1.
Welchen Gewinn zieht nun die Physik aus den vorausgehenden Untersuchungen? Zunächst fällt ein sehr verbreitetes Vorurteil und mit diesem eine Schranke. Es gibt keine Kluft zwischen Psychischem und Physischem, kein Drinnen und Draußen, keine Empfindung, der ein äußeres von ihr verschiedenes Ding entspräche. Es gibt nur einerlei Elemente, aus welchen sich das vermeintliche Drinnen und Draußen zusammensetzt, die eben nur, je nach der temporären Betrachtung, drinnen oder draußen sind.
2.
Die Grundanschauungen der Menschen bilden sich naturgemäß
in der Anpassung an einen engeren oder weiteren Erfahrungs- und Gedankenkreis.
Dem Physiker genügt vielleicht noch der Gedanke einer starren Materie,
deren einzige Veränderung in der Bewegung, der Ortsveränderung
besteht. Der Physiologe, beziehungsweise der Psychologe, vermag mit solchem
Ding gar nichts anzufangen. Wer aber an den Zusammenschluß der Wissenschaften
zu einem Ganzen denkt, muß nach einer Vorstellung suchen, die er
auf allen Gebieten festhalten kann. Wenn wir nun die ganze materielle Welt
in Elemente auflösen, welche zugleich auch Elemente der psychischen
Welt sind, die als solche letztere gewöhnlich Empfindungen heißen,
wenn wir ferner die Erforschung der Verbindung, des Zusammenhanges, der
gegenseitigen Abhängigkeit dieser gleichartigen Elemente aller Gebiete
als die einzige Aufgabe der Wissenschaft ansehen; so können wir mit
Grund erwarten, auf dieser Vorstellung einen einheitlichen, monistischen
Bau aufzuführen und den leidigen verwirrenden Dualismus los zu werden.
Indem man die Materie als das absolut Beständige und Unveränderliche
ansieht, zerstört man ja in der Tat den Zusammenhang zwischen Physik
und Psychologie.
Erkenntniskritische Erwägungen können
zwar keinem Menschen schaden, allein der Spezialforscher, z. B. der Physiker,
hat keinen Grund, sich allzusehr durch solche Betrachtungen beunruhigen
zu lassen. Scharfe Beobachtung und ein glücklicher Instinkt sind für
ihn sehr sichere Führer. Seine Begriffe, sofern sie sich als unzureichend
erweisen sollten, werden durch die Tatsachen am besten und schnellsten
berichtigt. Wenn es sich aber um die Verbindung von Nachbargebieten von
verschiedenem und eigenartigem Entwicklungsgang handelt, so kann dieselbe
nicht mit Hilfe der beschränkteren Begriffe eines engen Spezialgebietes
vollzogen werden. Hier müssen durch allgemeinere Erwägungen für
das weitere Gebiet ausreichende Begriffe geschaffen werden. Nicht jeder
Physiker ist Erkenntniskritiker, nicht jeder muß oder kann es auch
nur sein. Die Spezialforschung beansprucht eben einen ganzen Mann, die
Erkenntnistheorie aber auch.
Bald nach Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift
belehrte mich ein Physiker darüber, wie ungeschickt ich meine Aufgabe
angefaßt hätte. Man könne, meinte er, die Empfindungen
nicht analysieren, bevor die Bahnen der Atome im Gehirn nicht bekannt seien.
Dann allerdings würde sich alles von selbst ergeben. Diese Worte,
welche vielleicht bei einem Jüngling der Laplaceschen Zeit
auf fruchtbaren Boden gefallen wären, und sich zu einer psychologischen
Theorie auf Grund "verborgener Bewegungen"(!) entwickelt hätten, konnten
mich natürlich nicht mehr bessern. Sie hatten aber doch die Wirkung,
daß ich Dubois mit seinem "Ignorabimus", das mir bis dahin
als die größte Verirrung erschienen war, im stillen Abbitte
leistete. War es doch ein wesentlicher Fortschritt, daß Dubois
die Unlösbarkeit seines Problems erkannte, und war diese Erkenntnis
doch für viele Menschen eine Befreiung, wie der sonst kaum begreifliche
Erfolg seiner Rede beweist2). Den wichtigen
Schritt der Einsicht, daß ein prinzipiell als unlösbar erkanntes
Problem auf einer verkehrten Fragenstellung beruhen muß, hat er allerdings
nicht getan. Denn auch er hielt, wie unzählige andere, das Handwerkszeug
einer Spezialwissenschaft für die eigentliche Welt.
2) Dubois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, 1872.
3.
Die Wissenschaften können sich sowohl durch den Stoff unterscheiden
als auch durch die Art der Behandlung dieses Stoffes. Alle Wissenschaft
geht aber darauf aus, Tatsachen in Gedanken darzustellen, entweder zu praktischen
Zwecken oder zur Beseitigung des intellektuellen Unbehagens. Knüpfen
wir an die Bezeichnung der "Vorbemerkungen" an, so entsteht Wissenschaft,
indem durch die a b
g... der Zusammenhang der übrigen Elemente
nachgebildet wird. Beispielsweise entsteht Physik (in weitester Bedeutung)
durch Nachbildung der ABC ... in ihrer Beziehung zu einander, Physiologie
oder Psychologie der Sinne durch Nachbildung der Beziehung von ABC ...
zu KLM, Physiologie durch Nachbildung der Beziehung der KLM ... zu einander
und zu ABC ... Die Nachbildung der a b
g... durch andere a
b g führt zu
den eigentlichen psychologischen Wissenschaften.
Man könnte nun z. B. in bezug auf Physik der
Ansicht sein, daß es weniger auf Darstellung der sinnlichen Tatsachen
als auf die Atome, Kräfte und Gesetze ankommt, welche gewissermaßen
den Kern jener sinnlichen Tatsachen bilden. Unbefangene Überlegung
lehrt aber, daß jedes praktische und intellektuelle Bedürfnis
befriedigt ist, sobald unsere Gedanken die sinnlichen Tatsachen vollständig
nachzubilden vermögen. Diese Nachbildung ist also Ziel und Zweck der
Physik, die Atome, Kräfte, Gesetze hingegen sind nur die Mittel, welche
uns jene Nachbildung erleichtern. Der Wert der letzteren reicht nur so
weit, als ihre Hilfe.
4.
Wir sind über irgend einen Naturvorgang, z. B. ein Erdbeben, so
vollständig als möglich unterrichtet, wenn unsere Gedanken uns
die Gesamtheit der zusammengehörigen sinnlichen Tatsachen so vorführen,
daß sie fast als ein Ersatz derselben angesehen werden können,
daß uns die Tatsachen selbst als bekannte entgegentreten, daß
wir durch dieselben nicht überrascht werden. Wenn wir in Gedanken
das unterirdische Dröhnen hören, die Schwankung fühlen,
die Empfindung beim Heben und Senken des Bodens, das Krachen der Wände,
das Abfallen des Anwurfs, die Bewegung der Möbel und Bilder, das Stehenbleiben
der Uhren, das Klirren und Springen der Fenster, das Verziehen der Türstöcke
und Festklemmen der Türen uns vergegenwärtigen, wenn wir die
Welle, die durch den Wald wie durch ein Kornfeld zieht, und die Äste
bricht, die in eine Staubwolke gehüllte Stadt im Geiste sehen, die
Glocken ihrer Türme anschlagen hören, wenn uns auch noch die
unterirdischen Vorgänge, welche zur Zeit noch unbekannt sind, sinnlich
so vor Augen stehen, daß wir das Erdbeben herankommen sehen wie einen
fernen Wagen, bis wir endlich die Erschütterung unter den Füßen
fühlen, so können wir mehr Einsicht nicht verlangen. Können
wir auch die Teiltatsachen nicht in dem richtigen Ausmaß kombinieren
ohne gewisse (mathematische) Hilfsvorstellungen oder geometrische Konstruktionen,
so ermöglichen letztere unseren Gedanken doch nur nach und nach zu
leisten, was sie nicht auf einmal vermögen. Diese Hilfsvorstellungen
wären aber wertlos, wenn wir mit denselben nicht bis zur Darstellung
der sinnlichen Tatsachen vordringen könnten.
Wenn ich das auf ein Prisma fallende weiße
Lichtbündel in Gedanken als Farbenfächer austreten sehe mit bestimmten
Winkeln, die ich voraus bezeichnen kann, wenn ich das reelle Spektralbild
sehe, das beim Vorsetzen einer Linse auf einen Schirm entsteht, darin die
Fraunhoferschen Linien an voraus bekannten Stellen, wenn ich im Geiste
sehe, wie sich die letzteren verschieben, sobald das Prisma gedreht wird,
sobald die Substanz des Prismas wechselt, sobald ein dasselbe berührendes
Thermometer seinen Stand ändert, so weiß ich alles, was ich
verlangen kann. Alle Hilfsvorstellungen, Gesetze, Formeln sind nur das
quantitative Regulativ meiner sinnlichen Vorstellung. Diese ist das Ziel,
jene sind die Mittel.
5.
Die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen ist also das Ziel aller
naturwissenschaftlichen Arbeit. Die Wissenschaft setzt hier nur absichtlich
und bewußt fort, was sich im täglichen Leben unvermerkt von
selbst vollzieht. Sobald wir der Selbstbeobachtung fähig werden, finden
wir unsere Gedanken den Tatsachen schon vielfach angepaßt vor. Die
Gedanken führen uns die Elemente in ähnlichen Gruppen vor, wie
die sinnlichen Tatsachen. Der begrenzte Gedankenvorrat reicht aber nicht
für die fortwährend wachsende Erfahrung. Fast jede neue Tatsache
bringt eine Fortsetzung der Anpassung mit sich, die sich im Prozeß
des Urteilens äußert.
Man kann diesen Vorgang an Kindern sehr gut beobachten.
Ein Kind kommt zum erstenmal aus der Stadt aufs Land, etwa auf eine große
Wiese, sieht sich da nach allen Seiten um, und spricht verwundert: "Wir
sind in einer Kugel. Die Welt ist eine blaue Kugel3)".
Hier haben wir zwei Urteile. Was geht vor, indem dieselben gebildet werden?
Die fertige sinnliche Vorstellung "wir" (die begleitende Gesellschaft)
wird durch die ebenfalls schon vorhandene Vorstellung einer Kugel zu einem
Bilde ergänzt. Ähnlich wird in dem zweiten Urteil das Bild der
"Welt" (alle Gegenstände der Umgebung) durch die einschließende
blaue Kugel (deren Vorstellung auch schon vorhanden war, weil sonst der
Name gefehlt hätte) ebenfalls ergänzt. Ein Urteil ist also immer
eine Ergänzung einer sinnlichen Vorstellung zur vollständigeren
Darstellung einer sinnlichen Tatsache. Ist das Urteil in Worten ausdrückbar,
so besteht es sogar immer in einer Zusammensetzung der neuen Vorstellung
aus schon vorhandenen Erinnerungsbildern, welche auch beim Angesprochenen
durch Worte hervorgelockt werden können.
Derartige intuitive Erkenntnisse prägen sich dem Gedächtnis ein und treten als jede gegebene sinnliche Tatsache spontan ergänzende Erinnerungen auf. Die verschiedenen Tatsachen gleichen sich nicht vollständig. Die verschiedenen Fällen gemeinsamen Bestandteile der sinnlichen Vorstellung werden aber gekräftigt, und es kommt dadurch ein Prinzip der möglichsten Verallgemeinerung oder Kontinuität in die Erinnerung. Anderseits muß die Erinnerung, soll sie der Mannigfaltigkeit der Tatsachen gerecht werden, und überhaupt nützlich sein, dem Prinzip der zureichenden Differenzierung entsprechen. Schon das Tier wird durch lebhaft rot und gelb gefärbte (ohne Anstrengung am Baum sichtbare) weiche Früchte an deren süßen, durch grüne (schwer sichtbare) harte Früchte an deren saueren Geschmack erinnert werden. Der Insekten jagende Affe hascht nach allem, was schwirrt und fliegt, hütet sich aber vor der gelb und schwarz gefleckten Fliege, der Wespe. In diesen Beispielen spricht sich deutlich genug das Bestreben nach möglichster Verallgemeinerung und Kontinuität, sowie nach praktisch zureichender Differenzierung der Erinnerung aus. Und beide Tendenzen werden durch dasselbe Mittel, die Aussonderung und Hervorhebung jener Bestandteile der sinnlichen Vorstellung, erreicht, welche für den zur Erfahrung passenden Gedankenlauf maßgebend sind. Ganz analog verfährt der Physiker, wenn er verallgemeinernd sagt, "alle durchsichtigen starren Körper brechen das aus der Luft einfallende Licht zum Lote", und wenn er differenzierend hinzufügt, "die tesseral kristallisierten und amorphen einfach, die übrigen doppelt".
7 .
Ein guter Teil der Gedankenanpassung vollzieht sich unbewußt und
unwillkürlich unter Leitung der sinnlichen Tatsachen. Ist diese Anpassung
ausgiebig genug geworden, um der Mehrzahl der auftretenden Tatsachen zu
entsprechen, und stoßen wir nun auf eine Tatsache, welche mit unserm
gewohnten Gedankenlauf in starkem Widerstreit steht, ohne daß man
sofort das maßgebende Moment zu erschauen vermöchte, welches
zu einer neuen Differenzierung führen würde, so entsteht ein
Problem. Das Neue, das Ungewöhnliche, das Wunderbare wirkt als Reiz,
welcher die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Praktische Gründe, oder
das intellektuelle Unbehagen allein, können den Willen zur Beseitigung
des Widerstreites, zur neuen Gedankenanpassung erzeugen. So entsteht die
absichtliche Gedankenanpassung, die Forschung.
Wir sehen z. B. einmal ganz gegen unsere Gewohnheit,
daß an einem Hebel oder Wellrad eine große Last durch eine
kleine gehoben wird. Wir suchen nach dem differenzierenden Moment, welches
uns die sinnliche Tatsache nicht unmittelbar zu bieten vermag. Erst wenn
wir, verschiedene ähnliche Tatsachen vergleichend, den Einfluß
der Gewichte und der Hebelarme bemerkt, und uns selbsttätig zu den
abstrakten Begriffen Moment oder Arbeit erhoben haben, ist das Problem
gelöst. Das Moment oder die Arbeit ist das differenzierende Element.
Ist die Beachtung des Momentes oder der Arbeit zur Denkgewohnheit geworden,
so existiert das Problem nicht mehr.
8.
Was tut man nun, indem man abstrahiert? Was ist eine Abstraktion? Was ist ein Begriff? Entspricht dem Begriff ein sinnliches Vorstellungsbild? Einen allgemeinen Menschen kann ich mir nicht vorstellen, höchstens einen besonderen, vielleicht einen, der zufällige Besonderheiten verschiedener Menschen, die sich nicht ausschließen, vereinigt. Ein allgemeines Dreieck, welches etwa zugleich rechtwinklig und gleichseitig sein müßte, ist nicht vorstellbar. Allein ein solches mit dem Namen des Begriffs auftauchendes, die begriffliche Operation begleitendes Bild ist auch nicht der Begriff. Überhaupt deckt ein Wort, welches aus Not zur Bezeichnung vieler Einzelvorstellungen verwendet werden muß, durchaus noch keinen Begriff. Ein Kind, das zuerst einen schwarzen Hund gesehen und nennen gehört hat, nennt z. B. alsbald einen großen schwarzen, rasch dahin laufenden Käfer ebenfalls "Hund", bald darauf ein Schwein oder Schaf ebenfalls Hund5). Irgend eine an die früher benannte Vorstellung erinnernde Ähnlichkeit führt zum naheliegenden Gebrauch desselben Namens. Der Ähnlichkeitspunkt braucht in aufeinander folgenden Fällen gar nicht derselbe zu sein; er liegt z. B. einmal in der Farbe, dann in der Bewegung, dann in der Gestalt, der Bedeckung u. s. w.; demnach ist auch von einem Begriff gar nicht die Rede. So nennt ein Kind gelegentlich die Federn des Vogels Haare, die Hörner der Kuh Fühlhörner, den Bartwisch, den Bart des Vaters und den Samen des Löwenzahns ohne Unterschied "Bartwisch" u. s. w.6). Die meisten Menschen verfahren mit den Worten ebenso, nur weniger auffallend, weil sie einen größeren Vorrat zur Verfügung haben. Der gemeine Mann nennt ein Rechteck "Viereck" und gelegentlich auch den Würfel (wegen der rechtwinkligen Begrenzung) ebenfalls "Viereck". Die Sprachwissenschaft und einige historisch beglaubigte Fälle lehren, daß ganze Völker sich nicht anders verhalten7).
7) Withney, Leben und Wachstum der Sprache. Leipzig 1876.
Ein Begriff ist überhaupt nicht eine fertige
Vorstellung. Gebrauche ich ein Wort zur Bezeichnung eines Begriffs, so
liegt in demselben ein einfacher Impuls zu einer geläufigen sinnlichen
Tätigkeit, als deren Resultat ein sinnliches Element (das Merkmal
des Begriffs) sich ergibt. Denke ich z. B. an den Begriff Siebeneck, so
zähle ich in der vorliegenden Figur oder in der auftauchenden Vorstellung
die Ecken durch; komme ich hierbei bis sieben, wobei der Laut, die Ziffer,
die Finger das sinnliche Merkmal der Zahl abgeben können, so fällt
die gegebene Vorstellung unter den gegebenen Begriff. Spreche ich von einer
Quadratzahl, so versuche ich die vorliegende Zahl durch die Operation 5
´ 5, 6 ´
6 usw., deren sinnliches Merkmal (die Gleichheit der beiden multiplizierten
Zahlen) auf der Hand liegt, herzustellen. Das gilt von jedem Begriff. Die
Tätigkeit, welche das Wort auslöst, kann aus mehreren Operationen
bestehen; die eine kann eine andere enthalten. Immer ist das Resultat ein
sinnliches Element, welches vorher nicht da war.
Wenn ich ein Siebeneck sehe oder mir vorstelle,
braucht mir die Siebenzahl der Ecken noch nicht gegenwärtig zu sein.
Sie tritt erst durch die Zählung hervor. Oft kann das neue sinnliche
Element, wie z. B. beim Dreieck, so nahe liegen, daß die Zähloperation
unnötig scheint; das sind aber Spezialfälle, welche eben zu Täuschungen
über die Natur des Begriffes führen. An den Kegelschnitten (Ellipse,
Hyperbel, Parabel) sehe ich nicht, daß sie unter denselben Begriff
fallen; ich kann es aber durch die Operation des Kegelschneidens und durch
die Konstruktion der Gleichung finden.
Wenn wir also abstrakte Begriffe auf eine Tatsache
anwenden, so wirkt dieselbe auf uns als einfacher Impuls zu einer sinnlichen
Tätigkeit, welche neue sinnliche Elemente herbeischafft, die unsern
ferneren Gedankenlauf der Tatsache entsprechend bestimmen können.
Wir bereichern und erweitern durch unsere Tätigkeit die für uns
zu arme Tatsache. Wir tun dasselbe, was der Chemiker mit einer farblosen
Salzlösung tut, indem er ihr durch eine bestimmte Operation einen
gelben oder braunen Niederschlag ablockt, der seinen Gedankenlauf zu differenzieren
vermag. Der Begriff des Physikers ist eine bestimmte Reaktionstätigkeit,
welche eine Tatsache mit neuen sinnlichen Elementen bereichert.
Eine sehr dürftige Sinnlichkeit und eine sehr
geringe Beweglichkeit reichen zur Bildung von Begriffen aus. Dies lehrt
die Entwicklungsgeschichte der blinden und taubstummen Laura Bridgman,
welche Jerusalem in einer interessanten kleinen Schrift8)
allgemein zugänglich gemacht hat. Fast ganz ohne Geruch und auf die
Wahrnehmung von Erschütterungen und Schallschwingungen durch die Fußsohlen
und Fingerspitzen, kurz durch die Haut angewiesen, vermochte Laura doch
einfache Begriffe zu gewinnen. Durch Herumgehen und durch die Bewegung
der Hände findet sie die Tastmerkmale (Klassencharaktere) der Türe,
des Stuhles, des Messers usw. Allerdings reicht die Abstraktion nicht hoch.
Die abstraktesten Begriffe, die sie sich erwarb, dürften die Zahlen
gewesen sein. Im ganzen blieb ihr Denken natürlich an Spezialvorstellungen
haften. Beweis dafür ist ihre Auffassung der Rechenaufgaben eines
Schulbuches als speziell an sie gerichtet (a. a. O. S. 25), ihre Meinung,
daß der Himmel (das Jenseits) eine Schule sei usw. (a. a. O. S. 30).
Wenn wir, um an ein früheres Beispiel anzuknüpfen, einen Hebel
erblicken, so treibt uns dieser Anblick, die Arme abzumessen, die Gewichte
zu wägen, die Maßzahl des Armes mit der Maßzahl des Gewichtes
zu multiplizieren. Entspricht den beiden Produkten dasselbe sinnliche Zahlzeichen,
so erwarten wir Gleichgewicht. Wir haben so ein neues sinnliches Element
gewonnen, welches zuvor in der bloßen Tatsache noch nicht gegeben
war, und das nun unsern Gedankenlauf differenziert. Hält man sich
recht gegenwärtig, daß das begriffliche Denken eine Reaktionstätigkeit
ist, die wohl geübt sein will, so versteht man die bekannte Tatsache,
daß niemand Mathematik oder Physik oder irgend eine Naturwissenschaft
durch bloße Lektüre, ohne praktische Übung, sich aneignen
kann. Das Verstehen beruht hier gänzlich auf dem Tun. Ja es wird in
keinem Gebiet möglich sein, sich zu den höheren Abstraktionen
zu erheben, ohne sich mit den Einzelheiten beschäftigt zu haben.
Die Tatsachen werden also durch die begriffliche
Behandlung erweitert und bereichert, und schließlich wieder vereinfacht.
Denn wenn das neue maßgebende sinnliche Element (z. B. die Maßzahl
der Momente des Hebels) gefunden ist, wird nur mehr dieses beachtet, und
die mannigfaltigsten Tatsachen gleichen und unterscheiden sich nur durch
dieses Element. Wie bei der intuitiven Erkenntnis reduziert sich also auch
hier alles auf die Auffindung, Hervorhebung und Aussonderung der maßgebenden
sinnlichen Elemente. Die Forschung erreicht hier nur auf einem Umwege,
was sich der intuitiven Erkenntnis unmittelbar darbietet.
Der Chemiker mit seinen Reagentien, der Physiker
mit Maßstab, Waage, Galvanometer, und der Mathematiker verhalten
sich den Tatsachen gegenüber eigentlich ganz gleichartig; nur braucht
der letztere bei Erweiterung der Tatsache am wenigsten über die Elemente
a b g
..., KLM hinauszugehen. Seine Hilfsmittel hat er stets und sehr
bequem zur Hand. Der Forscher mit seinem ganzen Denken ist ja auch nur
ein Stück Natur wie jedes andere. Eine eigentliche Kluft zwischen
diesem und anderen Stücken besteht nicht. Alle Elemente sind gleichwertig.
Nach dem Dargelegten ist das Wesen der Abstraktion
nicht erschöpft, wenn man sie (mit Kant) als negative Aufmerksamkeit
bezeichnet. Zwar wendet sich beim Abstrahieren von vielen sinnlichen Elementen
die Aufmerksamkeit ab, dafür aber andern neuen sinnlichen Elementen
zu, und das letztere ist gerade wesentlich. Jede Abstraktion gründet
sich auf das Hervortreten bestimmter sinnlicher Elemente.
10.
Indem ich hier meine Darstellung von 1886 unverändert lasse, möchte ich zugleich auf die weiteren Ausführungen in einer spätem Schrift hinweisen9). Daselbst sind auch (in der zweiten Auflage von 1900) die seit 1897 erschienenen Arbeiten von H. Gomperz und Ribot erwähnt, welche Untersuchungen enthalten, deren Ergebnisse in mancher Beziehung mit den meinigen verwandt sind. Gomperz und Ribot schließen beide die wissenschaftlichen Begriffe von ihrer Untersuchung aus, und behandeln bloß die vulgären Begriffe, wie sie in den Worten der gewöhnlichen Verkehrssprache fixiert sind. Ich bin im Gegenteil der Meinung, daß die Natur der Begriffe an den wissenschaftlichen Begriffen, welche mit Bewußtsein gebildet und angewendet werden, sich viel besser offenbaren muß, als an den vulgären Begriffen. Letztere können wegen ihrer Verschwommenheit kaum zu den eigentlichen Begriffen gerechnet werden. Die Worte der Vulgärsprache sind einfach geläufige Merkzeichen, welche ebenso geläufige Denkgewohnheiten auslösen. Der begriffliche Inhalt dieser Worte, soweit er überhaupt in schärferer Form besteht, kommt kaum zum Bewußtsein, wie dies auch Ribot bei seinen statistischen Versuchen gefunden hat. Ohne Zweifel könnte ich Gomperz und Ribot noch viel weiter zustimmen, als es schon jetzt der Fall ist, wenn sie auch die wissenschaftlichen Begriffe in ihre Untersuchung einbezogen hätten.
9) Prinzipien der Wärmelehre, 1896, 2. Aufl. 1900, S. 415, 422.
Wir haben als einfaches Beispiel des Begriffes oben das statische Moment gewählt. Komplizierte Begriffe werden ein kompliziertes System von Reaktionen erfordern, welche mehr oder weniger große Teile des Zentralnervensystems in Anspruch nehmen, und ein entsprechend kompliziertes, den Begriff charakterisierendes System von sinnlichen Elementen zutage fördern. Die von J. v. Kries erhobenen Schwierigkeiten10) möchten bei dieser Auffassung nicht unüberwindlich sein. (Vergl. Kap.V.)
10) J. v. Kries, Die materiellen Grundlagen der Bewußtseinserscheinungen. Freiburg i. Br. 1898.
11.
Die sinnliche Tatsache ist also der Ausgangspunkt und auch das Ziel aller Gedankenanpassungen des Physikers. Die Gedanken, welche unmittelbar der sinnlichen Tatsache folgen, sind die geläufigsten, stärksten und anschaulichsten. Wo man einer neuen Tatsache nicht sofort folgen kann, drängen sich die kräftigsten und geläufigsten Gedanken heran, um dieselbe reicher und bestimmter zu gestalten. Hierauf beruht jede naturwissenschaftliche Hypothese und Spekulation, deren Berechtigung in der Gedankenanpassung liegt, welche sie fördert und schließlich herbeiführt. So denken wir uns den Planeten als einen geworfenen Körper, stellen uns den elektrischen Körper mit einer fernwirkenden Flüssigkeit bedeckt vor, denken uns die Wärme als einen Stoff, der aus einem Körper in den andern überfließt, bis uns schließlich die neuen Tatsachen ebenso geläufig und anschaulich werden als die älteren, die wir als Gedankenhilfe herangezogen hatten. Aber auch wo von unmittelbarer Anschaulichkeit nicht die Rede sein kann, bilden sich die Gedanken des Physikers unter möglichster Einhaltung des Prinzips der Kontinuität und der zureichenden Differenzierung zu einem ökonomisch geordneten System von Begriffsreaktionen aus, welche wenigstens auf den kürzesten Wegen zur Anschaulichkeit führen. Alle Rechnungen, Konstruktionen u. s. w. sind nur die Zwischenmittel, diese Anschaulichkeit schrittweise und auf sinnliche Wahrnehmung gestützt, zu erreichen, wo dieselbe nicht unmittelbar zu erreichen ist.
12.
Betrachten wir nun die Ergebnisse der Gedankenanpassung. Nur dem, was an den Tatsachen überhaupt beständig ist, können sich die Gedanken anpassen, und nur die Nachbildung des Beständigen kann einen ökonomischen Vorteil gewähren. Hierin liegt also der letzte Grund des Strebens nach Kontinuität der Gedanken, d. h. nach Erhaltung der möglichsten Beständigkeit, und hierdurch werden auch die Anpassungsergebnisse verständlich11). Kontinuität, Ökonomie und Beständigkeit bedingen sich gegenseitig; sie sind eigentlich nur verschiedene Seiten einer und derselben Eigenschaft des gesunden Denkens.
1l) Vgl.: "Die Mechanik in ihrer Entwicklung". l. Aufl. 1883, 4. Aufl. S. 519, 520.
13.
Das bedingungslos Beständige nennen wir Substanz. Ich sehe einen
Körper, wenn ich ihm den Blick zuwende. Ich kann ihn sehen, ohne ihn
zu tasten. Ich kann ihn tasten, ohne ihn zu sehen. Obgleich also das Hervortreten
der Elemente des Komplexes an Bedingungen geknüpft ist, habe ich dieselben
doch zu sehr in der Hand, um sie besonders zu würdigen und zu beachten.
Ich betrachte den Körper oder den Elementenkomplex oder den Kern dieses
Komplexes als stets vorhanden, ob er mir augenblicklich in die Sinne fällt
oder nicht. Indem ich den Gedanken dieses Komplexes, oder das Symbol desselben,
den Gedanken des Kerns mir stets parat halte, gewinne ich den Vorteil der
Voraussicht, und vermeide den Nachteil der Überraschung. Ebenso halte
ich es mit den chemischen Elementen, die mir als bedingungslos beständig
erscheinen. Obgleich hier mein bloßer Wille nicht genügt, um
die betreffenden Komplexe zur sinnlichen Tatsache zu machen, obgleich hier
auch äußere Mittel (z. B. Körper außer meinem Leib)
nötig sind, sehe ich doch von diesen Mitteln ab, sobald sie mir geläufig
geworden, und betrachte die chemischen Elemente einfach als beständig.
Wer an Atome glaubt, hält es mit diesen analog.
Ahnlich wie mit dem Elementenkomplex, der einem
Körper entspricht, können wir auf einer höheren Stufe der
Gedankenanpassung auch mit ganzen Gebieten von Tatsachen verfahren. Wenn
wir von Elektrizität, Magnetismus, Licht, Wärme sprechen, auch
ohne uns hierunter besondere Stoffe zu denken, so schreiben wir diesen
Tatsachengebieten, wieder von den uns geläufigen Bedingungen ihres
Hervortretens absehend, eine Beständigkeit zu, und halten die nachbildenden
Gedanken stets parat, mit gleichem Vorteil wie in den obigen Fällen.
Wenn ich sage, ein Körper ist "elektrisch", so ruft mir dies viel
mehr Erinnerungen wach, ich erwarte viel bestimmtere Gruppen von Tatsachen,
als wenn ich etwa die in dem Einzelfalle sich äußernde Anziehung
hervorheben würde. Doch kann diese Hypostasierung auch ihre Nachteile
haben. Zunächst wandeln wir, solange wir so verfahren, immer dieselben
historischen Wege. Es kann aber wichtig sein zu erkennen, daß es
eine spezifisch elektrische Tatsache gar nicht gibt, daß jede solche
Tatsache z. B. ebenso gut als eine mechanische, chemische oder thermische
angesehen werden kann, oder vielmehr, daß alle physikalischen Tatsachen
schließlich aus denselben sinnlichen Elementen (Farben, Drucken,
Räumen, Zeiten) sich zusammensetzen, daß wir durch die Bezeichnung
"elektrisch", bloß an eine Spezialform erinnert werden, in welcher
wir die Tatsache zuerst kennen gelernt haben.
Haben wir uns gewöhnt, den Körper, welchem
wir die tastende Hand und den Blick beliebig zu- und abwenden können,
als beständig anzusehen, so tun wir dies auch leicht in Fällen,
in welchen die Bedingungen der Sinnenfälligkeit gar nicht in unserer
Hand liegen, z. B. bei Sonne und Mond, die wir nicht tasten können,
bei den Weltteilen, die wir vielleicht einmal und nicht wieder sehen können,
oder die wir gar nur aus der Beschreibung kennen. Dies Verfahren kann für
eine ruhige ökonomische Weltauffassung seine Bedeutung haben, es ist
aber gewiß nicht das einzig berechtigte. Es wäre nur ein konsequenter
Schritt weiter, die ganze Vergangenheit, welche ja in ihren Spuren noch
vorhanden ist (da wir z. B. Sterne dort sehen, wo sie vor Jahrtausenden
waren), und die ganze Zukunft, die im Keime schon da ist (da man z. B.
unser Sonnensystem nach Jahrtausenden noch sehen wird, wo es jetzt ist),
als beständig anzusehen. Ist doch der ganze Zeitverlauf nur an Bedingungen
unserer Sinnlichkeit gebunden. Mit dem Bewußtsein eines besonderen
Zweckes wird man auch diesen Schritt unternehmen dürfen.
14.
Eine wirkliche bedingungslose Beständigkeit gibt es nicht, wie
dies aus dem Besprochenen deutlich hervorgeht. Wir gelangen zu derselben
nur, indem wir Bedingungen übersehen, unterschätzen, oder als
immer gegeben betrachten, oder willkürlich von denselben absehen.
Es bleibt nur eine Art der Beständigkeit, die alle vorkommenden Fälle
von Beständigkeit umfaßt, die Beständigkeit der Verbindung
(oder Beziehung). Auch die Substanz, die Materie ist kein bedingungslos
Beständiges. Was wir Materie nennen, ist. ein gewisser gesetzmäßiger
Zusammenhang der Elemente (Empfindungen). Die Empfindungen verschiedener
Sinne eines Menschen, so wie die Sinnesempfindungen verschiedener Menschen
sind gesetzmäßig von einander abhängig. Darin besteht die
Materie. Der älteren Generation, namentlich den Physikern und Chemikern,
wird die Zumutung Schrecken erregen, die Materie nicht als das absolut
Beständige zu betrachten, und statt dessen ein festes Verbindungsgesetz
von Elementen, welche an sich sehr flüchtig scheinen, als das Beständige
anzusehen. Auch jüngeren Leuten wird dies Mühe machen, und mich
selbst hat es seiner Zeit eine große Überwindung gekostet, zu
dieser unvermeidlichen Einsicht zu gelangen. Doch wird man sich zu einer
so radikalen Änderung der Denkweise entschließen müssen,
wenn man aufhören will, denselben Fragen immer wieder in gleicher
Ratlosigkeit gegenüber zu stehen.
Es kann sich nicht darum handeln, für den Hand-
und Hausgebrauch den vulgären Begriff der Materie, der sich für
diesen Zweck instinktiv herausbildet hat, abzuschaffen. Auch alle physikalischen
Maßbegriffe bleiben aufrecht, und erfahren nur eine kritische Läuterung,
wie ich dieselbe in bezug auf Mechanik, Wärme, Elektrizität usw.
versucht habe. Hierbei treten einfach empirische Begriffe an die Stelle
der metaphysischen. Die Wissenschaft erleidet aber keinen Verlust, wenn
das starre, sterile, beständige, unbekannte Etwas (die Materie) durch
ein beständiges Gesetz ersetzt wird, das in seinen Einzelheiten noch
weiter durch die physikalisch-physiologische Forschung aufgeklärt
werden kann. Es soll hiermit keine neue Philosophie, keine neue Metaphysik
geschaffen, sondern einem augenblicklichen Streben der positiven Wissenschaften
nach gegenseitigem Anschluß entsprochen werden12).
12) Vgl. Prinzipien der Wärmelehre, 2. Aufl. 1900, S. 423 u. ff.
15.
Die naturwissenschaftlichen Sätze drücken nur solche Beständigkeiten
der Verbindung aus: "Aus der Kaulquappe wird ein Frosch. Das Chlornatrium
tritt in Würfelform auf. Der Lichtstrahl ist geradlinig. Die Körper
fallen mit der Beschleunigung 9,81 ".
Den begrifflichen Ausdruck dieser Beständigkeiten nennen wir Gesetze.
Die Kraft (im mechanischen Sinne) ist auch nur eine Beständigkeit
der Verbindung. Wenn ich sage, ein Körper A übe auf B
eine Kraft aus, so heißt dies, daß B sofort eine gewisse
Beschleunigung gegen A zeigt, sobald es diesem gegenübertritt.
Die eigentümliche Illusion, als ob der Stoff
A der absolut beständige Träger einer Kraft wäre,
welche wirksam wird, sobald B dem A gegenübertritt,
ist leicht zu beseitigen. Treten wir, oder genauer unsere Sinnesorgane,
an die Stelle von B, so sehen wir von dieser jederzeit erfüllbaren
Bedingung ab, und A erscheint uns als absolut beständig. So
scheint uns das magnetische Eisen, das wir immer sehen, so oft wir hinblicken
wollen, als der beständige Träger der magnetischen Kraft, die
erst wirksam wird, sobald ein Eisenstückchen hinzutritt, von welchem
wir nicht so unvermerkt absehen können, wie von uns selbst13).
Die Phrasen: "Kein Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff", welche einen
selbstverschuldeten Widerspruch vergeblich aufzuheben suchen, werden entbehrlich,
wenn man nur Beständigkeiten der Verbindung anerkennt.
Bei hinreichender Beständigkeit unserer Umgebung entwickelt sich
eine entsprechende Beständigkeit der Gedanken. Vermöge dieser
Beständigkeit streben sie, die halb beobachtete Tatsache zu vervollständigen.
Dieser Vervollständigungstrieb entspringt nicht der eben beobachteten
einzelnen Tatsache, er ist auch nicht mit Absicht erzeugt; wir finden ihn,
ohne unser Zutun, in uns vor. Er steht uns wie eine fremde Macht gegenüber,
die uns doch stets begleitet und hilft, den wir eben brauchen, um die Tatsache
zu ergänzen. Obgleich er durch die Erfahrung entwickelt ist, liegt
in ihm mehr, als in der einzelnen Erfahrung. Der Trieb bereichert gewissermaßen
die einzelne Tatsache. Durch ihn ist sie uns mehr. Mit diesem Trieb haben
wir stets ein größeres Stück Natur im Gesichtsfeld, als
der Unerfahrene mit der Einzeltatsache allein. Denn der Mensch mit seinen
Gedanken und seinen Trieben ist eben auch ein Stück Natur, das sich
zur Einzeltatsache hinzufügt. Anspruch auf Unfehlbarkeit hat aber
dieser Trieb keineswegs, und eine Notwendigkeit für die Tatsachen,
ihm zu entsprechen, besteht durchaus nicht. Unser Vertrauen zu ihm liegt
nur in der Voraussetzung der vielfach erprobten zureichenden Anpassung
unserer Gedanken, welche aber jeden Augenblick der Enttäuschung gewärtig
sein muß.
Nicht alle unsere Tatsachen nachbildenden Gedanken
haben die gleiche Beständigkeit. Immer und überall, wo wir an
der Nachbildung der Tatsachen ein besonderes Interesse haben, werden wir
bestrebt sein, die Gedanken von geringerer Beständigkeit durch solche
von größerer Beständigkeit zu stützen und zu stärken
oder sie durch solche zu ersetzen. So denkt sich Newton den Planeten,
obgleich die Keplerschen Gesetze schon bekannt sind, als einen geworfenen
Körper, die Masse der Flutwelle, obgleich der Verlauf derselben längst
ermittelt ist, als vom Monde gezogen. Das Saugen, das Fließen des
Hebers glauben wir erst zu verstehen, wenn wir uns den Druck der Luft als
die Kette der Teilchen zusammenhaltend hinzudenken. Ähnlich versuchen
wir die elektrischen, optischen, thermischen Vorgänge als mechanische
aufzufassen. Dies Bedürfnis nach Stützung schwächerer Gedanken
durch stärkere wird auch Kausalitätsbedürfnis genannt und
ist die Haupttriebfeder aller naturwissenschaftlichen Erklärungen.
Als Grundlagen ziehen wir natürlich die stärksten besterprobten
Gedanken vor, die uns unsere viel geübten mechanischen Verrichtungen
an die Hand geben und die wir jeden Augenblick ohne viele Mittel aufs neue
erproben können. Daher die Autorität der mechanischen Erklärungen,
namentlich jener durch Druck und Stoß. Eine noch höhere Autorität
kommt dementsprechend den mathematischen Gedanken zu, zu deren Entwicklung
wir der geringsten äußeren Mittel bedürfen, für welche
wir vielmehr das Experimentiermaterial größtenteils stets mit
uns herumtragen. Weiß man dies aber einmal, so schwächt sich
eben damit das Bedürfnis nach mechanischen Erklärungen ab14).
17.
Es wurde zuvor gesagt, daß der Mensch selbst ein Stück Natur sei. Es sei erlaubt, dies durch ein Beispiel zu erläutern. Ein Stoff kann für den Chemiker lediglich durch die Sinnesempfindungen genügend charakterisiert sein. Dann liefert der Chemiker selbst durch innere Mittel den ganzen zur Bestimmung des Gedankenlaufs nötigen Reichtum der Tatsache. Es kann aber in anderen Fällen die Vornahme von Reaktionen mit Hilfe äußerer Mittel nötig werden. Wenn ein Strom eine in seiner Ebene befindliche Magnetnadel umkreist, so weicht der Nordpol der Nadel zu meiner Linken aus, sobald ich mich in dem Strom als Ampèrescher Schwimmer denke. Ich bereichere die Tatsache (Strom und Nadel), die für sich meinen Gedankenlauf nicht genügend bestimmt, indem ich mich selbst zuziehe (durch eine innere Reaktion). Ich kann auch auf die Ebene des Stromkreises eine Taschenuhr legen, so daß der Zeiger der Strombewegung folgt. Dann schlägt der Südpol vor, der Nordpol hinter das Zifferblatt. Oder ich mache den Stromkreis zur Sonnenuhr, nach welcher ja die Taschenuhr15) gebildet ist, so daß der Schatten dem Strom folgt. Dann wendet sich der Nordpol nach der beschatteten Seite der Stromebene. Die beiden letzteren Reaktionen sind äußere. Beide Arten zugleich können nur brauchbar sein, wenn zwischen mir und der Welt keine Kluft besteht. Die Natur ist ein Ganzes. Daß nicht in allen Fällen beiderlei Reaktionen bekannt sind, und daß der Beobachter in manchen Fällen einflußlos scheint, beweist nichts gegen die vorgebrachte Ansicht.
18.
Die wiederholt betonte Einheit des Physischen und Psychischen verdient noch von einer besonderen Seite ins Auge gefaßt zu werden. Unser psychisches Leben, sofern wir darunter die Vorstellungen verstehen, scheint recht unabhängig von den physischen Vorgängen zu sein, sozusagen eine Welt für sich, mit freiem Gesetzen, mit Gesetzen von anderer Ordnung. Das ist aber gewiß nur ein Schein, der daher rührt, daß immer nur ein winziger Teil der Spuren der physischen Vorgänge in den Vorstellungen lebendig wird. Die Umstände, welche diesen Teil bestimmen, sind so unübersehbar kompliziert, daß wir keine genaue Regel angeben können, nach welcher dies geschieht. Um zu bestimmen, welche Gedanken etwa ein Physiker an die Beobachtung einer gewissen optischen Tatsache knüpfen wird, müßte man die Erlebnisse seiner früheren Tage, die Stärke der Eindrücke, welche sie hinterlassen haben, die Tatsachen der allgemeinen und technischen Kulturentwicklung, welche auf ihn Einfluß genommen haben, kennen, endlich noch im stande sein, seine augenblickliche Stimmung in Rechnung zu ziehen. Dazu wäre die gesamte Physik im weitesten Sinne, und auf einer unerreichbar hohen Entwicklungsstufe als Hilfswissenschaft nötig16).
19.
Wenn in einem Komplex von Elementen einige durch andere ersetzt werden, so geht eine Beständigkeit der Verbindung in eine andere Beständigkeit über. Es ist nun wünschenswert, eine Beständigkeit aufzufinden, welche diesen Wechsel überdauert. J. R. Mayer hat zuerst dies Bedürfnis gefühlt, und hat demselben durch Aufstellung seines Begriffes "Kraft" genügt, welcher dem Begriff Arbeit (Poncelet) der Mechaniker, oder genauer dem allgemeinem Begriff Energie (Th. Young) entspricht. Er stellt sich diese Kraft (oder Energie) als etwas absolut Beständiges (wie einen Vorrat oder Stoff) vor, und geht so bis auf die stärksten und anschaulichsten Gedanken zurück. Aus dem Ringen mit dem Ausdruck, mit allgemeinen philosophischen Phrasen (in der 1. und 2. Abhandlung Mayers) sehen wir, daß sich ihm zuerst unwillkürlich und instinktiv das starke Bedürfnis nach einem solchen Begriff aufgedrängt hat. Dadurch aber, daß er die vorhandenen physikalischen Begriffe den Tatsachen und seinem Bedürfnis angepaßt hat, ist erst die große Leistung zustande gekommen17).
17) Vgl. Prinzipien der Wärmelehre, 2. Aufl. 1900.
20.
Bei genügender Anpassung werden die Tatsachen von den Gedanken
spontan abgebildet, und teilweise gegebene Tatsachen ergänzt. Die
Physik kann nur als quantitatives Regulativ wirken, und die spontan verlaufenden
Gedanken, dem praktischen oder wissenschaftlichen Bedürfnis entsprechend,
bestimmter gestalten. Wenn ich einen Körper horizontal werfen sehe,
kann mir das anschauliche Bild der Wurfbewegung auftauchen. Für den
Artilleristen oder Physiker ist mehr nötig. Er muß z. B. wissen,
daß, wenn er an die horizontale Abszisse der Wurfbahn den Maßstab
M anlegend, bis 1, 2, 3, 4 ... zählen kann, er, an die vertikalen
Ordinaten den Maßstab M' anlegend, zugleich bis 1, 4, 9, 16
... zählen muß, um zu einem Punkt der Wurfbahn zu gelangen.
Die Funktion der Physik besteht also darin, zu lehren, daß eine Tatsache,
welche auf eine bestimmte Reaktion R ein Empfindungsmerkmal E
liefert, zugleich noch auf eine andere Reaktion R' ein anderes
Merkmal E' zeigt. Hierdurch wird die bestimmtere Ergänzung
einer teilweise gegebenen Tatsache möglich.
Die Einführung der allgemein vergleichbaren,
sogenannten absoluten Maße in die Physik, die Zurückführung
aller physikalischen Messungen auf die Einheiten: Zentimeter, Gramme, Sekunde
(Länge, Masse, Zeit) hat eine eigentümliche Folge. Es besteht
ohnehin die Neigung, das physikalisch Faßbare und Meßbare,
das gemeinschaftlich Konstatierbare18),
für "objektiv" und "real" gegenüber den subjektiven Empfindungen
zu halten. Diese Meinung erhält nun scheinbar eine Stütze, eine
psychologische (wenn auch nicht logische) Motivierung durch die absoluten
Maße. Es sieht so aus, als ob das, was wir in bekanntem Sinne Empfindungen
nennen, in der Physik etwas ganz Überflüssiges wäre. Sehen
wir genauer zu, so läßt sich ja das System der Maßeinheiten
noch weiter vereinfachen. Denn die Maßzahl der Masse ist durch ein
Beschleunigungsverhältnis gegeben, und die Zeitmessung kommt auf eine
Winkel- oder Bogenlängenmessung zurück. Demnach ist die Längenmessung
die Grundlage für alle Messungen. Allein den bloßen Raum messen
wir nicht, wir brauchen einen körperlichen Maßstab, womit das
ganze System mannigfaltiger Empfindungen wieder eingeführt ist. Nur
sinnliche anschauliche Vorstellungen können zur Aufstellung der Gleichungen
der Physik führen, und in eben solchen besteht deren Interpretation.
Obschon also die Gleichungen nur räumliche Maßzahlen enthalten,
sind dieselben auch nur das ordnende Prinzip, das uns anweist, aus welchen
Gliedern in der Reihe der sinnlichen Elemente wir unser Weltbild zusammenzusetzen
haben.
18) In der Tat werden hierbei individuelle Zufälligkeiten eliminiert.
21.
Es wurde anderwärts19) ausgeführt, daß quantitative Aufstellungen sich von qualitativen nur dadurch unterscheiden, daß erstere sich auf ein Kontinuum von gleichartigen Fällen beziehen. Hiernach wäre die vorteilhafte Anwendung der Gleichungen zur Beschreibung nur in einem sehr beschränkten Gebiet zulässig. Es ist jedoch Aussicht vorhanden, dieses Gebiet sukzessive ins Unbegrenzte zu erweitern und zwar in folgender Art. Die möglichen (optischen) Empfindungen können, wenn auch nicht gemessen, doch nach psychophysischen Methoden durch Zahlen charakterisiert und inventarisiert werden. Irgend ein (optisches) Erlebnis kann nun beschrieben werden, indem man die Werte der Zahlencharakteristiken als abhängig von den Raum- und Zeitkoordinaten und von einander durch Gleichungen darstellt. Ahnliches wird man im Prinzip auch in anderen Sinnesgebieten für erreichbar halten dürfen. Der im Kap. II. gebrauchte Ausdruck hat also einen genau angebbaren Sinn.
19) Zuletzt: Wärmelehre, S. 438, 459.
22.
Die Ermittlung der Abhängigkeit der Elemente ABC... von einander, unter Absehen von KLM, ist die Aufgabe der Naturwissenschaft, oder der Physik im weitesten Sinne. In Wirklichkeit sind aber die ABC... immer auch von KLM abhängig. Es bestehen immer Gleichungen von der Form f (A, B, C,... K, L, M...) = 0. Indem nun viele verschiedene Beobachter KLM..., K'L' M'..., K" L" M"... sich beteiligen, gelingt es, den zufälligen Einfluß der Variation von KLM... usw. zu eliminieren und nur das gemeinschaftlich Konstatierbare, die reine Abhängigkeit der ABC... von einander zu ermitteln. Hierbei verhalten sich die KLM..., K'L'M'... wie physikalische Apparate, von deren Eigentümlichkeiten, speziellen Konstanten usw. die Anzeigen, die Ergebnisse befreit werden müssen. Handelt es sich aber nur um den Zusammenhang einer quantitativen Reaktion mit andern quantitativen Reaktionen, wie in dem obigen Beispiele der Dynamik, so ist die Sache noch einfacher. Es kommt dann alles auf die Konstatierung von Gleichheit oder Identität der ABC... unter gleichen Umständen (unter gleichen KLM...), eigentlich nur auf Konstatierung von räumlichen Identitäten hinaus. Die Art der Empfindungsqualitäten ist nun gleichgültig; nur deren Gleichheit ist maßgebend. Ein einziges Individuum genügt nun, um Abhängigkeiten festzustellen, welche für jedes Individuum gelten. So wird von hier aus eine sichere Basis für das ganze Gebiet der Forschung gewonnen. Auch der Psychophysiologie gereicht dies zum Vorteil.
23.
Der Raum des Geometers ist durchaus nicht das bloße System der
Raumempfindungen (des Gesichts- und Tastsinnes), sondern derselbe besteht
vielmehr aus einer Menge von begrifflich idealisierten und formulierten
physikalischen Erfahrungen, welche an die Raumempfindungen anknüpfen.
Schon indem der Geometer seinen Raum als an allen Stellen und nach allen
Richtungen gleich beschaffen betrachtet, geht er weit über den dem
Tast- und Gesichtssinn gegebenen Raum hinaus, welcher diese einfache Eigenschaft
durchaus nicht hat (S. 138, 148 u. f.). Ohne physikalische Erfahrung würde
er nie dahin gelangen. Die grundlegenden Sätze der Geometrie werden
auch tatsächlich nur durch physikalische Erfahrungen, durch Anlegen
von Längen und Winkelmaßstäben gewonnen, durch Anlegen
starrer Körper aneinander. Ohne Kongruenzsätze keine Geometrie.
Abgesehen davon, daß Raumbilder uns ohne physikalische Erfahrung
gar nicht auftauchen würden, wären wir auch nicht imstande, dieselben
aneinander anzulegen, um ihre Kongruenz zu prüfen Wenn wir einen Zwang
fühlen, ein gleichschenkliges Dreieck auch mit gleichen Winkeln an
der Grundlinie vorzustellen, so beruht derselbe auf der Erinnerung an starke
Erfahrungen. Beruhte der Satz auf "reiner Anschauung", so brauchten wir
ihn nicht zu lernen. Daß man in der bloßen geometrischen Phantasie
Entdeckungen machen kann, wie es täglich geschieht, zeigt nur, daß
auch die Erinnerung an die Erfahrung uns noch Momente zum Bewußtsein
bringen kann, die früher unbeachtet blieben, so wie man an dem Nachbild
einer hellen Lampe noch neue Einzelheiten zu bemerken vermag. Selbst die
Zahlenlehre muß in ähnlicher Weise aufgefaßt werden. Auch
ihre grundlegenden Sätze werden von der Erfahrung nicht ganz unabhängig
sein.
Das Überzeugende der Geometrie (und der ganzen
Mathematik) beruht nicht darauf, daß ihre Lehren durch eine ganz
besondere Art der Erkenntnis gewonnen werden, sondern nur darauf, daß
ihr Erfahrungsmaterial uns besonders leicht und bequem zur Hand ist, besonders
oft erprobt wurde und jeden Augenblick wieder erprobt werden kann. Auch
ist das Gebiet der Raumerfahrung ein viel beschränkteres, als das
der gesamten Erfahrung. Die Überzeugung, das erstere im wesentlichen
erschöpft zu haben, wird alsbald Platz greifen und das nötige
Selbstvertrauen erzeugen20).
Ein ähnliches Selbstvertrauen, wie der Geometer, hat ohne Zweifel
auch der Komponist, der in dem Gebiet der Tonempfindungen, der Ornamentenmaler,
der im Gebiet der Farben-empfindungen reiche Erfahrungen gewonnen hat.
Dem einen wird kein Raumgebilde vorkommen, dessen Elemente ihm nicht wohlbekannt
wären, die beiden andern werden auf keine neue Ton oder Farbenkombination
stoßen. Ohne Erfahrung wird aber der Anfänger in der Geometrie
durch die Ergebnisse seiner Tätigkeit nicht minder überrascht
oder enttäuscht, als der junge Musiker oder Ornamentist.
Der Mathematiker, der Komponist, der Ornamentist
und der Naturforscher, welche sich der Spekulation ergeben, verfahren trotz
der Verschiedenheit des Stoffes und Zweckes ihrer Tätigkeit in ganz
analoger Weise. Der erstere ist allerdings wegen der größten
Beschränktheit des Stoffes gegen alle in Bezug auf die Sicherheit
seines Vorgehens im Vorteil, der letztere aus dem entgegengesetzten Grunde
gegen alle im Nachteil.
25.
Die Unterscheidung des physiologischen und geometrischen Raumes hat
sich als unvermeidlich erwiesen. Indem aber geometrische Einsicht durch
die räumliche Vergleichung der Körper miteinander gewonnen wird,
kann auch schon die Zeit nicht außer Betracht bleiben, da es unmöglich
ist, hierbei vom Transport der Körper abzusehen. Raum und Zeit stehen
in einem innigem Zusammenhange, und zeigen sich hierbei relativ unabhängig
von andern physikalischen Elementen. Dies spricht sich in der Bewegung
der Körper bei sonstiger relativer Konstanz ihrer übrigen Eigenschaften
aus. Die Entstehung einer reinen Geometrie, Phoronomie und Mechanik wird
eben dadurch möglich.
Wenn wir genau zusehen, so bedeuten Raum und Zeit
in physiologischer Beziehung besondere Arten von Empfindungen, in physikalischer
Beziehung aber funktionale Abhängigkeiten der durch Sinnesempfindungen
charakterisierten Elemente von einander. Indem die räumlichen und
zeitlichen physiologischen Indices, welche durch Teile und Vorgänge
unseres Leibes bedingt sind, bei gleichen physiologischen Umständen
untereinander verglichen werden, ergeben sich Abhängigkeiten der physikalischen
Elemente von einander. (Abhängigkeit der Elemente eines Körpers
von jenen eines andern, Abhängigkeit der Elemente eines Vorgangs von
jenen eines andern). Auf Grund dieser Einsicht kann man zeitliche und räumliche
Bestimmungen rein physikalisch vornehmen. Was mit dem kleineren Teil eines
stetig einsinnig ablaufenden Vorgangs zusammentrifft, ist zeitlich früher.
Im homogen erfüllten Raum ist der Ort B dem Ort A näher
als ein anderer, wenn B von dem von A aus erregten Vorgang
früher erreicht wird, als jener andere. Die Gerade ist der Inbegriff
der durch die physikalische Beziehung zweier Punkte (unendlich kleiner
Körper) eindeutig bestimmten Orte. Der Ort C liegt im Halbierungspunkt
der Geraden AB, wenn derselbe im homogenen Raum durch Vorgänge
von A und B aus in gleicher Zeit erreicht wird, und in kürzerer
Zeit als jeder andere, der erstere Eigenschaft mit ihm teilt.
26.
Die Zeit des Physikers fällt nicht mit dem System der Zeitempfindungen
zusammen. Wenn der Physiker eine Zeit bestimmen will, so legt er identische
oder als identisch vorausgesetzte Vorgänge, Pendelschwingungen, Erdrotationen
usw., als Maßstab an. Die mit der Zeitempfindung verknüpfte
Tatsache wird also einer Reaktion unterworfen, und das Ergebnis derselben,
die Zahl, zu der man gelangt, dient nun statt der Zeitempfindung zur nähern
Bestimmung des Gedankenlaufs. Ganz ebenso richten wir unsere Gedanken über
Wärmevorgänge nicht nach der Wärmeempfindung, die uns die
Körper liefern, sondern nach der viel bestimmteren, welche durch die
Thermometerreaktion bei Ablesung des Standes des Quecksilberfadens sich
ergibt. Gewöhnlich wird an die Stelle der Zeitempfindung eine Raumempfindung
(Drehungswinkel der Erde, Weg des Zeigers auf dem Uhrzifferblatt), und
für die letztere wieder eine Zahl gesetzt. Stellt man z. B. den Temperaturüberschuß
eines abkühlenden Körpers über die Umgebung durch J
= Qe - kt dar,
so ist t jene Zahl.
Die Beziehung, in welcher die Größen
einer Gleichung stehen, ist gewöhnlich (analytisch) eine allgemeinere
als diejenige, welche man durch die Gleichung darstellen will. So haben
in der Gleichung =
1 alle beliebigen Werte von x einen analytischen Sinn, und liefern zugehörige
Werte von y. Verwenden wir aber diese Gleichung zur Darstellung einer Ellipse,
so haben nur die Werte von x < a und von y < b einen (reellen)
geometrischen Sinn.
Ähnlich müßte man, wenn dies nicht
auf der Hand läge, ausdrücklich hinzufügen, daß die
Gleichung J = Qe
- kt nur für wachsende Werte von t den Vorgang darstellt.
Denken wir uns den Verlauf verschiedener Tatsachen,
z. B. die Abkühlung eines Körpers und den freien Fall eines andern,
durch solche Gleichungen dargestellt, welche die Zeit enthalten, so kann
aus denselben die Zeit eliminiert, und etwa der Temperaturüberschuß
durch den Fallraum bestimmt werden. Die Elemente stellen sich dann einfach
als abhängig von einander dar. Man müßte aber den Sinn
einer solchen Gleichung durch die Hinzufügung näher bestimmen,
daß nur wachsende Fallräume oder abnehmende Temperaturen nach
einander einzusetzen seien.
Wenn wir so den Temperaturüberschuß durch
den Fallraum bestimmt denken, so ist die Abhängigkeit keine unmittelbare.
Darin stimme ich Petzoldt21) bei.
Die Abhängigkeit ist aber ebenfalls keine unmittelbare, wenn wir den
Temperaturüberschuß durch den Drehungswinkel der Erde bestimmt
setzen, Denn niemand wird glauben, daß noch dieselben Temperaturwerte
auf dieselben Winkelwerte entfallen würden, wenn die Erde etwa durch
einen Stoß ihre Rotationsgeschwindigkeit ändern würde.
Aus solchen Betrachtungen scheint mir doch zu folgen, daß unsere
Aufstellungen provisorische sind, welche auf teilweiser Unkenntnis gewisser
maßgebender, uns unzugänglicher unabhängig Variablen beruhen.
Nur so wollte ich seiner Zeit meinen Hinweis auf eine Unbestimmtheit verstanden
wissen22). Diese Ansicht ist auch sehr
wohl verträglich mit der Aufstellung eindeutiger Bestimmtheiten, welche
immer unter Voraussetzung gegebener Umstände und unter Abstraktion
von ungewöhnlichen und unerwarteten Änderungen stattfindet. Diese
Auffassung ist, wie mir scheint, unvermeidlich, wenn man bedenkt, daß
der von Petzoldt betonte Unterschied simultaner und sukzedaner Abhängigkeiten
wohl für die anschauliche Vorstellung, nicht aber für die Gleichungen
gilt, welche für erstere das quantitative Regulativ sind. Letztere
können nur einerlei Art sein, nur simultane Abhängigkeiten aussprechen.
Der Indeterminismus in gewöhnlichem Sinne, etwa die Annahme einer
Willensfreiheit im Sinne mancher Philosophen und Theologen liegt mir gänzlich
fern.
21) Petzoldt, Das Gesetz der Eindeutigkeit. Vierteljahrsschrift f. Wissenschaftl. Philosophie, XIX, S. 146 fg.
22) Mach, Erhaltung der Arbeit. Prag 1872.
Die Zeit ist nicht umkehrbar. Ein warmer Körper
in kalter Umgebung kühlt nur ab, und erwärmt sich nicht. Mit
größeren (späteren) Zeitempfindungen sind nur kleinere
Temperatur-überschüsse verknüpft. Ein Haus in Flammen brennt
nieder, und baut sich nicht auf. Die Pflanze kriecht nicht, sich verkleinernd,
in die Erde, sondern wächst, sich vergrößernd, hervor.
Die Tatsache der Nichtumkehrbarkeit der Zeit reduziert sich darauf, daß
die Wertänderungen der physikalischen Größen in einem bestimmten
Sinne stattfinden. Von den beiden analyti-schen Möglichkeiten ist
nur die eine wirklich. Ein metaphysisches Problem brauchen wir hierin nicht
zu sehen.
Veränderungen können nur durch Differenzen
bestimmt sein. Im Unterschiedslosen gibt es keine Bestimmung. Die eintretende
Veränderung kann die Unterschiede vergrößern oder verkleinern.
Hätten aber die Differenzen die Tendenz, sich zu vergrößern,
so würde die Veränderung ins Unendliche und Ziellose gehen. Mit
dem allgemeinen Weltbild, oder vielmehr jenem unserer beschränkten
Umgebung, verträgt sich nur die Annahme einer im allgemeinen differenzverkleinernden
Tendenz. Es würde aber bald überhaupt nichts mehr geschehen,
wenn nicht von außen differenzsetzende Umstände, in unsere Umgebung
eindringend, sich geltend machen würden.
Wir können auch, wie Petzoldt, aus unserem
eigenen Bestehen, aus unserer körperlichen und geistigen Stabilität,
auf die Stabilität, eindeutige Bestimmtheit und Einsinnigkeit der
Vorgänge in der Natur schließen. Denn nicht nur sind wir selbst
ein Stück Natur, sondern die genannten Eigenschaften in unserer Umgebung
bedingen unser Bestehen und Denken (vgl. Populärwiss. Vorlesungen,
3. Aufl., S. 250). Allein zuviel läßt sich hierauf nicht bauen,
denn die Organismen sind ein eigenartiges Stück Natur von sehr begrenzter
und mäßiger Stabilität, welche ja tatsächlich auch
zugrunde gehen, und zu deren Erhaltung anderseits eine nur mäßige
Stabilität der Umgebung genügt. Es wird also am zweckmäßigsten
sein, die Grenzen unseres Wissens, die sich überall zeigen, anzuerkennen
und das Streben nach eindeutiger Bestimmtheit als ein Ideal anzusehen,
das wir in unserem Denken, soweit als möglich, verwirklichen.
Ich betrachte die Sätze, die ich in der Zeit
der größten Gärung meiner Gedanken (1871) niedergeschrieben
habe, namentlich in ihrer Form, selbstverständlich nicht als unangreifbar,
und sehe auch die Einwendungen von Petzoldt keineswegs als mutwillige
an, hoffe aber, wenn ich ausführlicher auf den Gegenstand zurückkomme,
den ich hier nur kurz berühren konnte, ohne das Wesentliche meiner
Ansicht aufzugeben, doch eine volle Verständigung zu erzielen23).