1.
Viel schwieriger als die Raumempfindung ist die Zeitempfindung zu untersuchen. Manche Empfindungen treten mit, andere ohne deutliche Raumempfindung auf. Die Zeitempfindung begleitet aber jede andere Empfindung und kann von keiner gänzlich losgelöst werden. Wir sind also bei der Untersuchung darauf angewiesen, auf die Variationen der Zeitempfindung zu achten. Zu dieser psychologischen Schwierigkeit gesellt sich noch die andere, daß die physiologischen Prozesse, an welche die Zeitempfindung geknüpft ist, noch weniger bekannt sind, tiefer und verborgener liegen als die andern Empfindungen entsprechenden Prozesse. Die Analyse muß sich also vorzugsweise auf die psychologische Seite beschränken, ohne von der physischen, wie dies in anderen Sinnesgebieten wenigstens teilweise möglich ist, entgegenzukommen.
2.
Daß es eine besondere spezifische Zeitempfindung gibt, scheint mir hiernach nicht zweifelhaft. Der gleiche Rhythmus der beiden nebenstehenden Takte von gänzlich verschiedener Tonfolge wird unmittelbar erkannt.
3.
Wenn ich eine Anzahl akustisch vollkommen gleicher Glockenschläge
höre, unterscheide ich den ersten, zweiten, dritten u. s. w. Sind
es vielleicht die begleitenden Gedanken oder andere zufällige Empfindungen,
mit welchen die Glockenschläge sich verknüpfen, die diese Unterscheidungsmerkmale
abgeben? Ich glaube nicht, daß jemand ernstlich diese Ansicht wird
aufrecht erhalten wollen. Wie zweifelhaft und unzuverlässig müßte
da unser Zeitmaß ausfallen. Wohin müßte es geraten, wenn
jener zufällige Gedanken- und Empfindungshintergrund aus dem Gedächtnis
verschwinden würde.
Während ich über irgend etwas nachdenke,
schlägt die Uhr, die ich nicht beachte. Nachdem sie ausgeschlagen
hat, kann es mich interessieren, die Glockenschläge zu zählen.
Und in der Tat tauchen in meiner Erinnerung deutlich ein, zwei, drei, vier
Glockenschläge auf, während ich ganz dieser Erinnerung meine
Aufmerksamkeit zuwende, und mir gerade dadurch für den Augenblick
gänzlich entschwindet, worüber ich während des Schlagens
der Uhr nachgedacht habe. Der vermeintliche Hintergrund, auf dem ich die
Glockenschläge fixieren könnte, fehlt mir nun. Wodurch unterscheide
ich also den zweiten Schlag vom ersten? Warum halte ich nicht alle die
gleichen Schläge für einen? Weil jeder mit einer besonderen Zeitempfindung
verknüpft ist, die mit ihm zugleich auftaucht. Ein Erinnerungsbild
unterscheide ich von einer Ausgeburt meiner Phantasie ebenfalls durch eine
spezifische Zeitempfindung, welche nicht jene des gegenwärtigen Augenblickes
ist.
4.
Da die Zeitempfindung immer vorhanden ist, solange wir bei Bewußtsein
sind, so ist es wahrscheinlich, daß sie mit der notwendig an das
Bewußtsein geknüpften organischen Konsumtion zusammenhängt,
daß wir die Arbeit der Aufmerksamkeit als Zeit empfinden. Bei angestrengter
Aufmerksamkeit wird uns die Zeit lang, bei leichter Beschäftigung
kurz. In stumpfem Zustand, wenn wir unsere Umgebung kaum beachten, fliegen
die Stunden rasch dahin. Wenn unsere Aufmerksamkeit gänzlich erschöpft
ist, schlafen wir. Im traumlosen Schlaf fehlt auch die Empfindung der Zeit.
Der Tag von gestern ist mit dem von heute, wenn zwischen beiden ein tiefer
Schlaf liegt, die gleichbleibenden Gemeingefühle abgerechnet, nur
durch ein intellektuelles Band verknüpft.
Auf das wahrscheinlich verschiedene Zeitmaß
verschieden großer Tiere derselben Art habe ich schon bei früherer
Gelegenheit hingewiesen4). Aber auch mit
dem Alter scheint sich das Zeitmaß zu ändern. Wie kurz erscheint
mir jetzt der Tag gegen jenen meiner Jugendzeit. Und wenn ich mich an den
Sekundenschlag der astronomischen Uhr erinnere, welche ich in der Jugend
beobachtete, so erscheint mir dieser Sekundenschlag jetzt merklich beschleunigt.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß meine physiologische
Zeiteinheit größer geworden ist.
Fig. 34
5) Vgl. Fechner, Psychophysik. Leipzig 1860. Bd. 2, S. 433.
9) a. a. O. S. 2.
10) Sandford, Amer. Journ. Psych., 1894, Vol. VI, p. 576.
11) Münsterberg, Psych. Rev., 1894, Vol. I, p. 56.
5.
Wiederholt habe ich ein interessantes hierher gehöriges Phänomen
beobachtet. Ich saß, in die Arbeit vertieft, in meinem Zimmer, während
in einem Nebenzimmer Versuche über Explosionen angestellt wurden.
Regelmäßig geschah es nun, daß ich zuerst erschreckt zusammenzuckte,
und nachher erst den Knall hörte.
Da im Traum die Aufmerksamkeit besonders träge
ist, so kommen in diesem Falle die sonderbarsten Anachronismen vor, und
jeder hat wohl solche Träume erlebt. Wir träumen z. B. von einem
Mann, der auf uns losstürzt und schießt, erwachen plötzlich,
und bemerken den Gegenstand, der durch seinen Fall den ganzen Traum erzeugt
hat. Es hat nun nichts Widersinniges, anzunehmen, daß der akutische
Reiz verschiedene Nervenbahnen zugleich einschlägt, und hier in beliebiger
verkehrter Ordnung von der Aufmerksamkeit angetroffen wird, so wie ich
bei der obigen Beobachtung zuerst die allgemeine Erregung, und dann den
Explosionsknall bemerkte. Freilich wird es in manchen Fällen zur Erklärung
auch ausreichen, ein Verweben einer Sinnesempfindung in ein vorher schon
vorhandenes Traumbild anzunehmen.
6.
Würde die Konsumtion oder etwa die Anhäufung eines Ermüdungsstoffes unmittelbar empfunden, so müßte man ein Rückwärtsgehen der Zeit im Traum erwarten. Diese Schwierigkeit besteht nicht, wenn Konsumtion und Restitution als heterodrome Prozesse im Sinne Paulis (vgl. Kap. IV) aufgefaßt werden. — Die Sonderbarkeiten des Traumes lassen sich fast alle darauf zurückführen, daß manche Empfindungen und Vorstellungen gar nicht, andere zu schwer und zu spät ins Bewußtsein treten. Trägheit der Assoziation ist ein Grundzug des Traumes. — Der Intellekt schläft oft nur teilweise. Man spricht im Traume sehr vernünftig mit längst verstorbenen Personen, erinnert sich aber nicht ihres Todes. Ich spreche zu einem Freunde von einer dritten Person, und dieser Freund ist selbst die Person, von der ich sprach. Man reflektiert im Traume über den Traum, erkennt ihn als Traum an den Sonderbarkeiten, ist aber gleich wieder über dieselben beruhigt. — Mir träumte sehr lebhaft von einer Mühle. Das Wasser floß in einem geneigten Kanal von einer Mühle herab und hart daneben in einem eben solchen Kanal zur Mühle hinauf. Ich war dadurch gar nicht beunruhigt. — Als ich viel mit Raumfragen beschäftigt war, träumte mir von einem Spaziergang im Walde. Plötzlich bemerkte ich die mangelhafte perspektivische Verschiebung der Bäume und erkannte daran den Traum. Sofort traten aber auch die vermißten Verschiebungen ein. — Im Traum sah ich in meinem Laboratorium ein mit Wasser gefülltes Becherglas, in dem ruhig ein Kerzenlicht brannte. "Woher bezieht das den Sauerstoff?" dachte ich. "Der ist im Wasser absorbiert." "Wo kommen die Verbrennungsgase hin?" Nun stiegen Blasen von der Flamme im Wasser auf, und ich war beruhigt. — W. Robert12) macht die vortreffliche Beobachtung, daß es hauptsächlich Wahrnehmungen und Gedanken sind, die man wegen einer Störung bei Tage nicht zu Ende führen konnte, welche im Traume sich fortspinnen. In der Tat findet man häufig die Traumelemente in den Erlebnissen des vorausgehenden Tages. So konnte ich den Traum von dem Licht im Wasser fast mit Sicherheit auf einen Vorlesungsversuch mit dem elektrischen Kohlenlicht unter Wasser, jenen von der Mühle auf die Versuche mit dem Apparat Fig. 18, Kap. 7 zurückführen13). In meinen Träumen spielen Gesichtshalluzinationen die Hauptrolle. Seltener habe ich akustische Träume. Ich höre jedoch deutlich Unterredungen im Traume, Glockengeläute und Musik14). Jeder Sinn, selbst der Geschmacksinn, macht sich, wenn auch seltener, im Traume geltend. Da im Traume die Reflexerregbarkeit sehr gesteigert, das Gewissen aber wegen der trägen Assoziation sehr geschwächt ist, so ist der Träumende fast eines jeden Verbrechens fähig, und kann im Stadium des Erwachens die ärgsten Qualen durchkosten. Wer solche Erlebnisse auf sich wirken läßt, wird sehr zweifeln, daß die Methode unserer Gerechtigkeit die richtige ist, ein Unglück durch ein zweites gut zu machen, welches in empörend besonnener, grausamer und feierlicher Weise hinzugefügt wird. — Ich möchte die Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen, dem Leser das vortreffliche Buch von M. de Manacéïne zu empfehlen15). Was über das Unzureichende der temporären Assoziationen zur Erklärung des psychischen Lebens S. 165, 195, 196 gesagt wurde, gilt auch für den Traum. Es kommt noch hinzu, daß im Traum die leisesten Spuren des für das wache Bewußtsein längst Vergessenen, die geringsten Störungen der Gesundheit und des Gemütslebens, welche vor dem Lärm des Tages in den Hintergrund treten mußten, sich geltend machen können. Du Prel vergleicht in seiner "Philosophie der Mystik" (1885, S. V, 123) diesen Vorgang poetisch und wahr zugleich mit dem Sichtbarwerden des schwach leuchtenden Sternenhimmels nach Untergang der Sonne. Das genannte Buch enthält überhaupt manche bemerkenswerte und tiefe Blicke. Gerade der Naturforscher, dessen kritischer Sinn auf das zunächst Erforschbare gerichtet ist, liest dasselbe mit Vergnügen und Gewinn, ohne sich durch die Neigung des Verfassers für das Abenteuerliche, Wunderbare und Außerordentliche beirren zu lassen.
7.
Wenn die Zeitempfindung an die wachsende organische Konsumtion oder an die ebenfalls stetig wachsende Arbeit der Aufmerksamkeit gebunden ist, so wird es verständlich, warum die physiologische Zeit ebenso wie die physikalische Zeit nicht umkehrbar ist, sondern nur in einem Sinne abläuft. Die Konsumtion und Aufmerksamkeitsarbeit kann, solange wir wachen, nur wachsen und nicht abnehmen. Die beiden nebenstehenden Takte, welche für das Auge und den Verstand eine Symmetrie darbieten, zeigen nichts Derartiges in Bezug auf die Zeitempfindung. Im Gebiete des Rhythmus und der Zeit überhaupt gibt es keine Symmetrie.
8.
Es möchte wohl eine naheliegende und natürliche, wenn auch
noch unvollkommene Vorstellung sein, sich das "Bewußtseinsorgan"
in geringem Grade aller spezifischen Energien fähig zu denken, von
welchen jedes Sinnesorgan nur einige aufzuweisen vermag. Daher das Schattenhafte
und Vergängliche der Vorstellung gegenüber der Sinnesempfindung,
durch welche letztere die erstere stets genährt und aufgefrischt werden
muß. Daher die Fähigkeit des Bewußtseinsorgans, als Verbindungsbrücke
zwischen allen Empfindungen und Erinnerungen zu dienen. Mit jeder spezifischen
Energie des Bewußtseinsorgans hätten wir uns noch eine besondere
Energie, die Zeitempfindung, verbunden zu denken, so daß keine der
ersteren ohne die letztere erregt werden kann. Sollte es scheinen, daß
diese letztere physiologisch müßig und nur ad hoc erdacht sei,
so könnte man ihr sofort eine wichtige physiologische Funktion zuweisen.
Wie wäre es, wenn diese Energie den die arbeitenden Hirnteile nährenden
Blutstrom unterhalten, an seinen Bestimmungsort leiten und regulieren würde?
Unsere Vorstellung von der Aufmerksamkeit und Zeitempfindung würde
dadurch eine sehr materielle Basis erhalten. Es würde verständlich,
daß es nur eine zusammenhängende Zeit gibt, da die Teilaufmerksamkeit
auf einen Sinn immer nur aus der Gesamtaufmerksamkeit fließt und
durch diese bedingt ist.
Die plethysmographischen Arbeiten von Mosso,
sowie dessen Beobachtungen über den Blutkreislauf im Gehirn16),
legen eine solche Auffassung nahe. James17)
äußert sich über die hier ausgesprochene Vermutung vorsichtig
zustimmend. Eine bestimmtere, ausgeführtere Form derselben, die James
als wünschenswert bezeichnet, könnte ich leider nicht angeben.
9.
Wenn wir eine Anzahl gleicher Glockenschläge beobachten, so können wir, solange sie in geringer Anzahl gegeben sind, jeden einzelnen von den andern in der Erinnerung unterscheiden, und können in der Erinnerung nachzählen. Bei einer größern Zahl von Glockenschlägen aber unterscheiden wir zwar die letzten von einander, doch nicht mehr die ersten. Wollen wir in diesem Fall keinem Irrtum unterliegen, so müssen wir beim Erklingen derselben zählen, d. h. jeden Schlag willkürlich mit einem Ordnungszeichen verknüpfen. Die Erscheinung ist ganz analog derjenigen, welche wir im Gebiet des Raumsinns beobachten, und wird auch nach demselben Prinzip zu erklären sein. Wenn wir vorwärts schreiten, haben wir zwar die Empfindung, daß wir uns von einem Ausgangspunkt entfernen, allein das physiologische Maß dieser Entfernung geht nicht proportional dem geometrischen. So schrumpft auch die abgelaufene physiologische Zeit perspektivisch zusammen, und ihre einzelnen Elemente werden weniger unterscheidbarl8).
18) Vgl. S. 110.
10.
Wenn eine besondere Zeitempfindung existiert, so ist es selbstverständlich, daß die Identität zweier Rhythmen unmittelbar erkannt wird. Wir dürfen aber nicht unbemerkt lassen, daß derselbe physikalische Rhythmus physiologisch sehr verschieden erscheinen kann, ebenso wie derselben physikalischen Raumgestalt je nach deren Lage verschiedene physiologische Raumformen entsprechen können. Der durch nebenstehende Noten veranschaulichte Rhythmus erscheint z. B. ganz verschieden, je nachdem man die kurzen dicken, oder die langen dünnen, oder die punktierten Vertikalstriche als Taktstriche ansieht. Es hängt dies augenscheinlich damit zusammen, daß die Aufmerksamkeit (durch die Betonung geleitet) bei 1, 2 oder 3 einsetzt, d. h. daß die den aufeinander folgenden Schlägen entsprechenden Zeitempfindungen mit verschiedenen Anfangsempfindungen verglichen werden.