten, die von ihm untersuchten Änderungen entsprechen aber auch
nicht dem schrankenlosen Heraklitschen Fluß. Ich nenne biologische
Ziele praktisch, sobald sich dieselben nicht auf die reine Erkenntnis als
Selbstzweck beziehen. Man bedenke, in welche Lage der Naturforscher käme,
wenn er vor Beginn seines Denkens jedes philosophische System einzeln widerlegen
sollte. Noch einmal: Es gibt keine Machsche Philosophie!6).
6) Vgl. Erkenntnis und Irrtum, 1905, Vorwort.
8.
Ob es mir jemals gelingen wird, den Philosophen meine Grundgedanken plausibel zu machen, muß ich dahin gestellt sein lassen. Bei aller Hochachtung vor der riesigen Geistesarbeit der großen Philosophen aller Zeiten ist mir dies zunächst auch weniger wichtig. Aufrichtig und lebhaft wünsche ich aber eine Verständigung mit den Naturforschern, und diese halte ich auch für erreichbar. Ich möchte denselben nur zu bedenken geben, daß meine Auffassung alle metaphysischen Fragen ausschaltet, gleichgültig, ob sie nur als gegenwärtig nicht lösbar oder überhaupt und für immer als sinnlos angesehen werden. Ferner möchten dieselben erwägen, daß alles, was wir von der Welt wissen können, sich notwendig in den Sinnesempfindungen ausspricht, welche in genau angebbarer Weise von den individuellen Einflüssen der Beobachter befreit werden können (vgl. Kap. IVX). Alles was wir zu wissen wünschen können, wird durch Lösung einer Aufgabe von mathematischer Form geboten, durch die Ermittlung der funktionalen Abhängigkeit der sinnlichen Elemente von einander. Mit dieser Kenntnis ist die Kenntnis der "Wirklichkeit" erschöpft. Die Brücke zwischen der Physik im weitesten Sinne und der naturwissenschaftlichen Psychologie bilden eben dieselben Elemente, welche je nach dem untersuchten Zusammenhang physische oder psychische Objekte sind.
9.
Manche, wahrscheinlich viele Physiologen dürften an meiner Stellung in einer Detailfrage Anstoß genommen haben, über die ich noch einige Worte sagen möchte. Ich schätze Untersuchungen wie jene von S. Exner7) hoch und glaube, daß viele wichtige Fragen betreffend die psychischen Erscheinungen gelöst werden können durch bloße Erforschung der nervösen Verbindungen der Zentralorgane8) und Beachtung der quantitativen Abstufungen9) der Erregungen. Exners Buch selbst gibt ja dafür einen Beleg. Die Hauptprobleme bleiben mir aber ungelöst zurück. Denn ich kann mir auf meinem Standpunkt nicht denken, wie die qualitative Mannigfaltigkeit der Empfindungen durch Variation der Verbindungen und bloße quantitative Verschiedenheiten zustande kommen sollte, und ich konnte dies schon vor fast 40 Jahren nicht. Fechners Psychophysik, welche so bedeutend gewirkt hat, hat auch mich damals mächtig angeregt. Ich hielt, durch dieses Buch begeistert, über diesen Gegenstand recht mangelhafte Vorlesungen, welche noch dadurch an Wert verloren, daß ich den Fechnerschen Gedanken der Maßformel bald als einen Irrtum erkannte. Bei dieser Gelegenheit sagte ich, nachdem die Helmholtzsche Telegraphendraht-Theorie der Empfindungen auseinandergesetzt war: "Sollten aber die elektrischen Vorgänge in den Nerven zu einfach sein, um für eine Erklärung (verschiedener Empfindungsqualitäten) auszureichen? Sollte es notwendig sein, die Erklärung hinauszuschieben in noch unbekannte Gebiete? Wie denn, wenn wir nach Durchforschung des ganzen Hirnes überall nur elektrische Ströme finden? Meine unmaßgebliche Meinung ist diese: Die elektrischen Untersuchungen der Nerven sind gewiß sehr feiner Art, in gewisser Hinsicht sind sie aber auch wieder sehr grob. Ein elektrischer Strom von gegebener Intensität sagt uns nichts, als daß eine bestimmte Quantität lebendiger Kraft in der Zeiteinheit durch den Querschnitt des Stromes wandert. Welche Vorgänge und Molekularbewegungen es sind, die jene lebendige Kraft befördern, wissen wir nicht. Es können die verschiedensten Vorgänge derselben Stromintensität zu Grunde liegen10). Diesen Gedanken bin ich bis heute nicht los geworden und muß denselben im wesentlichen noch ebenso, etwa durch Hinweis auf denselben Strom in verschiedenen Elektrolyten, begründen11). Die Fortschritte der physiologischen Chemie12), die Erfahrungen bei Transplantation13) von verschiedenen Organen, scheinen mir heute noch entschiedener zu Gunsten desselben zu sprechen. Rollett14) hat wichtige Fragen, welche zu Ausführungen dieser Schrift in naher Beziehung stehen, auf Grund eigener und fremder Arbeiten, in sehr belehrender Weise in ihrem Zusammenhang erörtert.