XII. Die Zeitempfindung1).

1.

Viel schwieriger als die Raumempfindung ist die Zeitempfindung zu untersuchen. Manche Empfindungen treten mit, andere ohne deutliche Raumempfindung auf. Die Zeitempfindung begleitet aber jede andere Empfindung und kann von keiner gänzlich losgelöst werden. Wir sind also bei der Untersuchung darauf angewiesen, auf die Variationen der Zeitempfindung zu achten. Zu dieser psychologischen Schwierigkeit gesellt sich noch die andere, daß die physiologischen Prozesse, an welche die Zeitempfindung geknüpft ist, noch weniger bekannt sind, tiefer und verborgener liegen als die andern Empfindungen entsprechenden Prozesse. Die Analyse muß sich also vorzugsweise auf die psychologische Seite beschränken, ohne von der physischen, wie dies in anderen Sinnesgebieten wenigstens teilweise möglich ist, entgegenzukommen.

1) Der Standpunkt, den ich hier einnehme, ist nur wenig verschieden von jenem meiner "Untersuchungen über den Zeitsinn des Ohres" (Sitzgber. der Wiener Akademie, Bd. 51, 1865). Auf die Einzelheiten dieser älteren Versuche, die ich schon 1860 begonnen habe, will ich hier nicht wieder zurückkommen. Auch das reiche Material kann hier nicht diskutiert werden, welches sich durch die Arbeiten von Meumann, Münsterberg, Schumann, Nichols, Hermann u. a. ergeben hat. Vgl. Scripture, The new Psychology, London 1897, p. 170. — Ergänzende Ausführungen s. in ,,Erkenntnis und Irrtum", 1905, S. 415 u. f.     Die wichtige Rolle, welche die zeitliche Ordnung der Elemente in unserm psychischen Leben spielt, braucht kaum besonders betont zu werden. Diese Ordnung ist fast noch bedeutender als die räumliche. Die Umkehrung der zeitlichen Ordnung entstellt einen Vorgang noch viel mehr, als die Umkehrung einer Raumgestalt von oben nach unten. Sie macht aus demselben geradezu ein anderes, neues Erlebnis. Deshalb werden die Worte einer Rede, eines Gedichtes, nur in der erlebten Ordnung reproduziert und nicht auch in der umgekehrten, in welcher sie im allgemeinen einen ganz andern, oder gar keinen Sinn haben. Kehrt man gar durch umgekehrtes Lautieren, oder durch umgekehrten Gang des Phonographen die ganze akustische Folge um, so erkennt man nicht einmal mehr die Wortbestandteile der Rede wieder. Nur an die bestimmte Lautfolge eines Wortes knüpfen sich bestimmte Erinnerungen, und nur wenn dieselben der Wortfolge entsprechend in bestimmter Ordnung geweckt werden, fügen sie sich zu einem bestimmten Sinn zusammen2). Aber auch eine Tonfolge, eine einfache Melodie, bei welcher die Gewohnheit und die Assoziation jedenfalls eine sehr geringe Rolle spielen, wird durch die zeitliche Umkehrung unkenntlich. Die zeitliche Folge selbst sehr elementarer Vorstellungen oder Empfindungen gehört mit zu deren Erinnerungsbild. 2) Vgl. R. Wallaschek, Psychologie und Pathologie der Vorstellung. Leipzig 1905, insbesondere: das Ganze und seine Teile, S. 15 u. f.     Faßt man die Zeit als Empfindung auf, so befremdet es weniger, daß in einer Reihe, welche in der Ordnung A B C D E ablief, irgend ein Glied, z. B. C, bloß die nachfolgenden, nicht aber die vorhergehenden in die Erinnerung ruft. So taucht ja auch das Erinnerungsbild eines Gebäudes nicht mit dem Dach nach unten gekehrt auf. Übrigens scheint es nicht einerlei zu sein, ob nach einem Organ A das Organ B erregt wird, oder umgekehrt. Es dürfte hierin ein physiologisches Problem liegen, mit dessen Lösung erst das volle Verständnis der fundamentalen psychologischen Tatsache des Ablaufs der Reproduktionsreihen in einem bestimmten Sinne gegeben wäre3). Möglich, daß diese Tatsache damit zusammenhängt, daß die Erregung, je nach dem Anfangspunkt, in welchem sie in den Organismus eintritt auf ganz verschiedenen Wegen sich fortpflanzt, ähnlich wie dies für physikalische Fälle durch die Betrachtung der Fig. 12 erläutert wurde. Wenn selbst in einem ganz homogenen Protoplasma zwei Erregungen von zwei distanten Punkten ausgehend, sich gleichmäßig ausbreiten, so treffen dieselben näher an dem später erregten Punkte zusammen. Die Ordnung der Erregung kann also selbst in den einfachsten Fällen nicht gleichgültig sein. 3) Vielleicht sind die nervösen Elemente nicht nur mit einer dauernden angeborenen polaren Orientierung behaftet, wie dies durch die abwärts laufende Welle im Darm, in der Muskulatur der Schlange, durch die galvanotropischen Erscheinungen wahrscheinlich wird, sondern sie sind vielleicht auch einer temporären erworbenen Polarität fähig, wie sich dies in der Einhaltung der Zeitfolge im Gedächtnis, in der Übung usw. ausspricht. Vgl. Loeb und Maxwell, Zur Theorie des Galvanotropismus. Pflügers Archiv, Bd. 63, S. 121. — Loeb, Vergleichende Gehirnphysiologie, S. 108 u. ff.     Einem Ton C folge ein Ton D. Der Eindruck ist ein ganz anderer, als wenn C auf D folgt. Das liegt großenteils an den Tönen selbst, an ihrer Wechselwirkung. Denn macht man die Pause zwischen beiden Tönen genügend groß, so unterscheidet man möglicher Weise beide Fälle gar nicht mehr. Analoges kann man bei der Folge von Farben, oder überhaupt von Empfindungen beliebiger Sinnesgebiete beobachten. Wenn aber einem Ton A eine Farbe oder ein Geruch B folgt, so weiß man doch immer, daß B auf A gefolgt ist, wobei die Schätzung der Pause zwischen A und B auch ganz unwesentlich durch deren Qualität beeinflußt ist. Es muß also nebenher noch ein Prozeß stattfinden, der von der Variation der Empfindungsqualität nicht affiziert wird, der von derselben ganz unabhängig ist, und an dem wir die Zeit schätzen. Man kann ja eine Art Rhythmus aus ganz heterogenen Empfindungen, Tönen, Farben, Tasteindrücken u. s. w. herstellen.

2.

Daß es eine besondere spezifische Zeitempfindung gibt, scheint mir hiernach nicht zweifelhaft. Der gleiche Rhythmus der beiden nebenstehenden Takte von gänzlich verschiedener Tonfolge wird unmittelbar erkannt.

    Dies ist nicht Sache des Verstandes oder der Überlegung, sondern der Empfindung. So wie sich uns verschieden gefärbte Körper von gleicher Raumgestalt darstellen können, so finden wir hier zwei akustisch verschieden gefärbte Tongebilde von gleicher Zeitgestalt. So wie wir in dem einen Fall die gleichen Raumempfindungsbestandteile unmittelbar herausfühlen, so bemerken wir hier die gleichen Zeitempfindungsbestandteile oder die Gleichheit des Rhythmus.
    Ich behaupte natürlich die unmittelbare Zeitempfindung nur bezüglich kleiner Zeiten. Längere Zeiten beurteilen wir und schätzen wir durch die Erinnerung an die in denselben stattgehabten Vorgänge, also durch Zerlegung in kleinere Teile, von welchen wir eine unmittelbare Empfindung hatten.

3.

Wenn ich eine Anzahl akustisch vollkommen gleicher Glockenschläge höre, unterscheide ich den ersten, zweiten, dritten u. s. w. Sind es vielleicht die begleitenden Gedanken oder andere zufällige Empfindungen, mit welchen die Glockenschläge sich verknüpfen, die diese Unterscheidungsmerkmale abgeben? Ich glaube nicht, daß jemand ernstlich diese Ansicht wird aufrecht erhalten wollen. Wie zweifelhaft und unzuverlässig müßte da unser Zeitmaß ausfallen. Wohin müßte es geraten, wenn jener zufällige Gedanken- und Empfindungshintergrund aus dem Gedächtnis verschwinden würde.
    Während ich über irgend etwas nachdenke, schlägt die Uhr, die ich nicht beachte. Nachdem sie ausgeschlagen hat, kann es mich interessieren, die Glockenschläge zu zählen. Und in der Tat tauchen in meiner Erinnerung deutlich ein, zwei, drei, vier Glockenschläge auf, während ich ganz dieser Erinnerung meine Aufmerksamkeit zuwende, und mir gerade dadurch für den Augenblick gänzlich entschwindet, worüber ich während des Schlagens der Uhr nachgedacht habe. Der vermeintliche Hintergrund, auf dem ich die Glockenschläge fixieren könnte, fehlt mir nun. Wodurch unterscheide ich also den zweiten Schlag vom ersten? Warum halte ich nicht alle die gleichen Schläge für einen? Weil jeder mit einer besonderen Zeitempfindung verknüpft ist, die mit ihm zugleich auftaucht. Ein Erinnerungsbild unterscheide ich von einer Ausgeburt meiner Phantasie ebenfalls durch eine spezifische Zeitempfindung, welche nicht jene des gegenwärtigen Augenblickes ist.

4.

Da die Zeitempfindung immer vorhanden ist, solange wir bei Bewußtsein sind, so ist es wahrscheinlich, daß sie mit der notwendig an das Bewußtsein geknüpften organischen Konsumtion zusammenhängt, daß wir die Arbeit der Aufmerksamkeit als Zeit empfinden. Bei angestrengter Aufmerksamkeit wird uns die Zeit lang, bei leichter Beschäftigung kurz. In stumpfem Zustand, wenn wir unsere Umgebung kaum beachten, fliegen die Stunden rasch dahin. Wenn unsere Aufmerksamkeit gänzlich erschöpft ist, schlafen wir. Im traumlosen Schlaf fehlt auch die Empfindung der Zeit. Der Tag von gestern ist mit dem von heute, wenn zwischen beiden ein tiefer Schlaf liegt, die gleichbleibenden Gemeingefühle abgerechnet, nur durch ein intellektuelles Band verknüpft.
    Auf das wahrscheinlich verschiedene Zeitmaß verschieden großer Tiere derselben Art habe ich schon bei früherer Gelegenheit hingewiesen4). Aber auch mit dem Alter scheint sich das Zeitmaß zu ändern. Wie kurz erscheint mir jetzt der Tag gegen jenen meiner Jugendzeit. Und wenn ich mich an den Sekundenschlag der astronomischen Uhr erinnere, welche ich in der Jugend beobachtete, so erscheint mir dieser Sekundenschlag jetzt merklich beschleunigt. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß meine physiologische Zeiteinheit größer geworden ist.

4) Zeitsinn des Ohres, S. 17.     Die Ermüdung des Bewußtseinsorgans schreitet, solange wir wachen, kontinuierlich fort, und die Arbeit der Aufmerksamkeit wächst ebenso stetig. Die Empfindungen, welche an eine größere Arbeit der Aufmerksamkeit geknüpft sind, erscheinen uns als die späteren.
    Normale wie anormale psychische Vorkommnisse scheinen sich dieser Auffassung wohl zu fügen. Da die Aufmerksamkeit sich nicht zugleich auf zwei verschiedene Sinnesorgane erstrecken kann, so können deren Empfindungen nicht mit einer absolut gleichen Aufmerksamkeitsarbeit zusammentreffen. Die eine erscheint also später als die andere. Ein solches Analogen dieser sogenannten persönlichen Differenz der Astronomen ergibt sich aber aus dem analogen Grunde auch in einem und demselben Sinnesgebiet. Es ist bekannt, daß ein optischer Eindruck, der physisch später entsteht, unter Umständen dennoch früher erscheinen kann. Es kommt z. B. vor, daß der Chirurg beim Aderlassen zuerst das Blut austreten, und dann den Schnepper einschlagen sieht5). Dvoràk6) hat in einer Versuchsreihe, die er vor Jahren auf meinen Wunsch ausgeführt hat, gezeigt, daß sich dieses Verhältnis willkürlich herstellen läßt, indem das mit Aufmerksamkeit fixierte Objekt (selbst bei einer wirklichen Verspätung von 1/8 1/6 Sekunde) früher erscheint als das indirekt gesehene. Es ist wohl möglich, daß sich die bekannte Erfahrung der Chirurgen durch diesen Umstand aufklären läßt. Die Zeit aber, welche die Aufmerksamkeit benötigt, um von einem Orte, an dem sie beschäftigt wird, nach einem anderen zu wandern, zeigt sich in folgendem von mir angestellten Versuch7). Zwei intensiv rote Quadrate von 2 cm Seite und 8 cm Abstand auf schwarzem Grunde werden in völliger Dunkelheit durch einen für das Auge gedeckten elektrischen Funken beleuchtet. Das direkt gesehene Quadrat erscheint rot, das indirekt gesehene grün, und zwar oft sehr intensiv. Die verspätete Aufmerksamkeit findet also das direkt gesehene Quadrat schon in dem Stadium des Purkinjeschen positiven Nachbildes vor. Auch eine Geißlersche Röhre mit zwei etwas voneinander entfernten rot leuchtenden Teilen zeigt beim Hindurchgehen einer einzelnen Entladung dieselbe Erscheinung8).


Fig. 34

              5) Vgl. Fechner, Psychophysik. Leipzig 1860. Bd. 2, S. 433.

6) Dvo?àk, Über Analoga der persönlichen Differenz zwischen beiden Augen und den Netzhautstellen desselben Auges. Sitzungsberichte der königl. böhm. Gesellschaft der Wissenschaften (math.-naturw. Klasse) vom 8. März 1872.              7) Von Dvo?àk a. a. O. mitgeteilt. 8) Auch Professor G. Heymans, dem dieser letztere Versuch anfangs nicht gelingen wollte, hat sich später von der Richtigkeit der Angabe überzeugt.     In Bezug auf die Einzelheiten muß ich auf die Abhandlung von Dvoràk verweisen. Besonders interessant sind Dvoràks9) Versuche über die stereoskopische (binokulare) Kombination ungleichzeitiger Eindrücke. Neuere Versuche dieser Art haben Sandford10) und Münsterberg11) angestellt.

              9) a. a. O. S. 2.
             10) Sandford, Amer. Journ. Psych., 1894, Vol. VI, p. 576.
             11) Münsterberg, Psych. Rev., 1894, Vol. I, p. 56.

5.

Wiederholt habe ich ein interessantes hierher gehöriges Phänomen beobachtet. Ich saß, in die Arbeit vertieft, in meinem Zimmer, während in einem Nebenzimmer Versuche über Explosionen angestellt wurden. Regelmäßig geschah es nun, daß ich zuerst erschreckt zusammenzuckte, und nachher erst den Knall hörte.
    Da im Traum die Aufmerksamkeit besonders träge ist, so kommen in diesem Falle die sonderbarsten Anachronismen vor, und jeder hat wohl solche Träume erlebt. Wir träumen z. B. von einem Mann, der auf uns losstürzt und schießt, erwachen plötzlich, und bemerken den Gegenstand, der durch seinen Fall den ganzen Traum erzeugt hat. Es hat nun nichts Widersinniges, anzunehmen, daß der akutische Reiz verschiedene Nervenbahnen zugleich einschlägt, und hier in beliebiger verkehrter Ordnung von der Aufmerksamkeit angetroffen wird, so wie ich bei der obigen Beobachtung zuerst die allgemeine Erregung, und dann den Explosionsknall bemerkte. Freilich wird es in manchen Fällen zur Erklärung auch ausreichen, ein Verweben einer Sinnesempfindung in ein vorher schon vorhandenes Traumbild anzunehmen.

6.

Würde die Konsumtion oder etwa die Anhäufung eines Ermüdungsstoffes unmittelbar empfunden, so müßte man ein Rückwärtsgehen der Zeit im Traum erwarten. Diese Schwierigkeit besteht nicht, wenn Konsumtion und Restitution als heterodrome Prozesse im Sinne Paulis (vgl. Kap. IV) aufgefaßt werden. — Die Sonderbarkeiten des Traumes lassen sich fast alle darauf zurückführen, daß manche Empfindungen und Vorstellungen gar nicht, andere zu schwer und zu spät ins Bewußtsein treten. Trägheit der Assoziation ist ein Grundzug des Traumes. — Der Intellekt schläft oft nur teilweise. Man spricht im Traume sehr vernünftig mit längst verstorbenen Personen, erinnert sich aber nicht ihres Todes. Ich spreche zu einem Freunde von einer dritten Person, und dieser Freund ist selbst die Person, von der ich sprach. Man reflektiert im Traume über den Traum, erkennt ihn als Traum an den Sonderbarkeiten, ist aber gleich wieder über dieselben beruhigt. — Mir träumte sehr lebhaft von einer Mühle. Das Wasser floß in einem geneigten Kanal von einer Mühle herab und hart daneben in einem eben solchen Kanal zur Mühle hinauf. Ich war dadurch gar nicht beunruhigt. — Als ich viel mit Raumfragen beschäftigt war, träumte mir von einem Spaziergang im Walde. Plötzlich bemerkte ich die mangelhafte perspektivische Verschiebung der Bäume und erkannte daran den Traum. Sofort traten aber auch die vermißten Verschiebungen ein. — Im Traum sah ich in meinem Laboratorium ein mit Wasser gefülltes Becherglas, in dem ruhig ein Kerzenlicht brannte. "Woher bezieht das den Sauerstoff?" dachte ich. "Der ist im Wasser absorbiert." "Wo kommen die Verbrennungsgase hin?" Nun stiegen Blasen von der Flamme im Wasser auf, und ich war beruhigt. — W. Robert12) macht die vortreffliche Beobachtung, daß es hauptsächlich Wahrnehmungen und Gedanken sind, die man wegen einer Störung bei Tage nicht zu Ende führen konnte, welche im Traume sich fortspinnen. In der Tat findet man häufig die Traumelemente in den Erlebnissen des vorausgehenden Tages. So konnte ich den Traum von dem Licht im Wasser fast mit Sicherheit auf einen Vorlesungsversuch mit dem elektrischen Kohlenlicht unter Wasser, jenen von der Mühle auf die Versuche mit dem Apparat Fig. 18, Kap. 7 zurückführen13). In meinen Träumen spielen Gesichtshalluzinationen die Hauptrolle. Seltener habe ich akustische Träume. Ich höre jedoch deutlich Unterredungen im Traume, Glockengeläute und Musik14). Jeder Sinn, selbst der Geschmacksinn, macht sich, wenn auch seltener, im Traume geltend. Da im Traume die Reflexerregbarkeit sehr gesteigert, das Gewissen aber wegen der trägen Assoziation sehr geschwächt ist, so ist der Träumende fast eines jeden Verbrechens fähig, und kann im Stadium des Erwachens die ärgsten Qualen durchkosten. Wer solche Erlebnisse auf sich wirken läßt, wird sehr zweifeln, daß die Methode unserer Gerechtigkeit die richtige ist, ein Unglück durch ein zweites gut zu machen, welches in empörend besonnener, grausamer und feierlicher Weise hinzugefügt wird. — Ich möchte die Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen, dem Leser das vortreffliche Buch von M. de Manacéïne zu empfehlen15). Was über das Unzureichende der temporären Assoziationen zur Erklärung des psychischen Lebens S. 165, 195, 196 gesagt wurde, gilt auch für den Traum. Es kommt noch hinzu, daß im Traum die leisesten Spuren des für das wache Bewußtsein längst Vergessenen, die geringsten Störungen der Gesundheit und des Gemütslebens, welche vor dem Lärm des Tages in den Hintergrund treten mußten, sich geltend machen können. Du Prel vergleicht in seiner "Philosophie der Mystik" (1885, S. V, 123) diesen Vorgang poetisch und wahr zugleich mit dem Sichtbarwerden des schwach leuchtenden Sternenhimmels nach Untergang der Sonne. Das genannte Buch enthält überhaupt manche bemerkenswerte und tiefe Blicke. Gerade der Naturforscher, dessen kritischer Sinn auf das zunächst Erforschbare gerichtet ist, liest dasselbe mit Vergnügen und Gewinn, ohne sich durch die Neigung des Verfassers für das Abenteuerliche, Wunderbare und Außerordentliche beirren zu lassen.

12) W. Robert, Über den Traum. Hamburg 1886.
13) Prinzipien der Wärmelehre, 2. Aufl., 1900, S. 444.
14) Wallaschek, Das musikalische Gedächtnis. Vierteljahrsschr. f. Musikwissensch., 1882, S. 204.
15) M. de Manacéïne, Sleep, its Physiology etc. London 1897.


7.

Wenn die Zeitempfindung an die wachsende organische Konsumtion oder an die ebenfalls stetig wachsende Arbeit der Aufmerksamkeit gebunden ist, so wird es verständlich, warum die physiologische Zeit ebenso wie die physikalische Zeit nicht umkehrbar ist, sondern nur in einem Sinne abläuft. Die Konsumtion und Aufmerksamkeitsarbeit kann, solange wir wachen, nur wachsen und nicht abnehmen. Die beiden nebenstehenden Takte, welche für das Auge und den Verstand eine Symmetrie darbieten, zeigen nichts Derartiges in Bezug auf die Zeitempfindung. Im Gebiete des Rhythmus und der Zeit überhaupt gibt es keine Symmetrie.

8.

Es möchte wohl eine naheliegende und natürliche, wenn auch noch unvollkommene Vorstellung sein, sich das "Bewußtseinsorgan" in geringem Grade aller spezifischen Energien fähig zu denken, von welchen jedes Sinnesorgan nur einige aufzuweisen vermag. Daher das Schattenhafte und Vergängliche der Vorstellung gegenüber der Sinnesempfindung, durch welche letztere die erstere stets genährt und aufgefrischt werden muß. Daher die Fähigkeit des Bewußtseinsorgans, als Verbindungsbrücke zwischen allen Empfindungen und Erinnerungen zu dienen. Mit jeder spezifischen Energie des Bewußtseinsorgans hätten wir uns noch eine besondere Energie, die Zeitempfindung, verbunden zu denken, so daß keine der ersteren ohne die letztere erregt werden kann. Sollte es scheinen, daß diese letztere physiologisch müßig und nur ad hoc erdacht sei, so könnte man ihr sofort eine wichtige physiologische Funktion zuweisen. Wie wäre es, wenn diese Energie den die arbeitenden Hirnteile nährenden Blutstrom unterhalten, an seinen Bestimmungsort leiten und regulieren würde? Unsere Vorstellung von der Aufmerksamkeit und Zeitempfindung würde dadurch eine sehr materielle Basis erhalten. Es würde verständlich, daß es nur eine zusammenhängende Zeit gibt, da die Teilaufmerksamkeit auf einen Sinn immer nur aus der Gesamtaufmerksamkeit fließt und durch diese bedingt ist.
    Die plethysmographischen Arbeiten von Mosso, sowie dessen Beobachtungen über den Blutkreislauf im Gehirn16), legen eine solche Auffassung nahe. James17) äußert sich über die hier ausgesprochene Vermutung vorsichtig zustimmend. Eine bestimmtere, ausgeführtere Form derselben, die James als wünschenswert bezeichnet, könnte ich leider nicht angeben.

16) Mosso, Kreislauf des Blutes im Gehirn. Leipzig 1881. — Vgl. auch: Kornfeld, Über die Beziehung von Atmung und Kreislauf zur geistigen Arbeit, Brünn 1896.              17) James, Psychology, I, 635.

9.

Wenn wir eine Anzahl gleicher Glockenschläge beobachten, so können wir, solange sie in geringer Anzahl gegeben sind, jeden einzelnen von den andern in der Erinnerung unterscheiden, und können in der Erinnerung nachzählen. Bei einer größern Zahl von Glockenschlägen aber unterscheiden wir zwar die letzten von einander, doch nicht mehr die ersten. Wollen wir in diesem Fall keinem Irrtum unterliegen, so müssen wir beim Erklingen derselben zählen, d. h. jeden Schlag willkürlich mit einem Ordnungszeichen verknüpfen. Die Erscheinung ist ganz analog derjenigen, welche wir im Gebiet des Raumsinns beobachten, und wird auch nach demselben Prinzip zu erklären sein. Wenn wir vorwärts schreiten, haben wir zwar die Empfindung, daß wir uns von einem Ausgangspunkt entfernen, allein das physiologische Maß dieser Entfernung geht nicht proportional dem geometrischen. So schrumpft auch die abgelaufene physiologische Zeit perspektivisch zusammen, und ihre einzelnen Elemente werden weniger unterscheidbarl8).

             18) Vgl. S. 110.

10.

Wenn eine besondere Zeitempfindung existiert, so ist es selbstverständlich, daß die Identität zweier Rhythmen unmittelbar erkannt wird. Wir dürfen aber nicht unbemerkt lassen, daß derselbe physikalische Rhythmus physiologisch sehr verschieden erscheinen kann, ebenso wie derselben physikalischen Raumgestalt je nach deren Lage verschiedene physiologische Raumformen entsprechen können. Der durch nebenstehende Noten veranschaulichte Rhythmus erscheint z. B. ganz verschieden, je nachdem man die kurzen dicken, oder die langen dünnen, oder die punktierten Vertikalstriche als Taktstriche ansieht. Es hängt dies augenscheinlich damit zusammen, daß die Aufmerksamkeit (durch die Betonung geleitet) bei 1, 2 oder 3 einsetzt, d. h. daß die den aufeinander folgenden Schlägen entsprechenden Zeitempfindungen mit verschiedenen Anfangsempfindungen verglichen werden.

    Bei Verlängerung oder Verkürzung aller Zeiten eines Rhythmus entsteht ein ähnlicher Rhythmus. Als solcher empfunden kann derselbe nur werden, wenn die Verlängerung oder Verkürzung nicht über ein gewisses Maß hinausgeht, das eben der unmittelbaren Zeitempfindung gesteckt ist.
    Der im folgenden dargestellte Rhythmus erscheint dem vorigen physiologisch ähnlich; aber nur dann, wenn in beiden die gleichbezeichneten Taktstriche anerkannt werden, wenn also die Aufmerksamkeit in homologen Zeitpunkten einsetzt. Zwei physikalische Zeitgebilde können als ähnlich bezeichnet werden, wenn alle Teile des einen in demselben Verhältnis zueinander stehen, wie die homologen Teile des andern. Die physiologische Ähnlichkeit tritt aber erst hervor, wenn auch die obige Bedingung erfüllt ist. So viel ich übrigens zu beurteilen vermag, erkennt man die Zeitverhältnisse zweier Rhythmen nur dann als gleich, wenn dieselben durch sehr kleine ganze Zahlen dargestellt sind. Eigentlich bemerkt man also unmittelbar nur die Gleichheit oder Ungleichheit zweier Zeiten, und erkennt das Verhältnis im letztern Fall nur dadurch, daß ein Teil in dem andern einfach aufgeht. Hierdurch erklärt es sich, warum man beim Taktgeben die Zeit in lauter durchaus gleiche Teile teilt19).
19) Die Ähnlichkeit der Raumgestalten würde hiernach viel unmittelbarer empfunden als die Ähnlichkeit der Rhythmen.     Es wird hiermit die Vermutung nahe gelegt, daß die Empfindung der Zeit mit periodisch oder rhythmisch sich wiederholenden Prozessen in nahem Zusammenhange steht. Es wird sich aber kaum nachweisen lassen, wie es gelegentlich versucht worden ist, daß sich das allgemeine Zeitmaß auf die Atmung oder den Puls gründet. Diese Fragen sind jedenfalls nicht so einfacher Natur. Rhythmisch verlaufen viele Vorgänge natürlich auch im Leibe der Tiere, ohne daß man diesen einen besonders empfindlichen Sinn für Zeit, Rhythmus und Takt zuschreiben dürfte. Wenn bei meiner Wohnung ein Zweigespann vorbeifährt, so kann ich lange und weithin das Koinzidieren und Alternieren der Hufschläge der beiden Pferde in ganz regelmäßigen Perioden hören. Jedes Pferd hält also seinen eigenen Takt fest, ohne sich um jenen des anderen Pferdes zu kümmern, und ohne sich demselben anzupassen. Dieses Verhalten wäre zusammengespannten Menschen beinahe unerträglich. Wallaschek erwähnt des mangelnden Taktgefühls der Pferde und auch der Schwierigkeit, den Schein desselben bei Zirkusproduktionen aufrecht zu halten. Grob körperliche Vorgänge sind es kaum, auf welchen das Taktgefühl unmittelbar beruht. Dasselbe dürfte vielmehr auf eine größere psychische Empfindlichkeit zurückzuführen sein, vermöge welcher ein geringfügiger psychischer Umstand die Aufmerksamkeit bestimmt, einen sonst gleichgültigen Vorgang zu beachten. Bei aufmerksamer Beobachtung taktmäßiger Vorgänge, welche stets ein leises Mittun oder Nachahmen ist, werden aber die psychischen und schließlich auch die grob leiblichen Funktionen selbst taktmäßig20). 20) Wallaschek, Anfänge der Tonkunst, Leipzig 1903, S. 270, 271. Dieses Buch, eine bereicherte illustrierte deutsche Ausgabe eines englischen Buches desselben Verfassers (,,Primitive Music", London 1903) enthält überhaupt sehr wertvolle Beobachtungen zu den in diesem und in dem folgenden Kapitel behandelten Fragen.     Auch Herr Dr. R. Wlassak hat mir bei Gelegenheit eines Gespräches eine Bemerkung mitgeteilt, die ich mit seinen eigenen Worten wiedergeben will:
    "Mit der Hypothese, daß die Zeitempfindung von der organischen Konsumtion abhängig ist, steht es in Einklang, daß die Zeitwerte überall da zu starker Abhebung gelangen, wo die Empfindungen mit lebhafter Gefühlsbetonung verbunden sind. Dies gilt sowohl für mit stark lustvollen wie auch mit unlustvollen Empfindungen ausgefüllte Zeitstrecken. Dagegen sind die in den Indifferenzwerten der Gefühlsbetonung sich bewegenden Empfindungen mit relativ undeutlichen Zeitempfindungen verknüpft. Diese Tatsachen weisen darauf hin, daß der den Zeitempfindungen und den Gefühlen zugehörige nervöse Vorgang gewisse Analogien darbietet.
    In der Tat bringen alle Versuche einer physiologischen Theorie der Gefühle diese in Beziehung zur Konsumtion, z. B. Meynerts und auch Avenarius' Theorie der Gefühle."