XIV. Einfluß der vorausgehenden Untersuchungen
auf die Auffassung der Physik1).

1.

Welchen Gewinn zieht nun die Physik aus den vorausgehenden Untersuchungen? Zunächst fällt ein sehr verbreitetes Vorurteil und mit diesem eine Schranke. Es gibt keine Kluft zwischen Psychischem und Physischem, kein Drinnen und Draußen, keine Empfindung, der ein äußeres von ihr verschiedenes Ding entspräche. Es gibt nur einerlei Elemente, aus welchen sich das vermeintliche Drinnen und Draußen zusammensetzt, die eben nur, je nach der temporären Betrachtung, drinnen oder draußen sind.

l) Die in diesem Kapitel erörterten Fragen habe ich teilweise schon früher (,,Erhaltung der Arbeit", "Ökonomische Natur der physikalischen Forschung", "Mechanik" und "Wärmelehre") besprochen. Was die Auffassung der Begriffe als ökonomische Mittel betrifft, hat mich Herr Professor W. James (von der Harvard-Universität zu Cambridge Mass.) mündlich auf Berührungspunkte meiner Schrift mit seiner Arbeit "The Sentiment of Rationality" (Mind. Vol. IV, p. 317, Juli 1879) aufmerksam gemacht. Jedermann wird diese mit freiem Blick, mit wohltuender Frische und Unbefangenheit geschriebene Arbeit mit Vergnügen und Gewinn lesen.     Die sinnliche Welt gehört dem physischen und psychischen Gebiet zugleich an. So wie wir beim Studium des Verhaltens der Gase durch Absehen von den Temperaturänderungen zu dem Mariotteschen, durch ausdrückliches Beachten der Temperaturänderungen aber zum Gay-Lussacschen Gesetz gelangen, und unser Untersuchungsobjekt doch immer dasselbe bleibt, so treiben wir auch Physik im weitesten Sinne, solange wir die Zusammenhänge in der sinnlichen Welt, von unserm Leib ganz absehend, untersuchen, Psychologie oder Physiologie der Sinne aber, sobald wir hierbei eben auf diesen, und speziell auf unser Nervensystem, das Hauptaugenmerk richten. Unser Leib ist ein Teil der sinnlichen Welt wie jeder andere, die Grenze zwischen Physischem und Psychischem lediglich eine praktische und konventionelle. Betrachten wir sie für höhere wissenschaftliche Zwecke als nicht vorhanden, und sehen alle Zusammenhänge als gleichwertig an, so kann es an der Eröffnung neuer Forschungswege nicht fehlen.
    Als einen weitern Gewinn müssen wir ansehen, daß der Physiker von den herkömmlichen intellektuellen Mitteln der Physik sich nicht mehr imponieren läßt. Kann schon die gewöhnliche "Materie" nur als ein sich unbewußt ergebendes, sehr natürliches Gedankensymbol für einen relativ stabilen Komplex sinnlicher Elemente betrachtet werden, so muß dies um so mehr von den künstlichen hypothetischen Atomen und Molekülen der Physik und Chemie gelten. Diesen Mitteln verbleibt ihre Wertschätzung für ihren besondern beschränkten Zweck. Sie bleiben ökonomische Symbolisierungen der physikalisch-chemischen Erfahrung. Man wird aber von ihnen wie von den Symbolen der Algebra nicht mehr erwarten, als man in dieselben hineingelegt hat, namentlich nicht mehr Aufklärung und Offenbarung als von der Erfahrung selbst. Schon im Gebiete der Physik selbst bleiben wir vor Überschätzung unserer Symbole bewahrt. Noch weniger wird aber der ungeheuerliche Gedanke, die Atome zur Erklärung der psychischen Vorgänge verwenden zu wollen, sich unserer bemächtigen können. Sind doch die Atome nur Symbole jener eigenartigen Komplexe sinnlicher Elemente, die wir in den engeren Gebieten der Physik und Chemie antreffen.

2.

Die Grundanschauungen der Menschen bilden sich naturgemäß in der Anpassung an einen engeren oder weiteren Erfahrungs- und Gedankenkreis. Dem Physiker genügt vielleicht noch der Gedanke einer starren Materie, deren einzige Veränderung in der Bewegung, der Ortsveränderung besteht. Der Physiologe, beziehungsweise der Psychologe, vermag mit solchem Ding gar nichts anzufangen. Wer aber an den Zusammenschluß der Wissenschaften zu einem Ganzen denkt, muß nach einer Vorstellung suchen, die er auf allen Gebieten festhalten kann. Wenn wir nun die ganze materielle Welt in Elemente auflösen, welche zugleich auch Elemente der psychischen Welt sind, die als solche letztere gewöhnlich Empfindungen heißen, wenn wir ferner die Erforschung der Verbindung, des Zusammenhanges, der gegenseitigen Abhängigkeit dieser gleichartigen Elemente aller Gebiete als die einzige Aufgabe der Wissenschaft ansehen; so können wir mit Grund erwarten, auf dieser Vorstellung einen einheitlichen, monistischen Bau aufzuführen und den leidigen verwirrenden Dualismus los zu werden. Indem man die Materie als das absolut Beständige und Unveränderliche ansieht, zerstört man ja in der Tat den Zusammenhang zwischen Physik und Psychologie.
    Erkenntniskritische Erwägungen können zwar keinem Menschen schaden, allein der Spezialforscher, z. B. der Physiker, hat keinen Grund, sich allzusehr durch solche Betrachtungen beunruhigen zu lassen. Scharfe Beobachtung und ein glücklicher Instinkt sind für ihn sehr sichere Führer. Seine Begriffe, sofern sie sich als unzureichend erweisen sollten, werden durch die Tatsachen am besten und schnellsten berichtigt. Wenn es sich aber um die Verbindung von Nachbargebieten von verschiedenem und eigenartigem Entwicklungsgang handelt, so kann dieselbe nicht mit Hilfe der beschränkteren Begriffe eines engen Spezialgebietes vollzogen werden. Hier müssen durch allgemeinere Erwägungen für das weitere Gebiet ausreichende Begriffe geschaffen werden. Nicht jeder Physiker ist Erkenntniskritiker, nicht jeder muß oder kann es auch nur sein. Die Spezialforschung beansprucht eben einen ganzen Mann, die Erkenntnistheorie aber auch.
    Bald nach Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift belehrte mich ein Physiker darüber, wie ungeschickt ich meine Aufgabe angefaßt hätte. Man könne, meinte er, die Empfindungen nicht analysieren, bevor die Bahnen der Atome im Gehirn nicht bekannt seien. Dann allerdings würde sich alles von selbst ergeben. Diese Worte, welche vielleicht bei einem Jüngling der Laplaceschen Zeit auf fruchtbaren Boden gefallen wären, und sich zu einer psychologischen Theorie auf Grund "verborgener Bewegungen"(!) entwickelt hätten, konnten mich natürlich nicht mehr bessern. Sie hatten aber doch die Wirkung, daß ich Dubois mit seinem "Ignorabimus", das mir bis dahin als die größte Verirrung erschienen war, im stillen Abbitte leistete. War es doch ein wesentlicher Fortschritt, daß Dubois die Unlösbarkeit seines Problems erkannte, und war diese Erkenntnis doch für viele Menschen eine Befreiung, wie der sonst kaum begreifliche Erfolg seiner Rede beweist2). Den wichtigen Schritt der Einsicht, daß ein prinzipiell als unlösbar erkanntes Problem auf einer verkehrten Fragenstellung beruhen muß, hat er allerdings nicht getan. Denn auch er hielt, wie unzählige andere, das Handwerkszeug einer Spezialwissenschaft für die eigentliche Welt.

              2) Dubois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, 1872.

3.

Die Wissenschaften können sich sowohl durch den Stoff unterscheiden als auch durch die Art der Behandlung dieses Stoffes. Alle Wissenschaft geht aber darauf aus, Tatsachen in Gedanken darzustellen, entweder zu praktischen Zwecken oder zur Beseitigung des intellektuellen Unbehagens. Knüpfen wir an die Bezeichnung der "Vorbemerkungen" an, so entsteht Wissenschaft, indem durch die a b g... der Zusammenhang der übrigen Elemente nachgebildet wird. Beispielsweise entsteht Physik (in weitester Bedeutung) durch Nachbildung der ABC ... in ihrer Beziehung zu einander, Physiologie oder Psychologie der Sinne durch Nachbildung der Beziehung von ABC ... zu KLM, Physiologie durch Nachbildung der Beziehung der KLM ... zu einander und zu ABC ... Die Nachbildung der a b g... durch andere a b g führt zu den eigentlichen psychologischen Wissenschaften.
    Man könnte nun z. B. in bezug auf Physik der Ansicht sein, daß es weniger auf Darstellung der sinnlichen Tatsachen als auf die Atome, Kräfte und Gesetze ankommt, welche gewissermaßen den Kern jener sinnlichen Tatsachen bilden. Unbefangene Überlegung lehrt aber, daß jedes praktische und intellektuelle Bedürfnis befriedigt ist, sobald unsere Gedanken die sinnlichen Tatsachen vollständig nachzubilden vermögen. Diese Nachbildung ist also Ziel und Zweck der Physik, die Atome, Kräfte, Gesetze hingegen sind nur die Mittel, welche uns jene Nachbildung erleichtern. Der Wert der letzteren reicht nur so weit, als ihre Hilfe.

4.

Wir sind über irgend einen Naturvorgang, z. B. ein Erdbeben, so vollständig als möglich unterrichtet, wenn unsere Gedanken uns die Gesamtheit der zusammengehörigen sinnlichen Tatsachen so vorführen, daß sie fast als ein Ersatz derselben angesehen werden können, daß uns die Tatsachen selbst als bekannte entgegentreten, daß wir durch dieselben nicht überrascht werden. Wenn wir in Gedanken das unterirdische Dröhnen hören, die Schwankung fühlen, die Empfindung beim Heben und Senken des Bodens, das Krachen der Wände, das Abfallen des Anwurfs, die Bewegung der Möbel und Bilder, das Stehenbleiben der Uhren, das Klirren und Springen der Fenster, das Verziehen der Türstöcke und Festklemmen der Türen uns vergegenwärtigen, wenn wir die Welle, die durch den Wald wie durch ein Kornfeld zieht, und die Äste bricht, die in eine Staubwolke gehüllte Stadt im Geiste sehen, die Glocken ihrer Türme anschlagen hören, wenn uns auch noch die unterirdischen Vorgänge, welche zur Zeit noch unbekannt sind, sinnlich so vor Augen stehen, daß wir das Erdbeben herankommen sehen wie einen fernen Wagen, bis wir endlich die Erschütterung unter den Füßen fühlen, so können wir mehr Einsicht nicht verlangen. Können wir auch die Teiltatsachen nicht in dem richtigen Ausmaß kombinieren ohne gewisse (mathematische) Hilfsvorstellungen oder geometrische Konstruktionen, so ermöglichen letztere unseren Gedanken doch nur nach und nach zu leisten, was sie nicht auf einmal vermögen. Diese Hilfsvorstellungen wären aber wertlos, wenn wir mit denselben nicht bis zur Darstellung der sinnlichen Tatsachen vordringen könnten.
    Wenn ich das auf ein Prisma fallende weiße Lichtbündel in Gedanken als Farbenfächer austreten sehe mit bestimmten Winkeln, die ich voraus bezeichnen kann, wenn ich das reelle Spektralbild sehe, das beim Vorsetzen einer Linse auf einen Schirm entsteht, darin die Fraunhoferschen Linien an voraus bekannten Stellen, wenn ich im Geiste sehe, wie sich die letzteren verschieben, sobald das Prisma gedreht wird, sobald die Substanz des Prismas wechselt, sobald ein dasselbe berührendes Thermometer seinen Stand ändert, so weiß ich alles, was ich verlangen kann. Alle Hilfsvorstellungen, Gesetze, Formeln sind nur das quantitative Regulativ meiner sinnlichen Vorstellung. Diese ist das Ziel, jene sind die Mittel.

5.

Die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen ist also das Ziel aller naturwissenschaftlichen Arbeit. Die Wissenschaft setzt hier nur absichtlich und bewußt fort, was sich im täglichen Leben unvermerkt von selbst vollzieht. Sobald wir der Selbstbeobachtung fähig werden, finden wir unsere Gedanken den Tatsachen schon vielfach angepaßt vor. Die Gedanken führen uns die Elemente in ähnlichen Gruppen vor, wie die sinnlichen Tatsachen. Der begrenzte Gedankenvorrat reicht aber nicht für die fortwährend wachsende Erfahrung. Fast jede neue Tatsache bringt eine Fortsetzung der Anpassung mit sich, die sich im Prozeß des Urteilens äußert.
    Man kann diesen Vorgang an Kindern sehr gut beobachten. Ein Kind kommt zum erstenmal aus der Stadt aufs Land, etwa auf eine große Wiese, sieht sich da nach allen Seiten um, und spricht verwundert: "Wir sind in einer Kugel. Die Welt ist eine blaue Kugel3)". Hier haben wir zwei Urteile. Was geht vor, indem dieselben gebildet werden? Die fertige sinnliche Vorstellung "wir" (die begleitende Gesellschaft) wird durch die ebenfalls schon vorhandene Vorstellung einer Kugel zu einem Bilde ergänzt. Ähnlich wird in dem zweiten Urteil das Bild der "Welt" (alle Gegenstände der Umgebung) durch die einschließende blaue Kugel (deren Vorstellung auch schon vorhanden war, weil sonst der Name gefehlt hätte) ebenfalls ergänzt. Ein Urteil ist also immer eine Ergänzung einer sinnlichen Vorstellung zur vollständigeren Darstellung einer sinnlichen Tatsache. Ist das Urteil in Worten ausdrückbar, so besteht es sogar immer in einer Zusammensetzung der neuen Vorstellung aus schon vorhandenen Erinnerungsbildern, welche auch beim Angesprochenen durch Worte hervorgelockt werden können.

3) Der hier als Beispiel angeführte Fall ist nicht erdichtet, sondern ich habe den Vorgang an meinem 3jährigen Kinde beobachtet. In diesem Falle wird eigentlich eine physiologische Tatsache konstatiert, was freilich erst spät erkannt worden ist. Die alte wissenschaftliche Astronomie beginnt mit solchen naiven Aufstellungen, die sie für physikalische hält.     Der Prozeß des Urteilens besteht also hier in einer Bereicherung, Erweiterung, Ergänzung sinnlicher Vorstellungen durch andere sinnliche Vorstellungen unter Leitung der sinnlichen Tatsache. Ist der Prozeß vorbei und das Bild geläufig geworden, tritt es als fertige Vorstellung ins Bewußtsein, so haben wir es mit keinem Urteil, sondern nur mehr mit einer einfachen Erinnerung zu tun4). Das Wachstum der Naturwissenschaft und der Mathematik beruht größtenteils auf der Bildung solcher intuitiver Erkenntnisse (wie sie Locke nennt). Betrachten wir z. B. die Sätze: "1. Der Baum hat eine Wurzel. 2. Der Frosch hat keine Klauen. 3. Aus der Raupe wird ein Schmetterling. 4. Verdünnte Schwefelsäure löst Zink. 5. Reibung macht das Glas elektrisch. 6. Der elektrische Strom lenkt die Magnetnadel ab. 7. Der Würfel hat 6 Flächen, 8 Ecken, 12 Kanten." Der erste Satz enthält eine räumliche Erweiterung der Baumvorstellung, der 2. die Korrektur einer nach der Gewohnheit zu voreilig vervollständigten Vorstellung, der 3., 4., 5. und 6. enthalten zeitlich erweiterte Vorstellungen. Der 7. Satz gibt ein Beispiel der geometrischen intuitiven Erkenntnis. 4) Auf eine Untersuchung über den Urteilsprozeß als solchen kann ich mich hier nicht einlassen. Ich möchte aber unter den neueren Schriften über den Gegenstand diejenige von W. Jerusalem (Die Urteilsfunktion, Wien 1895) hervorheben. Ohne mit diesem Autor auf demselben Boden zu stehen, habe ich doch aus der Lektüre seiner Schrift durch die vielen Einzeluntersuchungen manche Anregung und Belehrung empfangen. Die physiologischen Seiten, namentlich die biologische Funktion des Urteils, sind sehr lebendig dargestellt. Die Auffassung des Subjekts als eines Kraftzentrums wird man kaum glücklich finden. Dagegen gibt man gewiß gern zu, daß in den Anfängen der Kultur und der Sprachbildung anthropomorphische Vorstellungen großen Einfluß üben. — Ganz andere Fragen behandelt A. Stöhr in seinen Schriften (Theorie der Namen, 1889; Die Vieldeutigkeit des Urteils, 1895: Algebra der Grammatik, 1898). Unter diesen scheinen mir die auf das Verhältnis von Logik und Grammatik bezüglichen die interessantesten zu sein.
6.

Derartige intuitive Erkenntnisse prägen sich dem Gedächtnis ein und treten als jede gegebene sinnliche Tatsache spontan ergänzende Erinnerungen auf. Die verschiedenen Tatsachen gleichen sich nicht vollständig. Die verschiedenen Fällen gemeinsamen Bestandteile der sinnlichen Vorstellung werden aber gekräftigt, und es kommt dadurch ein Prinzip der möglichsten Verallgemeinerung oder Kontinuität in die Erinnerung. Anderseits muß die Erinnerung, soll sie der Mannigfaltigkeit der Tatsachen gerecht werden, und überhaupt nützlich sein, dem Prinzip der zureichenden Differenzierung entsprechen. Schon das Tier wird durch lebhaft rot und gelb gefärbte (ohne Anstrengung am Baum sichtbare) weiche Früchte an deren süßen, durch grüne (schwer sichtbare) harte Früchte an deren saueren Geschmack erinnert werden. Der Insekten jagende Affe hascht nach allem, was schwirrt und fliegt, hütet sich aber vor der gelb und schwarz gefleckten Fliege, der Wespe. In diesen Beispielen spricht sich deutlich genug das Bestreben nach möglichster Verallgemeinerung und Kontinuität, sowie nach praktisch zureichender Differenzierung der Erinnerung aus. Und beide Tendenzen werden durch dasselbe Mittel, die Aussonderung und Hervorhebung jener Bestandteile der sinnlichen Vorstellung, erreicht, welche für den zur Erfahrung passenden Gedankenlauf maßgebend sind. Ganz analog verfährt der Physiker, wenn er verallgemeinernd sagt, "alle durchsichtigen starren Körper brechen das aus der Luft einfallende Licht zum Lote", und wenn er differenzierend hinzufügt, "die tesseral kristallisierten und amorphen einfach, die übrigen doppelt".

7 .

Ein guter Teil der Gedankenanpassung vollzieht sich unbewußt und unwillkürlich unter Leitung der sinnlichen Tatsachen. Ist diese Anpassung ausgiebig genug geworden, um der Mehrzahl der auftretenden Tatsachen zu entsprechen, und stoßen wir nun auf eine Tatsache, welche mit unserm gewohnten Gedankenlauf in starkem Widerstreit steht, ohne daß man sofort das maßgebende Moment zu erschauen vermöchte, welches zu einer neuen Differenzierung führen würde, so entsteht ein Problem. Das Neue, das Ungewöhnliche, das Wunderbare wirkt als Reiz, welcher die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Praktische Gründe, oder das intellektuelle Unbehagen allein, können den Willen zur Beseitigung des Widerstreites, zur neuen Gedankenanpassung erzeugen. So entsteht die absichtliche Gedankenanpassung, die Forschung.
    Wir sehen z. B. einmal ganz gegen unsere Gewohnheit, daß an einem Hebel oder Wellrad eine große Last durch eine kleine gehoben wird. Wir suchen nach dem differenzierenden Moment, welches uns die sinnliche Tatsache nicht unmittelbar zu bieten vermag. Erst wenn wir, verschiedene ähnliche Tatsachen vergleichend, den Einfluß der Gewichte und der Hebelarme bemerkt, und uns selbsttätig zu den abstrakten Begriffen Moment oder Arbeit erhoben haben, ist das Problem gelöst. Das Moment oder die Arbeit ist das differenzierende Element. Ist die Beachtung des Momentes oder der Arbeit zur Denkgewohnheit geworden, so existiert das Problem nicht mehr.

8.

Was tut man nun, indem man abstrahiert? Was ist eine Abstraktion? Was ist ein Begriff? Entspricht dem Begriff ein sinnliches Vorstellungsbild? Einen allgemeinen Menschen kann ich mir nicht vorstellen, höchstens einen besonderen, vielleicht einen, der zufällige Besonderheiten verschiedener Menschen, die sich nicht ausschließen, vereinigt. Ein allgemeines Dreieck, welches etwa zugleich rechtwinklig und gleichseitig sein müßte, ist nicht vorstellbar. Allein ein solches mit dem Namen des Begriffs auftauchendes, die begriffliche Operation begleitendes Bild ist auch nicht der Begriff. Überhaupt deckt ein Wort, welches aus Not zur Bezeichnung vieler Einzelvorstellungen verwendet werden muß, durchaus noch keinen Begriff. Ein Kind, das zuerst einen schwarzen Hund gesehen und nennen gehört hat, nennt z. B. alsbald einen großen schwarzen, rasch dahin laufenden Käfer ebenfalls "Hund", bald darauf ein Schwein oder Schaf ebenfalls Hund5). Irgend eine an die früher benannte Vorstellung erinnernde Ähnlichkeit führt zum naheliegenden Gebrauch desselben Namens. Der Ähnlichkeitspunkt braucht in aufeinander folgenden Fällen gar nicht derselbe zu sein; er liegt z. B. einmal in der Farbe, dann in der Bewegung, dann in der Gestalt, der Bedeckung u. s. w.; demnach ist auch von einem Begriff gar nicht die Rede. So nennt ein Kind gelegentlich die Federn des Vogels Haare, die Hörner der Kuh Fühlhörner, den Bartwisch, den Bart des Vaters und den Samen des Löwenzahns ohne Unterschied "Bartwisch" u. s. w.6). Die meisten Menschen verfahren mit den Worten ebenso, nur weniger auffallend, weil sie einen größeren Vorrat zur Verfügung haben. Der gemeine Mann nennt ein Rechteck "Viereck" und gelegentlich auch den Würfel (wegen der rechtwinkligen Begrenzung) ebenfalls "Viereck". Die Sprachwissenschaft und einige historisch beglaubigte Fälle lehren, daß ganze Völker sich nicht anders verhalten7).

5) So nannten die Markomannen die von den Römern über die Donau gesetzten Löwen "Hunde" und die Jonier nannten (Herodot II 69) die "Champsä" des Nils nach den Eidechsen ihrer Büsche ,,Krokodile".               6) Sämtliche Beispiele sind der Beobachtung entnommen.

              7) Withney, Leben und Wachstum der Sprache. Leipzig 1876.

    Ein Begriff ist überhaupt nicht eine fertige Vorstellung. Gebrauche ich ein Wort zur Bezeichnung eines Begriffs, so liegt in demselben ein einfacher Impuls zu einer geläufigen sinnlichen Tätigkeit, als deren Resultat ein sinnliches Element (das Merkmal des Begriffs) sich ergibt. Denke ich z. B. an den Begriff Siebeneck, so zähle ich in der vorliegenden Figur oder in der auftauchenden Vorstellung die Ecken durch; komme ich hierbei bis sieben, wobei der Laut, die Ziffer, die Finger das sinnliche Merkmal der Zahl abgeben können, so fällt die gegebene Vorstellung unter den gegebenen Begriff. Spreche ich von einer Quadratzahl, so versuche ich die vorliegende Zahl durch die Operation 5 ´ 5, 6 ´ 6 usw., deren sinnliches Merkmal (die Gleichheit der beiden multiplizierten Zahlen) auf der Hand liegt, herzustellen. Das gilt von jedem Begriff. Die Tätigkeit, welche das Wort auslöst, kann aus mehreren Operationen bestehen; die eine kann eine andere enthalten. Immer ist das Resultat ein sinnliches Element, welches vorher nicht da war.
    Wenn ich ein Siebeneck sehe oder mir vorstelle, braucht mir die Siebenzahl der Ecken noch nicht gegenwärtig zu sein. Sie tritt erst durch die Zählung hervor. Oft kann das neue sinnliche Element, wie z. B. beim Dreieck, so nahe liegen, daß die Zähloperation unnötig scheint; das sind aber Spezialfälle, welche eben zu Täuschungen über die Natur des Begriffes führen. An den Kegelschnitten (Ellipse, Hyperbel, Parabel) sehe ich nicht, daß sie unter denselben Begriff fallen; ich kann es aber durch die Operation des Kegelschneidens und durch die Konstruktion der Gleichung finden.
    Wenn wir also abstrakte Begriffe auf eine Tatsache anwenden, so wirkt dieselbe auf uns als einfacher Impuls zu einer sinnlichen Tätigkeit, welche neue sinnliche Elemente herbeischafft, die unsern ferneren Gedankenlauf der Tatsache entsprechend bestimmen können. Wir bereichern und erweitern durch unsere Tätigkeit die für uns zu arme Tatsache. Wir tun dasselbe, was der Chemiker mit einer farblosen Salzlösung tut, indem er ihr durch eine bestimmte Operation einen gelben oder braunen Niederschlag ablockt, der seinen Gedankenlauf zu differenzieren vermag. Der Begriff des Physikers ist eine bestimmte Reaktionstätigkeit, welche eine Tatsache mit neuen sinnlichen Elementen bereichert.
    Eine sehr dürftige Sinnlichkeit und eine sehr geringe Beweglichkeit reichen zur Bildung von Begriffen aus. Dies lehrt die Entwicklungsgeschichte der blinden und taubstummen Laura Bridgman, welche Jerusalem in einer interessanten kleinen Schrift8) allgemein zugänglich gemacht hat. Fast ganz ohne Geruch und auf die Wahrnehmung von Erschütterungen und Schallschwingungen durch die Fußsohlen und Fingerspitzen, kurz durch die Haut angewiesen, vermochte Laura doch einfache Begriffe zu gewinnen. Durch Herumgehen und durch die Bewegung der Hände findet sie die Tastmerkmale (Klassencharaktere) der Türe, des Stuhles, des Messers usw. Allerdings reicht die Abstraktion nicht hoch. Die abstraktesten Begriffe, die sie sich erwarb, dürften die Zahlen gewesen sein. Im ganzen blieb ihr Denken natürlich an Spezialvorstellungen haften. Beweis dafür ist ihre Auffassung der Rechenaufgaben eines Schulbuches als speziell an sie gerichtet (a. a. O. S. 25), ihre Meinung, daß der Himmel (das Jenseits) eine Schule sei usw. (a. a. O. S. 30).

8) W. Jerusalem, Laura Bridgman. Wien, Pichler, 1891. — Vgl. auch L. W. Stern, Helen Keller. Berlin 1905. — Jerusalem, Marie Heurtin, Österreichische Rundschau, Bd. 3, S. 292, 426 (1905).
9.

Wenn wir, um an ein früheres Beispiel anzuknüpfen, einen Hebel erblicken, so treibt uns dieser Anblick, die Arme abzumessen, die Gewichte zu wägen, die Maßzahl des Armes mit der Maßzahl des Gewichtes zu multiplizieren. Entspricht den beiden Produkten dasselbe sinnliche Zahlzeichen, so erwarten wir Gleichgewicht. Wir haben so ein neues sinnliches Element gewonnen, welches zuvor in der bloßen Tatsache noch nicht gegeben war, und das nun unsern Gedankenlauf differenziert. Hält man sich recht gegenwärtig, daß das begriffliche Denken eine Reaktionstätigkeit ist, die wohl geübt sein will, so versteht man die bekannte Tatsache, daß niemand Mathematik oder Physik oder irgend eine Naturwissenschaft durch bloße Lektüre, ohne praktische Übung, sich aneignen kann. Das Verstehen beruht hier gänzlich auf dem Tun. Ja es wird in keinem Gebiet möglich sein, sich zu den höheren Abstraktionen zu erheben, ohne sich mit den Einzelheiten beschäftigt zu haben.
    Die Tatsachen werden also durch die begriffliche Behandlung erweitert und bereichert, und schließlich wieder vereinfacht. Denn wenn das neue maßgebende sinnliche Element (z. B. die Maßzahl der Momente des Hebels) gefunden ist, wird nur mehr dieses beachtet, und die mannigfaltigsten Tatsachen gleichen und unterscheiden sich nur durch dieses Element. Wie bei der intuitiven Erkenntnis reduziert sich also auch hier alles auf die Auffindung, Hervorhebung und Aussonderung der maßgebenden sinnlichen Elemente. Die Forschung erreicht hier nur auf einem Umwege, was sich der intuitiven Erkenntnis unmittelbar darbietet.
    Der Chemiker mit seinen Reagentien, der Physiker mit Maßstab, Waage, Galvanometer, und der Mathematiker verhalten sich den Tatsachen gegenüber eigentlich ganz gleichartig; nur braucht der letztere bei Erweiterung der Tatsache am wenigsten über die Elemente a b g ..., KLM hinauszugehen. Seine Hilfsmittel hat er stets und sehr bequem zur Hand. Der Forscher mit seinem ganzen Denken ist ja auch nur ein Stück Natur wie jedes andere. Eine eigentliche Kluft zwischen diesem und anderen Stücken besteht nicht. Alle Elemente sind gleichwertig.
    Nach dem Dargelegten ist das Wesen der Abstraktion nicht erschöpft, wenn man sie (mit Kant) als negative Aufmerksamkeit bezeichnet. Zwar wendet sich beim Abstrahieren von vielen sinnlichen Elementen die Aufmerksamkeit ab, dafür aber andern neuen sinnlichen Elementen zu, und das letztere ist gerade wesentlich. Jede Abstraktion gründet sich auf das Hervortreten bestimmter sinnlicher Elemente.

10.

Indem ich hier meine Darstellung von 1886 unverändert lasse, möchte ich zugleich auf die weiteren Ausführungen in einer spätem Schrift hinweisen9). Daselbst sind auch (in der zweiten Auflage von 1900) die seit 1897 erschienenen Arbeiten von H. Gomperz und Ribot erwähnt, welche Untersuchungen enthalten, deren Ergebnisse in mancher Beziehung mit den meinigen verwandt sind. Gomperz und Ribot schließen beide die wissenschaftlichen Begriffe von ihrer Untersuchung aus, und behandeln bloß die vulgären Begriffe, wie sie in den Worten der gewöhnlichen Verkehrssprache fixiert sind. Ich bin im Gegenteil der Meinung, daß die Natur der Begriffe an den wissenschaftlichen Begriffen, welche mit Bewußtsein gebildet und angewendet werden, sich viel besser offenbaren muß, als an den vulgären Begriffen. Letztere können wegen ihrer Verschwommenheit kaum zu den eigentlichen Begriffen gerechnet werden. Die Worte der Vulgärsprache sind einfach geläufige Merkzeichen, welche ebenso geläufige Denkgewohnheiten auslösen. Der begriffliche Inhalt dieser Worte, soweit er überhaupt in schärferer Form besteht, kommt kaum zum Bewußtsein, wie dies auch Ribot bei seinen statistischen Versuchen gefunden hat. Ohne Zweifel könnte ich Gomperz und Ribot noch viel weiter zustimmen, als es schon jetzt der Fall ist, wenn sie auch die wissenschaftlichen Begriffe in ihre Untersuchung einbezogen hätten.

             9) Prinzipien der Wärmelehre, 1896, 2. Aufl. 1900, S. 415, 422.

    Wir haben als einfaches Beispiel des Begriffes oben das statische Moment gewählt. Komplizierte Begriffe werden ein kompliziertes System von Reaktionen erfordern, welche mehr oder weniger große Teile des Zentralnervensystems in Anspruch nehmen, und ein entsprechend kompliziertes, den Begriff charakterisierendes System von sinnlichen Elementen zutage fördern. Die von J. v. Kries erhobenen Schwierigkeiten10) möchten bei dieser Auffassung nicht unüberwindlich sein. (Vergl. Kap.V.)

             10) J. v. Kries, Die materiellen Grundlagen der Bewußtseinserscheinungen. Freiburg i. Br. 1898.

11.

Die sinnliche Tatsache ist also der Ausgangspunkt und auch das Ziel aller Gedankenanpassungen des Physikers. Die Gedanken, welche unmittelbar der sinnlichen Tatsache folgen, sind die geläufigsten, stärksten und anschaulichsten. Wo man einer neuen Tatsache nicht sofort folgen kann, drängen sich die kräftigsten und geläufigsten Gedanken heran, um dieselbe reicher und bestimmter zu gestalten. Hierauf beruht jede naturwissenschaftliche Hypothese und Spekulation, deren Berechtigung in der Gedankenanpassung liegt, welche sie fördert und schließlich herbeiführt. So denken wir uns den Planeten als einen geworfenen Körper, stellen uns den elektrischen Körper mit einer fernwirkenden Flüssigkeit bedeckt vor, denken uns die Wärme als einen Stoff, der aus einem Körper in den andern überfließt, bis uns schließlich die neuen Tatsachen ebenso geläufig und anschaulich werden als die älteren, die wir als Gedankenhilfe herangezogen hatten. Aber auch wo von unmittelbarer Anschaulichkeit nicht die Rede sein kann, bilden sich die Gedanken des Physikers unter möglichster Einhaltung des Prinzips der Kontinuität und der zureichenden Differenzierung zu einem ökonomisch geordneten System von Begriffsreaktionen aus, welche wenigstens auf den kürzesten Wegen zur Anschaulichkeit führen. Alle Rechnungen, Konstruktionen u. s. w. sind nur die Zwischenmittel, diese Anschaulichkeit schrittweise und auf sinnliche Wahrnehmung gestützt, zu erreichen, wo dieselbe nicht unmittelbar zu erreichen ist.

12.

Betrachten wir nun die Ergebnisse der Gedankenanpassung. Nur dem, was an den Tatsachen überhaupt beständig ist, können sich die Gedanken anpassen, und nur die Nachbildung des Beständigen kann einen ökonomischen Vorteil gewähren. Hierin liegt also der letzte Grund des Strebens nach Kontinuität der Gedanken, d. h. nach Erhaltung der möglichsten Beständigkeit, und hierdurch werden auch die Anpassungsergebnisse verständlich11). Kontinuität, Ökonomie und Beständigkeit bedingen sich gegenseitig; sie sind eigentlich nur verschiedene Seiten einer und derselben Eigenschaft des gesunden Denkens.

             1l) Vgl.: "Die Mechanik in ihrer Entwicklung". l. Aufl. 1883, 4. Aufl. S. 519, 520.

13.

Das bedingungslos Beständige nennen wir Substanz. Ich sehe einen Körper, wenn ich ihm den Blick zuwende. Ich kann ihn sehen, ohne ihn zu tasten. Ich kann ihn tasten, ohne ihn zu sehen. Obgleich also das Hervortreten der Elemente des Komplexes an Bedingungen geknüpft ist, habe ich dieselben doch zu sehr in der Hand, um sie besonders zu würdigen und zu beachten. Ich betrachte den Körper oder den Elementenkomplex oder den Kern dieses Komplexes als stets vorhanden, ob er mir augenblicklich in die Sinne fällt oder nicht. Indem ich den Gedanken dieses Komplexes, oder das Symbol desselben, den Gedanken des Kerns mir stets parat halte, gewinne ich den Vorteil der Voraussicht, und vermeide den Nachteil der Überraschung. Ebenso halte ich es mit den chemischen Elementen, die mir als bedingungslos beständig erscheinen. Obgleich hier mein bloßer Wille nicht genügt, um die betreffenden Komplexe zur sinnlichen Tatsache zu machen, obgleich hier auch äußere Mittel (z. B. Körper außer meinem Leib) nötig sind, sehe ich doch von diesen Mitteln ab, sobald sie mir geläufig geworden, und betrachte die chemischen Elemente einfach als beständig. Wer an Atome glaubt, hält es mit diesen analog.
    Ahnlich wie mit dem Elementenkomplex, der einem Körper entspricht, können wir auf einer höheren Stufe der Gedankenanpassung auch mit ganzen Gebieten von Tatsachen verfahren. Wenn wir von Elektrizität, Magnetismus, Licht, Wärme sprechen, auch ohne uns hierunter besondere Stoffe zu denken, so schreiben wir diesen Tatsachengebieten, wieder von den uns geläufigen Bedingungen ihres Hervortretens absehend, eine Beständigkeit zu, und halten die nachbildenden Gedanken stets parat, mit gleichem Vorteil wie in den obigen Fällen. Wenn ich sage, ein Körper ist "elektrisch", so ruft mir dies viel mehr Erinnerungen wach, ich erwarte viel bestimmtere Gruppen von Tatsachen, als wenn ich etwa die in dem Einzelfalle sich äußernde Anziehung hervorheben würde. Doch kann diese Hypostasierung auch ihre Nachteile haben. Zunächst wandeln wir, solange wir so verfahren, immer dieselben historischen Wege. Es kann aber wichtig sein zu erkennen, daß es eine spezifisch elektrische Tatsache gar nicht gibt, daß jede solche Tatsache z. B. ebenso gut als eine mechanische, chemische oder thermische angesehen werden kann, oder vielmehr, daß alle physikalischen Tatsachen schließlich aus denselben sinnlichen Elementen (Farben, Drucken, Räumen, Zeiten) sich zusammensetzen, daß wir durch die Bezeichnung "elektrisch", bloß an eine Spezialform erinnert werden, in welcher wir die Tatsache zuerst kennen gelernt haben.
    Haben wir uns gewöhnt, den Körper, welchem wir die tastende Hand und den Blick beliebig zu- und abwenden können, als beständig anzusehen, so tun wir dies auch leicht in Fällen, in welchen die Bedingungen der Sinnenfälligkeit gar nicht in unserer Hand liegen, z. B. bei Sonne und Mond, die wir nicht tasten können, bei den Weltteilen, die wir vielleicht einmal und nicht wieder sehen können, oder die wir gar nur aus der Beschreibung kennen. Dies Verfahren kann für eine ruhige ökonomische Weltauffassung seine Bedeutung haben, es ist aber gewiß nicht das einzig berechtigte. Es wäre nur ein konsequenter Schritt weiter, die ganze Vergangenheit, welche ja in ihren Spuren noch vorhanden ist (da wir z. B. Sterne dort sehen, wo sie vor Jahrtausenden waren), und die ganze Zukunft, die im Keime schon da ist (da man z. B. unser Sonnensystem nach Jahrtausenden noch sehen wird, wo es jetzt ist), als beständig anzusehen. Ist doch der ganze Zeitverlauf nur an Bedingungen unserer Sinnlichkeit gebunden. Mit dem Bewußtsein eines besonderen Zweckes wird man auch diesen Schritt unternehmen dürfen.

14.

Eine wirkliche bedingungslose Beständigkeit gibt es nicht, wie dies aus dem Besprochenen deutlich hervorgeht. Wir gelangen zu derselben nur, indem wir Bedingungen übersehen, unterschätzen, oder als immer gegeben betrachten, oder willkürlich von denselben absehen. Es bleibt nur eine Art der Beständigkeit, die alle vorkommenden Fälle von Beständigkeit umfaßt, die Beständigkeit der Verbindung (oder Beziehung). Auch die Substanz, die Materie ist kein bedingungslos Beständiges. Was wir Materie nennen, ist. ein gewisser gesetzmäßiger Zusammenhang der Elemente (Empfindungen). Die Empfindungen verschiedener Sinne eines Menschen, so wie die Sinnesempfindungen verschiedener Menschen sind gesetzmäßig von einander abhängig. Darin besteht die Materie. Der älteren Generation, namentlich den Physikern und Chemikern, wird die Zumutung Schrecken erregen, die Materie nicht als das absolut Beständige zu betrachten, und statt dessen ein festes Verbindungsgesetz von Elementen, welche an sich sehr flüchtig scheinen, als das Beständige anzusehen. Auch jüngeren Leuten wird dies Mühe machen, und mich selbst hat es seiner Zeit eine große Überwindung gekostet, zu dieser unvermeidlichen Einsicht zu gelangen. Doch wird man sich zu einer so radikalen Änderung der Denkweise entschließen müssen, wenn man aufhören will, denselben Fragen immer wieder in gleicher Ratlosigkeit gegenüber zu stehen.
    Es kann sich nicht darum handeln, für den Hand- und Hausgebrauch den vulgären Begriff der Materie, der sich für diesen Zweck instinktiv herausbildet hat, abzuschaffen. Auch alle physikalischen Maßbegriffe bleiben aufrecht, und erfahren nur eine kritische Läuterung, wie ich dieselbe in bezug auf Mechanik, Wärme, Elektrizität usw. versucht habe. Hierbei treten einfach empirische Begriffe an die Stelle der metaphysischen. Die Wissenschaft erleidet aber keinen Verlust, wenn das starre, sterile, beständige, unbekannte Etwas (die Materie) durch ein beständiges Gesetz ersetzt wird, das in seinen Einzelheiten noch weiter durch die physikalisch-physiologische Forschung aufgeklärt werden kann. Es soll hiermit keine neue Philosophie, keine neue Metaphysik geschaffen, sondern einem augenblicklichen Streben der positiven Wissenschaften nach gegenseitigem Anschluß entsprochen werden12).

             12) Vgl. Prinzipien der Wärmelehre, 2. Aufl. 1900, S. 423 u. ff.

15.

Die naturwissenschaftlichen Sätze drücken nur solche Beständigkeiten der Verbindung aus: "Aus der Kaulquappe wird ein Frosch. Das Chlornatrium tritt in Würfelform auf. Der Lichtstrahl ist geradlinig. Die Körper fallen mit der Beschleunigung 9,81 ". Den begrifflichen Ausdruck dieser Beständigkeiten nennen wir Gesetze. Die Kraft (im mechanischen Sinne) ist auch nur eine Beständigkeit der Verbindung. Wenn ich sage, ein Körper A übe auf B eine Kraft aus, so heißt dies, daß B sofort eine gewisse Beschleunigung gegen A zeigt, sobald es diesem gegenübertritt.
    Die eigentümliche Illusion, als ob der Stoff A der absolut beständige Träger einer Kraft wäre, welche wirksam wird, sobald B dem A gegenübertritt, ist leicht zu beseitigen. Treten wir, oder genauer unsere Sinnesorgane, an die Stelle von B, so sehen wir von dieser jederzeit erfüllbaren Bedingung ab, und A erscheint uns als absolut beständig. So scheint uns das magnetische Eisen, das wir immer sehen, so oft wir hinblicken wollen, als der beständige Träger der magnetischen Kraft, die erst wirksam wird, sobald ein Eisenstückchen hinzutritt, von welchem wir nicht so unvermerkt absehen können, wie von uns selbst13). Die Phrasen: "Kein Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff", welche einen selbstverschuldeten Widerspruch vergeblich aufzuheben suchen, werden entbehrlich, wenn man nur Beständigkeiten der Verbindung anerkennt.

13) Dem Kinde erscheint alles als substanziell, zu dessen Wahrnehmung es nur seiner Sinne bedarf. Das Kind fragt, "wo der Schatten, wo das gelöschte Licht hinkommt?" Es will die Elektrisiermaschine nicht weiterdrehen lassen, um den Funkenvorrat derselben nicht zu erschöpfen. Ein noch nicht ein Jahr alter Knabe wollte seinem, ein Liedchen pfeifenden Vater die Töne von den Lippen wegfangen. Das Haschen nach farbigen Nachbildern kommt auch bei größeren Kindern noch vor usw. usw. — Erst sobald wir Bedingungen einer Tatsache außerhalb uns bemerken, verschwindet der Eindruck der Substanzialität. Die Geschichte der Wärmelehre ist in dieser Beziehung sehr lehrreich.
16.

Bei hinreichender Beständigkeit unserer Umgebung entwickelt sich eine entsprechende Beständigkeit der Gedanken. Vermöge dieser Beständigkeit streben sie, die halb beobachtete Tatsache zu vervollständigen. Dieser Vervollständigungstrieb entspringt nicht der eben beobachteten einzelnen Tatsache, er ist auch nicht mit Absicht erzeugt; wir finden ihn, ohne unser Zutun, in uns vor. Er steht uns wie eine fremde Macht gegenüber, die uns doch stets begleitet und hilft, den wir eben brauchen, um die Tatsache zu ergänzen. Obgleich er durch die Erfahrung entwickelt ist, liegt in ihm mehr, als in der einzelnen Erfahrung. Der Trieb bereichert gewissermaßen die einzelne Tatsache. Durch ihn ist sie uns mehr. Mit diesem Trieb haben wir stets ein größeres Stück Natur im Gesichtsfeld, als der Unerfahrene mit der Einzeltatsache allein. Denn der Mensch mit seinen Gedanken und seinen Trieben ist eben auch ein Stück Natur, das sich zur Einzeltatsache hinzufügt. Anspruch auf Unfehlbarkeit hat aber dieser Trieb keineswegs, und eine Notwendigkeit für die Tatsachen, ihm zu entsprechen, besteht durchaus nicht. Unser Vertrauen zu ihm liegt nur in der Voraussetzung der vielfach erprobten zureichenden Anpassung unserer Gedanken, welche aber jeden Augenblick der Enttäuschung gewärtig sein muß.
    Nicht alle unsere Tatsachen nachbildenden Gedanken haben die gleiche Beständigkeit. Immer und überall, wo wir an der Nachbildung der Tatsachen ein besonderes Interesse haben, werden wir bestrebt sein, die Gedanken von geringerer Beständigkeit durch solche von größerer Beständigkeit zu stützen und zu stärken oder sie durch solche zu ersetzen. So denkt sich Newton den Planeten, obgleich die Keplerschen Gesetze schon bekannt sind, als einen geworfenen Körper, die Masse der Flutwelle, obgleich der Verlauf derselben längst ermittelt ist, als vom Monde gezogen. Das Saugen, das Fließen des Hebers glauben wir erst zu verstehen, wenn wir uns den Druck der Luft als die Kette der Teilchen zusammenhaltend hinzudenken. Ähnlich versuchen wir die elektrischen, optischen, thermischen Vorgänge als mechanische aufzufassen. Dies Bedürfnis nach Stützung schwächerer Gedanken durch stärkere wird auch Kausalitätsbedürfnis genannt und ist die Haupttriebfeder aller naturwissenschaftlichen Erklärungen. Als Grundlagen ziehen wir natürlich die stärksten besterprobten Gedanken vor, die uns unsere viel geübten mechanischen Verrichtungen an die Hand geben und die wir jeden Augenblick ohne viele Mittel aufs neue erproben können. Daher die Autorität der mechanischen Erklärungen, namentlich jener durch Druck und Stoß. Eine noch höhere Autorität kommt dementsprechend den mathematischen Gedanken zu, zu deren Entwicklung wir der geringsten äußeren Mittel bedürfen, für welche wir vielmehr das Experimentiermaterial größtenteils stets mit uns herumtragen. Weiß man dies aber einmal, so schwächt sich eben damit das Bedürfnis nach mechanischen Erklärungen ab14).

14) Außermechanische physikalische Erfahrungen können sich, in dem Maße als sie geläufiger werden, dem Werte der mechanischen nähern. Stricker hat meines Erachtens einen richtigen und wichtigen Punkt getroffen, indem er (Studien über die Assoziation der Vorstellungen, Wien 1883) die Kausalität mit dem Willen in Zusammenhang bringt. Ich selbst habe 1861 als junger Dozent (bei Darlegung der Bedeutung der Millschen Differenzmethode), die später von Stricker ausgesprochene Ansicht mit großer Lebhaftigkeit und Einseitigkeit vertreten. Der Gedanke hat mich auch nie ganz verlassen (vgl. z. B. "Die Mechanik in ihrer Entwicklung", Leipzig 1883, S. 78, 282, 456). Gegenwärtig bin ich aber, wie die obigen Ausführungen zeigen, doch der Meinung, daß diese Frage nicht so einfach ist, und von mehreren Seiten betrachtet werden muß. Vgl. Wärmelehre, 2. Aufl., 1900, S. 432.     Daß man mit einer sogenannten kausalen Erklärung auch nur einen Tatbestand, einen tatsächlichen Zusammenhang konstatiert (oder beschreibt), habe ich schon mehrfach dargelegt, und ich könnte mich einfach auf meine ausführlichen Auseinandersetzungen in der "Wärmelehre" und in den "Populären Vorlesungen" berufen. Da aber der Physik Fernerstehende immer wieder weiter und tiefer zu denken glauben, wenn sie einen fundamentalen Unterschied zwischen einer naturwissenschaftlichen Beschreibung, z.B. einer embryonalen Entwicklung und einer physikalischen Erklärung annehmen, so seien noch einige Worte gestattet. Wenn wir das Wachstum einer Pflanze beschreiben, so bemerken wir, daß so viele und mannigfaltige Umstände, die von Fall zu Fall variieren, hierbei im Spiel sind, daß unsere Beschreibung höchstens in den gröberen Zügen allgemein passen, in den feineren Einzelheiten aber nur für den Individualfall Geltung haben kann. Gerade so verhält es sich in physikalischen Fällen unter komplizierteren Umständen; nur sind letztere im allgemeinen doch einfacher und besser bekannt. Wir können die Umstände deshalb besser experimentell und auch intellektuell (durch Abstraktion) trennen, wir können leichter schematisieren. Die Bewegung der Planeten zu beschreiben, war für die antike Astronomie eine analoge Aufgabe, wie die Beschreibung der Entwicklung einer Pflanze für den modernen Botaniker. Die Auffindung der Keplerschen Gesetze beruht auf einer glücklichen, ziemlich rohen Schematisierung. Je genauer wir einen Planeten betrachten, desto individueller wird seine Bewegung, desto weniger folgt sie den Keplerschen Gesetzen. Genau genommen, bewegt sich jeder Planet anders, und derselbe Planet verschieden zu verschiedenen Zeiten. Wenn nun Newton die Planetenbewegungen "kausal erklärt", indem er statuiert, daß ein Massenteilchen m durch ein anderes m' die Beschleunigung  erfährt, und daß die von verschiedenen Massenteilchen an ersterem bestimmten Beschleunigungen sich geometrisch summieren, werden wieder nur Tatsachen konstatiert oder beschrieben, welche sich (wenn auch auf einem Umwege) durch Beobachtung ergeben haben. Betrachten wir, was hierbei geschieht. Zunächst sind die bei der Planetenbewegung maßgebenden Umstände (die einzelnen Massenteilchen und ihre Entfernungen) getrennt. Das Verhalten zweier Massenteilchen ist sehr einfach, und wir glauben alle Umstände (Masse und Entfernung), welche dasselbe bestimmen, zu kennen. Wir nehmen die Beschreibung, die für wenige Fälle als richtig befunden ist, auch über die Grenzen der Erfahrung als allgemein richtig an, indem wir keine Störung durch einen unbekannten fremdartigen Umstand besorgen, worin wir uns allerdings täuschen könnten, wenn sich z. B. die Gravitation, als durch ein Medium zeitlich übertragen, herausstellen sollte. Ebenso einfach ist die Modifikation des Verhaltens, wenn zu zwei Teilchen ein drittes, zu diesen ein viertes usw. hinzutritt, wie dies angedeutet wurde. Die Beschreibung eines Individualfalles ist also die Newtonsche Beschreibung allerdings nicht; sie ist eine Beschreibung in den Elementen. Indem Newton beschreibt, wie sich die Massenelemente in den Zeitelementen verhalten, gibt er uns die Anweisung, die Beschreibung eines beliebigen Individualfalles aus den Elementen nach einer Schablone herzustellen. So ist es auch in den übrigen Fällen, welche die theoretische Physik bewältigt hat. Dies ändert aber nichts an dem Wesen der Beschreibung. Es handelt sich um eine generelle Beschreibung in den Elementen. Wenn man an einer Darstellung der Erscheinungen durch Differenzialgleichungen sich genügen läßt, wie ich es vor langer Zeit (Mechanik, 1883, 4. Aufl. 1901, S. 530) empfohlen habe, und wie es immer mehr in Aufnahme kommt, so liegt darin tatsächlich die Anerkennung der Erklärung als einer Beschreibung in den Elementen. Jeder Einzelfall läßt sich dann aus räumlichen und zeitlichen Elementen zusammensetzen, in welchen das physikalische Verhalten durch die Gleichungen beschrieben ist.

17.

Es wurde zuvor gesagt, daß der Mensch selbst ein Stück Natur sei. Es sei erlaubt, dies durch ein Beispiel zu erläutern. Ein Stoff kann für den Chemiker lediglich durch die Sinnesempfindungen genügend charakterisiert sein. Dann liefert der Chemiker selbst durch innere Mittel den ganzen zur Bestimmung des Gedankenlaufs nötigen Reichtum der Tatsache. Es kann aber in anderen Fällen die Vornahme von Reaktionen mit Hilfe äußerer Mittel nötig werden. Wenn ein Strom eine in seiner Ebene befindliche Magnetnadel umkreist, so weicht der Nordpol der Nadel zu meiner Linken aus, sobald ich mich in dem Strom als Ampèrescher Schwimmer denke. Ich bereichere die Tatsache (Strom und Nadel), die für sich meinen Gedankenlauf nicht genügend bestimmt, indem ich mich selbst zuziehe (durch eine innere Reaktion). Ich kann auch auf die Ebene des Stromkreises eine Taschenuhr legen, so daß der Zeiger der Strombewegung folgt. Dann schlägt der Südpol vor, der Nordpol hinter das Zifferblatt. Oder ich mache den Stromkreis zur Sonnenuhr, nach welcher ja die Taschenuhr15) gebildet ist, so daß der Schatten dem Strom folgt. Dann wendet sich der Nordpol nach der beschatteten Seite der Stromebene. Die beiden letzteren Reaktionen sind äußere. Beide Arten zugleich können nur brauchbar sein, wenn zwischen mir und der Welt keine Kluft besteht. Die Natur ist ein Ganzes. Daß nicht in allen Fällen beiderlei Reaktionen bekannt sind, und daß der Beobachter in manchen Fällen einflußlos scheint, beweist nichts gegen die vorgebrachte Ansicht.

15) Die Uhr trägt in dem Drehungssinn des Zeigers die Spur ihrer Abstammung von der Sonnenuhr an sich und ihrer Erfindung auf der nördlichen Hemisphäre.     Rechts und links erscheinen uns gleich, im Gegensatze zu vorn und hinten, oben und unten. Doch sind sie gewiß nur verschiedene Empfindungen, welche durch stärkere gleiche übertäubt sind. Der Raum der Empfindung hat also drei ausgezeichnete wesensverschiedene Richtungen. Für metrische Betrachtungen sind alle Richtungen des geometrischen Raumes gleich. Symmetrische Gebilde, welche uns die unmittelbare Empfindung als äquivalent vorspiegelt, sind es aber in physischer Beziehung durchaus nicht. Auch der physische Raum hat drei wesensverschiedene Richtungen, welche sich in einem triklinen Medium, in dem Verhalten eines elektromagnetischen Elementes am deutlichsten offenbaren. Dieselben physischen Eigenschaften kommen eben auch in unserem Leib zum Vorschein, und daher die Verwendbarkeit desselben als Reagens in physikalischen Fragen. Die genaue physiologische Kenntnis eines Elementes unseres Leibes wäre zugleich eine wesentliche Grundlage unseres physikalischen Weltverständnisses. Vergleiche Kap. V.

18.

Die wiederholt betonte Einheit des Physischen und Psychischen verdient noch von einer besonderen Seite ins Auge gefaßt zu werden. Unser psychisches Leben, sofern wir darunter die Vorstellungen verstehen, scheint recht unabhängig von den physischen Vorgängen zu sein, sozusagen eine Welt für sich, mit freiem Gesetzen, mit Gesetzen von anderer Ordnung. Das ist aber gewiß nur ein Schein, der daher rührt, daß immer nur ein winziger Teil der Spuren der physischen Vorgänge in den Vorstellungen lebendig wird. Die Umstände, welche diesen Teil bestimmen, sind so unübersehbar kompliziert, daß wir keine genaue Regel angeben können, nach welcher dies geschieht. Um zu bestimmen, welche Gedanken etwa ein Physiker an die Beobachtung einer gewissen optischen Tatsache knüpfen wird, müßte man die Erlebnisse seiner früheren Tage, die Stärke der Eindrücke, welche sie hinterlassen haben, die Tatsachen der allgemeinen und technischen Kulturentwicklung, welche auf ihn Einfluß genommen haben, kennen, endlich noch im stande sein, seine augenblickliche Stimmung in Rechnung zu ziehen. Dazu wäre die gesamte Physik im weitesten Sinne, und auf einer unerreichbar hohen Entwicklungsstufe als Hilfswissenschaft nötig16).

16) So sehr ich also eine rein physiologische Psychologie als Ideal hochschätze, würde es mir doch als eine Verkehrtheit erscheinen, die sogenannte ,,introspektive" Psychologie ganz abzuweisen, da die Selbstbeobachtung nicht nur ein sehr wichtiges, sondern in vielen Fällen das einzige Mittel ist, um über grundlegende Tatsachen Aufschluß zu erhalten.     Betrachten wir nun das Gegenbild. Eine physikalische Tatsache, die wir zum ersten Mal erleben, ist uns fremd. Sie könnte ganz anders verlaufen, als es geschieht, sie würde uns darum nicht sonderbarer scheinen. Ihr Verlauf erscheint uns an sich durch nichts bestimmt, am allerwenigsten eindeutig bestimmt. Wodurch der Verlauf einer Tatsache den Charakter der Bestimmtheit gewinnt, kann nur aus der psychischen Entwicklung verstanden werden. Durch das Vorstellungsleben tritt die Tatsache erst aus ihrer Isoliertheit heraus, kommt dieselbe mit einer Fülle anderer Tatsachen in Kontakt, und gewinnt nun Bestimmtheit durch die Forderung der Übereinstimmung mit letzteren und durch die Ausschließung des Widerspruches. Die Psychologie ist Hilfswissenschaft der Physik. Beide Gebiete stützen sich gegenseitig und bilden nur in ihrer Verbindung eine vollständige Wissenschaft. Der Gegensatz von Subjekt und Objekt (in gewöhnlichem Sinne) besteht auf unserem Standpunkte nicht. Die Frage der mehr oder weniger genauen Abbildung der Tatsachen durch die Vorstellungen ist eine naturwissenschaftliche Frage, wie jede andere Frage.

19.

Wenn in einem Komplex von Elementen einige durch andere ersetzt werden, so geht eine Beständigkeit der Verbindung in eine andere Beständigkeit über. Es ist nun wünschenswert, eine Beständigkeit aufzufinden, welche diesen Wechsel überdauert. J. R. Mayer hat zuerst dies Bedürfnis gefühlt, und hat demselben durch Aufstellung seines Begriffes "Kraft" genügt, welcher dem Begriff Arbeit (Poncelet) der Mechaniker, oder genauer dem allgemeinem Begriff Energie (Th. Young) entspricht. Er stellt sich diese Kraft (oder Energie) als etwas absolut Beständiges (wie einen Vorrat oder Stoff) vor, und geht so bis auf die stärksten und anschaulichsten Gedanken zurück. Aus dem Ringen mit dem Ausdruck, mit allgemeinen philosophischen Phrasen (in der 1. und 2. Abhandlung Mayers) sehen wir, daß sich ihm zuerst unwillkürlich und instinktiv das starke Bedürfnis nach einem solchen Begriff aufgedrängt hat. Dadurch aber, daß er die vorhandenen physikalischen Begriffe den Tatsachen und seinem Bedürfnis angepaßt hat, ist erst die große Leistung zustande gekommen17).

             17) Vgl. Prinzipien der Wärmelehre, 2. Aufl. 1900.

20.

Bei genügender Anpassung werden die Tatsachen von den Gedanken spontan abgebildet, und teilweise gegebene Tatsachen ergänzt. Die Physik kann nur als quantitatives Regulativ wirken, und die spontan verlaufenden Gedanken, dem praktischen oder wissenschaftlichen Bedürfnis entsprechend, bestimmter gestalten. Wenn ich einen Körper horizontal werfen sehe, kann mir das anschauliche Bild der Wurfbewegung auftauchen. Für den Artilleristen oder Physiker ist mehr nötig. Er muß z. B. wissen, daß, wenn er an die horizontale Abszisse der Wurfbahn den Maßstab M anlegend, bis 1, 2, 3, 4 ... zählen kann, er, an die vertikalen Ordinaten den Maßstab M' anlegend, zugleich bis 1, 4, 9, 16 ... zählen muß, um zu einem Punkt der Wurfbahn zu gelangen. Die Funktion der Physik besteht also darin, zu lehren, daß eine Tatsache, welche auf eine bestimmte Reaktion R ein Empfindungsmerkmal E liefert, zugleich noch auf eine andere Reaktion R' ein anderes Merkmal E' zeigt. Hierdurch wird die bestimmtere Ergänzung einer teilweise gegebenen Tatsache möglich.
    Die Einführung der allgemein vergleichbaren, sogenannten absoluten Maße in die Physik, die Zurückführung aller physikalischen Messungen auf die Einheiten: Zentimeter, Gramme, Sekunde (Länge, Masse, Zeit) hat eine eigentümliche Folge. Es besteht ohnehin die Neigung, das physikalisch Faßbare und Meßbare, das gemeinschaftlich Konstatierbare18), für "objektiv" und "real" gegenüber den subjektiven Empfindungen zu halten. Diese Meinung erhält nun scheinbar eine Stütze, eine psychologische (wenn auch nicht logische) Motivierung durch die absoluten Maße. Es sieht so aus, als ob das, was wir in bekanntem Sinne Empfindungen nennen, in der Physik etwas ganz Überflüssiges wäre. Sehen wir genauer zu, so läßt sich ja das System der Maßeinheiten noch weiter vereinfachen. Denn die Maßzahl der Masse ist durch ein Beschleunigungsverhältnis gegeben, und die Zeitmessung kommt auf eine Winkel- oder Bogenlängenmessung zurück. Demnach ist die Längenmessung die Grundlage für alle Messungen. Allein den bloßen Raum messen wir nicht, wir brauchen einen körperlichen Maßstab, womit das ganze System mannigfaltiger Empfindungen wieder eingeführt ist. Nur sinnliche anschauliche Vorstellungen können zur Aufstellung der Gleichungen der Physik führen, und in eben solchen besteht deren Interpretation. Obschon also die Gleichungen nur räumliche Maßzahlen enthalten, sind dieselben auch nur das ordnende Prinzip, das uns anweist, aus welchen Gliedern in der Reihe der sinnlichen Elemente wir unser Weltbild zusammenzusetzen haben.

             18) In der Tat werden hierbei individuelle Zufälligkeiten eliminiert.

21.

Es wurde anderwärts19) ausgeführt, daß quantitative Aufstellungen sich von qualitativen nur dadurch unterscheiden, daß erstere sich auf ein Kontinuum von gleichartigen Fällen beziehen. Hiernach wäre die vorteilhafte Anwendung der Gleichungen zur Beschreibung nur in einem sehr beschränkten Gebiet zulässig. Es ist jedoch Aussicht vorhanden, dieses Gebiet sukzessive ins Unbegrenzte zu erweitern und zwar in folgender Art. Die möglichen (optischen) Empfindungen können, wenn auch nicht gemessen, doch nach psychophysischen Methoden durch Zahlen charakterisiert und inventarisiert werden. Irgend ein (optisches) Erlebnis kann nun beschrieben werden, indem man die Werte der Zahlencharakteristiken als abhängig von den Raum- und Zeitkoordinaten und von einander durch Gleichungen darstellt. Ahnliches wird man im Prinzip auch in anderen Sinnesgebieten für erreichbar halten dürfen. Der im Kap. II. gebrauchte Ausdruck hat also einen genau angebbaren Sinn.

             19) Zuletzt: Wärmelehre, S. 438, 459.

22.

Die Ermittlung der Abhängigkeit der Elemente ABC... von einander, unter Absehen von KLM, ist die Aufgabe der Naturwissenschaft, oder der Physik im weitesten Sinne. In Wirklichkeit sind aber die ABC... immer auch von KLM abhängig. Es bestehen immer Gleichungen von der Form f (A, B, C,... K, L, M...) = 0. Indem nun viele verschiedene Beobachter KLM..., K'L' M'..., K" L" M"... sich beteiligen, gelingt es, den zufälligen Einfluß der Variation von KLM... usw. zu eliminieren und nur das gemeinschaftlich Konstatierbare, die reine Abhängigkeit der ABC... von einander zu ermitteln. Hierbei verhalten sich die KLM..., K'L'M'... wie physikalische Apparate, von deren Eigentümlichkeiten, speziellen Konstanten usw. die Anzeigen, die Ergebnisse befreit werden müssen. Handelt es sich aber nur um den Zusammenhang einer quantitativen Reaktion mit andern quantitativen Reaktionen, wie in dem obigen Beispiele der Dynamik, so ist die Sache noch einfacher. Es kommt dann alles auf die Konstatierung von Gleichheit oder Identität der ABC... unter gleichen Umständen (unter gleichen KLM...), eigentlich nur auf Konstatierung von räumlichen Identitäten hinaus. Die Art der Empfindungsqualitäten ist nun gleichgültig; nur deren Gleichheit ist maßgebend. Ein einziges Individuum genügt nun, um Abhängigkeiten festzustellen, welche für jedes Individuum gelten. So wird von hier aus eine sichere Basis für das ganze Gebiet der Forschung gewonnen. Auch der Psychophysiologie gereicht dies zum Vorteil.

23.

Der Raum des Geometers ist durchaus nicht das bloße System der Raumempfindungen (des Gesichts- und Tastsinnes), sondern derselbe besteht vielmehr aus einer Menge von begrifflich idealisierten und formulierten physikalischen Erfahrungen, welche an die Raumempfindungen anknüpfen. Schon indem der Geometer seinen Raum als an allen Stellen und nach allen Richtungen gleich beschaffen betrachtet, geht er weit über den dem Tast- und Gesichtssinn gegebenen Raum hinaus, welcher diese einfache Eigenschaft durchaus nicht hat (S. 138, 148 u. f.). Ohne physikalische Erfahrung würde er nie dahin gelangen. Die grundlegenden Sätze der Geometrie werden auch tatsächlich nur durch physikalische Erfahrungen, durch Anlegen von Längen und Winkelmaßstäben gewonnen, durch Anlegen starrer Körper aneinander. Ohne Kongruenzsätze keine Geometrie. Abgesehen davon, daß Raumbilder uns ohne physikalische Erfahrung gar nicht auftauchen würden, wären wir auch nicht imstande, dieselben aneinander anzulegen, um ihre Kongruenz zu prüfen Wenn wir einen Zwang fühlen, ein gleichschenkliges Dreieck auch mit gleichen Winkeln an der Grundlinie vorzustellen, so beruht derselbe auf der Erinnerung an starke Erfahrungen. Beruhte der Satz auf "reiner Anschauung", so brauchten wir ihn nicht zu lernen. Daß man in der bloßen geometrischen Phantasie Entdeckungen machen kann, wie es täglich geschieht, zeigt nur, daß auch die Erinnerung an die Erfahrung uns noch Momente zum Bewußtsein bringen kann, die früher unbeachtet blieben, so wie man an dem Nachbild einer hellen Lampe noch neue Einzelheiten zu bemerken vermag. Selbst die Zahlenlehre muß in ähnlicher Weise aufgefaßt werden. Auch ihre grundlegenden Sätze werden von der Erfahrung nicht ganz unabhängig sein.
    Das Überzeugende der Geometrie (und der ganzen Mathematik) beruht nicht darauf, daß ihre Lehren durch eine ganz besondere Art der Erkenntnis gewonnen werden, sondern nur darauf, daß ihr Erfahrungsmaterial uns besonders leicht und bequem zur Hand ist, besonders oft erprobt wurde und jeden Augenblick wieder erprobt werden kann. Auch ist das Gebiet der Raumerfahrung ein viel beschränkteres, als das der gesamten Erfahrung. Die Überzeugung, das erstere im wesentlichen erschöpft zu haben, wird alsbald Platz greifen und das nötige Selbstvertrauen erzeugen20).

20) Vgl. Wärmelehre, S. 455. — Meinong, Hume-Studien, Wien 1877. — Zindler, Beitr. z. Theorie d. mathem. Erkenntnis, Wien 1889.
24.

Ein ähnliches Selbstvertrauen, wie der Geometer, hat ohne Zweifel auch der Komponist, der in dem Gebiet der Tonempfindungen, der Ornamentenmaler, der im Gebiet der Farben-empfindungen reiche Erfahrungen gewonnen hat. Dem einen wird kein Raumgebilde vorkommen, dessen Elemente ihm nicht wohlbekannt wären, die beiden andern werden auf keine neue Ton oder Farbenkombination stoßen. Ohne Erfahrung wird aber der Anfänger in der Geometrie durch die Ergebnisse seiner Tätigkeit nicht minder überrascht oder enttäuscht, als der junge Musiker oder Ornamentist.
    Der Mathematiker, der Komponist, der Ornamentist und der Naturforscher, welche sich der Spekulation ergeben, verfahren trotz der Verschiedenheit des Stoffes und Zweckes ihrer Tätigkeit in ganz analoger Weise. Der erstere ist allerdings wegen der größten Beschränktheit des Stoffes gegen alle in Bezug auf die Sicherheit seines Vorgehens im Vorteil, der letztere aus dem entgegengesetzten Grunde gegen alle im Nachteil.

25.

Die Unterscheidung des physiologischen und geometrischen Raumes hat sich als unvermeidlich erwiesen. Indem aber geometrische Einsicht durch die räumliche Vergleichung der Körper miteinander gewonnen wird, kann auch schon die Zeit nicht außer Betracht bleiben, da es unmöglich ist, hierbei vom Transport der Körper abzusehen. Raum und Zeit stehen in einem innigem Zusammenhange, und zeigen sich hierbei relativ unabhängig von andern physikalischen Elementen. Dies spricht sich in der Bewegung der Körper bei sonstiger relativer Konstanz ihrer übrigen Eigenschaften aus. Die Entstehung einer reinen Geometrie, Phoronomie und Mechanik wird eben dadurch möglich.
    Wenn wir genau zusehen, so bedeuten Raum und Zeit in physiologischer Beziehung besondere Arten von Empfindungen, in physikalischer Beziehung aber funktionale Abhängigkeiten der durch Sinnesempfindungen charakterisierten Elemente von einander. Indem die räumlichen und zeitlichen physiologischen Indices, welche durch Teile und Vorgänge unseres Leibes bedingt sind, bei gleichen physiologischen Umständen untereinander verglichen werden, ergeben sich Abhängigkeiten der physikalischen Elemente von einander. (Abhängigkeit der Elemente eines Körpers von jenen eines andern, Abhängigkeit der Elemente eines Vorgangs von jenen eines andern). Auf Grund dieser Einsicht kann man zeitliche und räumliche Bestimmungen rein physikalisch vornehmen. Was mit dem kleineren Teil eines stetig einsinnig ablaufenden Vorgangs zusammentrifft, ist zeitlich früher. Im homogen erfüllten Raum ist der Ort B dem Ort A näher als ein anderer, wenn B von dem von A aus erregten Vorgang früher erreicht wird, als jener andere. Die Gerade ist der Inbegriff der durch die physikalische Beziehung zweier Punkte (unendlich kleiner Körper) eindeutig bestimmten Orte. Der Ort C liegt im Halbierungspunkt der Geraden AB, wenn derselbe im homogenen Raum durch Vorgänge von A und B aus in gleicher Zeit erreicht wird, und in kürzerer Zeit als jeder andere, der erstere Eigenschaft mit ihm teilt.

26.

Die Zeit des Physikers fällt nicht mit dem System der Zeitempfindungen zusammen. Wenn der Physiker eine Zeit bestimmen will, so legt er identische oder als identisch vorausgesetzte Vorgänge, Pendelschwingungen, Erdrotationen usw., als Maßstab an. Die mit der Zeitempfindung verknüpfte Tatsache wird also einer Reaktion unterworfen, und das Ergebnis derselben, die Zahl, zu der man gelangt, dient nun statt der Zeitempfindung zur nähern Bestimmung des Gedankenlaufs. Ganz ebenso richten wir unsere Gedanken über Wärmevorgänge nicht nach der Wärmeempfindung, die uns die Körper liefern, sondern nach der viel bestimmteren, welche durch die Thermometerreaktion bei Ablesung des Standes des Quecksilberfadens sich ergibt. Gewöhnlich wird an die Stelle der Zeitempfindung eine Raumempfindung (Drehungswinkel der Erde, Weg des Zeigers auf dem Uhrzifferblatt), und für die letztere wieder eine Zahl gesetzt. Stellt man z. B. den Temperaturüberschuß eines abkühlenden Körpers über die Umgebung durch J = Qe - kt dar, so ist t jene Zahl.
    Die Beziehung, in welcher die Größen einer Gleichung stehen, ist gewöhnlich (analytisch) eine allgemeinere als diejenige, welche man durch die Gleichung darstellen will. So haben in der Gleichung = 1 alle beliebigen Werte von x einen analytischen Sinn, und liefern zugehörige Werte von y. Verwenden wir aber diese Gleichung zur Darstellung einer Ellipse, so haben nur die Werte von x < a und von y < b einen (reellen) geometrischen Sinn.
    Ähnlich müßte man, wenn dies nicht auf der Hand läge, ausdrücklich hinzufügen, daß die Gleichung J = Qe - kt nur für wachsende Werte von t den Vorgang darstellt.
    Denken wir uns den Verlauf verschiedener Tatsachen, z. B. die Abkühlung eines Körpers und den freien Fall eines andern, durch solche Gleichungen dargestellt, welche die Zeit enthalten, so kann aus denselben die Zeit eliminiert, und etwa der Temperaturüberschuß durch den Fallraum bestimmt werden. Die Elemente stellen sich dann einfach als abhängig von einander dar. Man müßte aber den Sinn einer solchen Gleichung durch die Hinzufügung näher bestimmen, daß nur wachsende Fallräume oder abnehmende Temperaturen nach einander einzusetzen seien.
    Wenn wir so den Temperaturüberschuß durch den Fallraum bestimmt denken, so ist die Abhängigkeit keine unmittelbare. Darin stimme ich Petzoldt21) bei. Die Abhängigkeit ist aber ebenfalls keine unmittelbare, wenn wir den Temperaturüberschuß durch den Drehungswinkel der Erde bestimmt setzen, Denn niemand wird glauben, daß noch dieselben Temperaturwerte auf dieselben Winkelwerte entfallen würden, wenn die Erde etwa durch einen Stoß ihre Rotationsgeschwindigkeit ändern würde. Aus solchen Betrachtungen scheint mir doch zu folgen, daß unsere Aufstellungen provisorische sind, welche auf teilweiser Unkenntnis gewisser maßgebender, uns unzugänglicher unabhängig Variablen beruhen. Nur so wollte ich seiner Zeit meinen Hinweis auf eine Unbestimmtheit verstanden wissen22). Diese Ansicht ist auch sehr wohl verträglich mit der Aufstellung eindeutiger Bestimmtheiten, welche immer unter Voraussetzung gegebener Umstände und unter Abstraktion von ungewöhnlichen und unerwarteten Änderungen stattfindet. Diese Auffassung ist, wie mir scheint, unvermeidlich, wenn man bedenkt, daß der von Petzoldt betonte Unterschied simultaner und sukzedaner Abhängigkeiten wohl für die anschauliche Vorstellung, nicht aber für die Gleichungen gilt, welche für erstere das quantitative Regulativ sind. Letztere können nur einerlei Art sein, nur simultane Abhängigkeiten aussprechen. Der Indeterminismus in gewöhnlichem Sinne, etwa die Annahme einer Willensfreiheit im Sinne mancher Philosophen und Theologen liegt mir gänzlich fern.

             21) Petzoldt, Das Gesetz der Eindeutigkeit. Vierteljahrsschrift f. Wissenschaftl. Philosophie, XIX, S. 146 fg.

             22) Mach, Erhaltung der Arbeit. Prag 1872.

    Die Zeit ist nicht umkehrbar. Ein warmer Körper in kalter Umgebung kühlt nur ab, und erwärmt sich nicht. Mit größeren (späteren) Zeitempfindungen sind nur kleinere Temperatur-überschüsse verknüpft. Ein Haus in Flammen brennt nieder, und baut sich nicht auf. Die Pflanze kriecht nicht, sich verkleinernd, in die Erde, sondern wächst, sich vergrößernd, hervor. Die Tatsache der Nichtumkehrbarkeit der Zeit reduziert sich darauf, daß die Wertänderungen der physikalischen Größen in einem bestimmten Sinne stattfinden. Von den beiden analyti-schen Möglichkeiten ist nur die eine wirklich. Ein metaphysisches Problem brauchen wir hierin nicht zu sehen.
    Veränderungen können nur durch Differenzen bestimmt sein. Im Unterschiedslosen gibt es keine Bestimmung. Die eintretende Veränderung kann die Unterschiede vergrößern oder verkleinern. Hätten aber die Differenzen die Tendenz, sich zu vergrößern, so würde die Veränderung ins Unendliche und Ziellose gehen. Mit dem allgemeinen Weltbild, oder vielmehr jenem unserer beschränkten Umgebung, verträgt sich nur die Annahme einer im allgemeinen differenzverkleinernden Tendenz. Es würde aber bald überhaupt nichts mehr geschehen, wenn nicht von außen differenzsetzende Umstände, in unsere Umgebung eindringend, sich geltend machen würden.
    Wir können auch, wie Petzoldt, aus unserem eigenen Bestehen, aus unserer körperlichen und geistigen Stabilität, auf die Stabilität, eindeutige Bestimmtheit und Einsinnigkeit der Vorgänge in der Natur schließen. Denn nicht nur sind wir selbst ein Stück Natur, sondern die genannten Eigenschaften in unserer Umgebung bedingen unser Bestehen und Denken (vgl. Populärwiss. Vorlesungen, 3. Aufl., S. 250). Allein zuviel läßt sich hierauf nicht bauen, denn die Organismen sind ein eigenartiges Stück Natur von sehr begrenzter und mäßiger Stabilität, welche ja tatsächlich auch zugrunde gehen, und zu deren Erhaltung anderseits eine nur mäßige Stabilität der Umgebung genügt. Es wird also am zweckmäßigsten sein, die Grenzen unseres Wissens, die sich überall zeigen, anzuerkennen und das Streben nach eindeutiger Bestimmtheit als ein Ideal anzusehen, das wir in unserem Denken, soweit als möglich, verwirklichen.
    Ich betrachte die Sätze, die ich in der Zeit der größten Gärung meiner Gedanken (1871) niedergeschrieben habe, namentlich in ihrer Form, selbstverständlich nicht als unangreifbar, und sehe auch die Einwendungen von Petzoldt keineswegs als mutwillige an, hoffe aber, wenn ich ausführlicher auf den Gegenstand zurückkomme, den ich hier nur kurz berühren konnte, ohne das Wesentliche meiner Ansicht aufzugeben, doch eine volle Verständigung zu erzielen23).

23) Weitere Ausführungen über das hier Behandelte enthält meine kürzlich erschienene Schrift ,,Erkenntnis und Irrtum", 1905, insbesondere S. 426—440.