1.
Es ist schon wiederholt darauf hingewiesen worden, wie sehr sich das System unserer Raumempfindungen, der physiologische Raum, wenn wir so sagen dürfen, von dem geometrischen Raum (wir meinen hier den Euklidischen Raum) unterscheidet. Dies gilt nicht nur für den Sehraum, sondern auch für den haptischen Raum des Blinden im Vergleich zum geometrischen Raum. Der geometrische Raum ist überall und nach allen Richtungen gleich beschaffen, unbegrenzt und unendlich (im Riemannschen Sinne). Der Sehraum ist begrenzt und endlich, ja sogar, wie der Anblick des abgeplatteten "Himmelsgewölbes" lehrt, in verschiedener Richtung von ungleicher Ausdehnung. Durch das Schrumpfen der Körper bei Entfernung, durch das Schwellen bei Annäherung derselben gleicht der Sehraum viel mehr manchen Gebilden der Metageometer als dem Euklidischen Raum. Die Verschiedenheit des "oben" und "unten", des "vorn" und "hinten", genau genommen auch des "rechts" und "links",teilt der haptische Raum mit dem Sehraum. Solche Unterschiede fehlen im geometrischen Raum. Der physiologische Raum verhält sich zum geometrischen für den Menschen und die Tiere von ähnlichem Bau ungefähr wie ein triklines zu einem tesseralen Medium. Dies gilt für Menschen und Tiere, solange diesen nicht die Freiheit der Bewegung und der Orientierung zukommt. Mit der Beweglichkeit nähert sich der physiologische Raum dem Euklidischen, ohne ihn jedoch in der Einfachheit seiner Eigenschaften vollständig zu erreichen. Mit dem geometrischen Raum hat der physiologische gemein die dreifache Mannigfaltigkeit und die Kontinuität. Der stetigen Bewegung des Punktes A im geometrischen Raum entspricht eine ebensolche des Punktes A' im physiologischen Raum. Es genügt auf die Schwierigkeit hinzuweisen, welche die Lehre von den Antipoden zu überwinden hatte, um zu zeigen, daß geometrische Raum Vorstellungen durch physiologische getrübt werden können. Auch unsere abstrakteste Geometrie bedient sich nicht rein metrischer Begriffe, sondern verwendet noch physiologische Vorstellungen, wie Richtung, Sinn, rechts, links usw.
2.
Betrachten wir die Raumempfindungen nicht als isolierte Erscheinungen, sondern in ihrem biologischen Zusammenhang, in ihrer biologischen Funktion, so werden dieselben, teleologisch wenigstens, verständlicher. Sobald ein Organ oder ein System von Organen gereizt wird, treten reflektorisch, als Reaktion, im allgemeinen zweckmäßige Bewegungen ein, welche je nach der Art des Reizes Abwehr- oder Angriffsbewegungen sein können. Einem Frosch mögen z. B. nacheinander verschiedene Hautstellen durch Säuretropfen gereizt werden. Er wird auf jede Reizung mit einer spezifischen, der gereizten Stelle entsprechenden, Abwehrbewegung antworten. Reizung der Netzhautstellen lösen den ebenso spezifizierten Schnappreflex aus. Das heißt: Auf verschiedenen Wegen in den Organismus eintretende Veränderungen pflanzen sich auch nach außen wieder auf verschiedenen Wegen in die Umgebung des Tieres fort. Sollen nun derartige Reaktionen bei komplizierteren Lebensbedingungen auch spontan, d. h. auf einen leisen Anstoß hin, durch Erinnerung eintreten, und durch Erinnerungen modifizierbar sein, so müssen Spuren, welche der Art des Reizes und den gereizten Organen entsprechen, im Gedächtnis zurückbleiben. Wie die Selbstbeobachtung lehrt, erkennen wir nicht nur die Gleichheit der Reizqualität des Brennens, welche Stelle auch davon betroffen sei, sondern unterscheiden zugleich auch die gereizten Stellen. Wir dürfen also annehmen, daß der qualitativ gleichen Empfindung ein differenter Bestandteil anhaftet, der von der spezifischen Natur des gereizten Elementarorgans, von der gereizten Stelle, oder mit Hering zu reden, von dem Ort der Aufmerksamkeit abhängt. So gewinnt also jedes Sinnesgebiet sein eigenes Gedächtnis mit seiner eigenen räumlichen Ordnung. Die intime gegenseitige biologische Anpassung einer Vielheit von zusammenhängenden Elementarorganen kommt eben in der Raumwahrnehmung besonders deutlich zum Ausdruck.
3.
Wir nehmen bloß eine Art von Bewußtseinselementen an: Empfindungen. Sofern wir räumlich wahrnehmen, beruht dies nach unserer Auffassung auf Empfindungen. Welcher Art diese Empfindungen sind, und welche Organe hierbei tätig werden, müssen wir dahingestellt sein lassen. Wir denken uns ein System von Elementarorganen gemeinsamer embryologischer Abstammung natürlich so angeordnet, daß die benachbarten Elemente die größte ontogenetische Verwandtschaft aufweisen, dass diese aber mit deren Entfernung abnimmt. Die von der Individualität des Organs allein abhängige Organempfindung, welche dem Verwandtschaftsgrade parallel variiert, soll der Raumempfindung entsprechen, von welcher wir die von der Reizqualität abhängige Empfindung als Sinnesempfindung unterscheiden. Organempfindungen und Sinnesempfindungen können nur miteinander auftreten2). Die sich gleichbleibenden Organempfindungen bilden aber den variierenden Sinnesempfindungen gegenüber bald ein festes Register, in welches letztere eingeordnet werden. Wir machen hier über die Elementarorgane nur ähnliche Voraussetzungen, wie wir sie in bezug auf getrennte Individuen gleicher Abstammung, aber verschiedenen Grades der Verwandtschaft, natürlich finden würden.
Die Raumwahrnehmung ist aus dem biologischen Bedürfnis hervorgegangen,
und wird auch aus diesem am besten zu verstehen sein. Ein unendliches System
von Raumempfindungen wäre für den Organismus nicht nur zwecklos,
sondern auch physikalisch und physiologisch unmöglich. Wertlos wären
auch gegen den Leib nicht orientierte Raumempfindungen. Vorteilhaft ist
auch, daß der Sehraum für nähere, biologisch wichtigere
Objekte die Empfindungsindices stärker abstuft, während dafür
in bezug auf fernere, weniger wichtige Objekte mit dem begrenzten Vorrat
der Indices gespart wird. Auch ist dies Verhältnis das einzig physikalisch
mögliche.
Die motorische Organisation des Sehapparates wird
durch folgende Überlegung verständlich. Die größere
Deutlichkeit, feinere Unterscheidung an einer Netzhautstelle des Wirbeltierauges
ist eine ökonomische Einrichtung. Hiermit ist eine dem Wechsel der
Aufmerksamkeit folgende Bewegung der Augen ebenso als vorteilhaft, wie
ein (irreführender) Einfluß der willkürlichen Augenbewegung
auf die von ruhenden Objekten ausgelöste Raumempfindung als nachteilig
erkannt. Die Bildverschiebung auf der ruhenden Netzhaut, die Objektbewegung
bei ruhendem Blick zu erkennen, ist jedoch eine biologische Notwendigkeit.
Unnötig war es nur für den Organismus, die Wahrnehmung der Ruhe
des Objektes auch in dem sehr seltenen Fall zu sichern, daß das Auge
durch einen bewußtseinsfremden Umstand (eine äußere mechanische
Kraft, Muskelzucken) bewegt wird. Die obigen Forderungen sind nur zu vereinigen,
indem bei willkürlicher Augenbewegung die derselben entsprechende
Bildverschiebung auf der Netzhaut in bezug auf den Raumwert durch die willkürliche
Bewegung eben kompensiert wird. Hieraus folgt aber, daß bei festgehaltenem
Auge die ruhenden Objekte durch die bloße Bewegungsintention des
Auges eine Verschiebung im Sehraum erfahren müssen. Durch das betreffende
Experiment (Kap. 7) ist auch die zweite der beiden sich kompensierenden
Komponenten direkt nachgewiesen. Auf diesen organischen Einrichtungen beruht
es, daß wir unter besonderen Umständen mit ruhendem Auge ruhende
Objekte bewegt, mit fließenden Raumwerten sehen, daß wir bewegte
Körper sehen, die doch ihre relative Lage gegen unsern Leib nicht
ändern, die sich weder entfernen noch nähern. Was aber unter
diesen besondern Umständen paradox erscheint, hat unter den gewöhnlichen,
der spontanen Lokomotion, seine hohe biologische Wichtigkeit.
Die Verhältnisse des haptischen Raumes sind,
von gewissen Eigentümlichkeiten abgesehen, ganz ähnliche wie
jene des Sehraums. Der Tastsinn ist kein Fernsinn, womit das perspektivische
Schrumpfen und Schwellen der Tastobjekte entfällt. Sonst aber begegnen
wir hier verwandten Erscheinungen. Der Macula lutea entsprechen die Fingerspitzen.
Wir wissen es ganz wohl zu unterscheiden, ob wir mit den Fingerspitzen
über ein ruhendes Objekt hinstreichen, oder ob sich ein Objekt über
die ruhenden Fingerspitzen hinbewegt. Auch die analogen paradoxen Erscheinungen
bei Drehschwindel treten hier ein. Sie waren schon Purkinje bekannt.
5.
Allgemein biologische Erwägungen drängen zu einer homogenen
Auffassung des optischen und haptiscben Raumes. Ein neugeborenes Hühnchen
bemerkt ein kleines Objekt und blickt und pickt sofort nach demselben.
Durch den Reiz wird ein gewisses Gebiet des Sinnesorgans und des Zentralorgans
erregt, wodurch ganz automatisch sowohl die Blickbewegung der Augenmuskel
als auch die Pickwegung der Kopf- und Halsmuskel ausgelöst wird. Die
Erregung desselben Nervengebietes, das einerseits durch den geometrischen
Ort des physikalischen Reizes bestimmt ist, muß andererseits als
die Grundlage der Raumempfindung angesehen werden. Ähnlich wie jenes
Hühnchen verhält sich auch ein Kind, das einen glänzenden
Gegenstand bemerkt, nach demselben blickt und greift. Außer den optischen
Reizen können auch andere Reize, akustische, thermische, Geruchsreize,
selbstverständlich auch bei Blinden, Greif- oder Abwehrbewegungen
auslösen. Denselben Bewegungen werden auch dieselben Reizstellen und
dieselben Raumempfindungen entsprechen. Die den Blinden erregenden Reize
sind nur im allgemeinen auf einen engeren Umkreis beschränkt und von
weniger scharfer Ortsbestimmung. Daher wird auch das System seiner Raumempfindungen
etwas dürftiger und verschwommener sein, und bei Mangel besonderer
Erziehung auch bleiben. Man denke etwa an einen Blinden, der eine ihn umschwirrende
Wespe abwehrt.
Es müssen, wenn auch naheliegende, doch zum
Teil verschiedene Gebiete des Zentralorgans in Anspruch genommen werden,
je nachdem mich ein Objekt reizt, demselben den Blick zuzuwenden, oder
dasselbe zu ergreifen. Geschieht beides zugleich, so ist das Gebiet natürlich
größer. Aus biologischen Gründen werden wir erwarten, daß
die zwar verwandten, wenn auch nicht identischen, Raumempfindungen verschiedener
Sinnesgebiete durch das Band der eingeleiteten erhaltungsgemäßen
Bewegungen assoziativ verschmelzen und sich gegenseitig unterstützen,
wie es in der Tat der Fall ist.
Hiermit ist das Gebiet der Erscheinungen, welche
uns angehen, nicht erschöpft. Ein Hühnchen kann nach einem Objekt
blicken, nach demselben picken, oder durch den Reiz sogar bestimmt werden,
sich hinzuwenden, hinzulaufen. Ein Kind, das nach einem Ziel kriecht, das
dann eines Tages aufsteht und mit einigen Schritten auf das Ziel zuläuft,
verhält sich ebenso. Wir werden alle diese Fälle, welche allmählich
in einander übergehen, in homogener Weise auffassen müssen. Es
werden wohl immer gewisse Hirnteile sein, welche, in verhältnismäßig
einfacher Weise gereizt, einerseits die Raumempfindungen bestimmen, andererseits
die zuweilen recht komplizierten automatischen Bewegungen auslösen.
Optische, thermische, akustische, chemische galvanische Reize können
zu ausgiebiger Lokomotion und Änderung der Orientierung anregen, und
diese kann auch bei Tieren, die von Haus aus oder durch Rückbildung
blind sind, eingeleitet werden.
6.
Wenn man einen gleichförmig dahin kriechenden Tausendfuß
(Julus) beobachtet, kann man sich des Gedankens nicht erwehren, daß
von irgend einem Organ desselben ein gleichmäßiger Reizstrom
ausgeht, der von den Bewegungsorganen der aufeinander folgenden Leibessegmente
mit rhythmischen automatischen Bewegungen beantwortet wird. Durch den Phasenunterschied
der hinteren Segmente gegen die vorderen entsteht die Longitudinalwelle,
welche mit maschinenmäßiger Regelmäßigkeit durch
die Füßchen des Tieres dahinzuziehen scheint. Analoge Vorgänge
bei höher organisierten Tieren können nicht fehlen, und fehlen
auch nicht. Wir weisen nur auf die Erscheinungen bei Labyrinthreizungen
hin, z. B. auf die bekannten nystagmischen Augenbewegungen, welche bei
aktiver und passiver Drehung ausgelöst werden. Gibt es nun Organe,
wie bei jenem Tausendfuß, durch deren einfache Reizung die komplizierten
Bewegungen einer bestimmten Art von Lokomotion eingeleitet werden, so kann
man diese einfache Reizung, falls sie bewußt ist, als den Willen
zu dieser Lokomotion ansehen, oder als die Aufmerksamkeit auf diese Lokomotion,
welche von selbst letztere nach sich zieht. Zugleich erkennt man es als
ein Bedürfnis des Organismus, den Effekt der Lokomotion in entsprechend
einfacher Weise zu empfinden. In der Tat erscheinen jetzt die Gesichts-
und Tastobjekte mit variierenden, fließenden Raumwerten, anstatt
mit stabilen. Auch bei möglichstem Ausschluß von Gesichts- und
Tastempfindungen bleiben Beschleunigungsempfindungen übrig, welche
Bilder variierender Raumwerte, mit welchen sie oft verknüpft waren,
assoziativ hervorrufen. Zwischen dem Anfangs- und Endglied des Prozesses
liegen die Empfindungen der bewegten Extremitäten, die aber gewöhnlich
nur bei Eintritt eines Hindernisses, welches zu Modifikation der Bewegung
nötigt, zu vollem Bewußtsein kommen.
Während der als Ganzes unbewegte Mensch nur
begrenzte, örtlich individuelle, und in bezug auf seinen Leib orientierte
Raumempfindungen kennt, haben die bei Lokomotion und Änderung der
Orientierung auftretenden Sensationen den Charakter der Gleichmäßigkeit
und Unerschöpflichkeit. Erst auf Grund aller dieser Erfahrungen kann
eine Raumvorstellung sich bilden, die der Euklidischen sich nähert.
Abgesehen davon, daß die erstere nur Übereinstimmungen und Verschiedenheiten,
keine Größen, keine metrischen Bestimmungen kennt, wird die
absolute Gleichförmigkeit der letzteren wegen der Hindernisse, die
sich einer dauernden und ausgiebigen Desorientierung gegen die Vertikale
in den Weg stellen, nicht vollkommen erreicht.
7.
Für den tierischen Organismus sind zunächst die Beziehungen
der Teile des eigenen Leibes zu einander von der höchsten Wichtigkeit.
Fremdes erhält nur dadurch Wert, daß es zu Leibesteilen in Beziehung
steht. Der niedrigsten Organisation genügen die Empfindungen, darunter
die Raumempfindungen, zur Anpassung an die primitiven Lebensbedingungen.
Werden aber diese Lebensbedingungen komplizierter, so drängen sie
zur Entwicklung des Intellekts. Dann gewinnen die Beziehungen jener Funktionalkomplexe
von Elementen (Empfindungen) zu einander, die wir Körper nennen, ein
indirektes Interesse. Der räumlichen Vergleichung der Körper
untereinander entspringt die Geometrie.
Förderlich für das Verständnis der
Entwicklung der Geometrie ist die Bemerkung, daß sich das unmittelbare
Interesse nicht an die räumlichen Eigenschaften allein, sondern an
den ganzen beständigen Komplex von (materiellen) Eigenschaften knüpft,
welcher für die Bedürfnisbefriedigung von Wichtigkeit ist. Formen,
Lagen, Entfernungen, Ausdehnungen der Körper sind aber maßgebend
für den Modus und die Quantität der Bedürfnisbefriedigung.
Die bloße Wahrnehmung (Schätzung, Augenmaß, Erinnerung)
erweist sich als zu sehr beeinflußt von schwer kontrollierbaren physiologischen
Umständen, um darauf zu bauen, wenn es sich um das genaue Urteil über
das räumliche Verhalten der Körper gegen einander handelt. Wir
sind daher genötigt, nach zuverläßigern Merkmalen an den
Körpern selbst zu suchen.
Die tägliche Erfahrung lehrt uns die Beständigkeit
der Körper kennen. Unter gewöhnlichen Umständen erstreckt
sich diese Beständigkeit auch auf einzelne Eigenschaften: Farbe, Gestalt,
Ausdehnung usw. Wir lernen starre Körper kennen, die trotz ihrer Beweglichkeit
im Raume, sobald sie nur zu unserem Leib in ein bestimmtes Verhältnis
gebracht werden, beim Beschauen und Betasten immer wieder dieselben Raumempfindungen
auslösen. Diese Körper bieten räumliche Substanzialität3)
dar, sie bleiben räumlich konstant, identisch. Kann man einen starren
Körper A mit einem andern starren Körper B, oder
mit dessen Teilen, unmittelbar oder mittelbar zur räumlichen Deckung
bringen, so bleibt dies Verhältnis immer und überall bestehen.
Man sagt dann, der Körper B werde durch den Körper A
gemessen. Bei dieser Vergleichung der Körper mit einander kommt es
auf die Art der Raumempfindungen gar nicht mehr an, sondern nur mehr auf
die Beurteilung ihrer Identität unter gleichen Umständen, die
mit großer Genauigkeit und Sicherheit stattfindet. In der Tat verschwinden
die Schwankungen in den Ergebnissen der Messung gegen jene der unmittelbaren
räumlichen Beurteilung neben oder nacheinander dargebotener Körper,
worin eben der Vorzug und die rationelle Begründung dieses Verfahrens
liegt. Statt der individuellen Hände und Füße, die jeder
mit sich herumführt, ohne eine merkliche räumliche Änderung
an denselben wahrzunehmen, wird bald ein allgemein zugänglicher Maßstab
gewählt, welcher die Bedingung der Unveränderlichkeit in höherem
Maße erfüllt, womit eine Ära größerer Genauigkeit
eingeleitet ist.
Alle geometrischen Aufgaben kommen auf Auszählung zu ermittelnder Räume durch gleiche bekannte Körper hinaus. Hohlmaße für Flüssigkeiten oder für eine Menge nahe gleicher dichtliegender Körper dürften wohl die ältesten Maße sein. Das Volumen der Körper (die Menge der materiell erfüllten Orte), welches beim Erblicken und Ergreifen bekannter Körper instinktiv vorgestellt wird, kommt als Quantität der materiellen bedürfnisbefriedigenden Eigenschaften in Betracht, und bildet als solches ein Streitobjekt. Die Messung der Fläche hat ursprünglich auch keinen andern Sinn, als die Ermittlung der Menge gleicher dichtliegender Körper, welche dieselbe bedecken. Die Längenmessung, Auszählung durch gleiche Schnur- oder Kettenteile, bestimmt ein Minimalvolumen, welches in einzigartiger Weise zwischen zwei Punkten (sehr kleinen Körpern) eingeschaltet werden kann. Sieht man hierbei von einer oder zwei Dimensionen der Maßkörper ab, beziehungsweise setzt man dieselben überall konstant, aber beliebig klein, so gelangt man zu den idealisierten Vorstellungen der Geometrie.
9.
Die Raumanschauung wird durch das Experiment mit körperlichen Objekten
bereichert, indem sich an dieselbe metrische Erfahrungen knüpfen,
welche die Raumanschauung für sich allein nicht zu gewinnen vermag.
So lernen wir metrische Eigenschaften längst bekannter Formen, wie
der Geraden, der Ebene, des Kreises u. s. w. kennen. Die Erfahrung hat
auch, nach dem Zeugnis der Geschichte, zuerst zur Kenntnis gewisser geometrischer
Sätze geführt und gezeigt, daß durch gewisse Maße
eines Objektes andere Maße desselben Objektes mitbestimmt sind. Die
wissenschaftliche Geometrie stellte sich die ökonomische Aufgabe,
die Abhängigkeit der Maße von einander zu ermitteln, überflüssige
Messungen zu ersparen, und die einfachsten geometrischen Tatsachen aufzusuchen,
durch welche die andern als deren logische Folgen gegeben sind. Da wir
in Gedanken nicht die Natur, sondern nur unsere eigenen einfachen logischen
Gebilde beherrschen, so mußten zu diesem Zwecke die geometrischen
Grunderfahrungen begrifflich idealisiert werden. Nun steht nichts im Wege,
in der anschaulichen Vorstellung vorschreitend, welche man an jene idealisierten
Erfahrungen gebunden denkt, im Gedankenexperiment, geometrische Sätze
wiederzufinden. Man verhält sich da durchaus analog, wie in jeder
Naturwissenschaft. Die Grunderfahrungen der Geometrie reduzieren sich nur
auf ein solches Minimum, daß man sie nur allzu leicht übersieht.
Man stellt sich Körper über Schatten oder Gespenster von Körpern
hinbewegt vor, und hält hierbei in Gedanken fest, daß hierbei
die Abmessungen, wenn man sie ausführen würde, sich nicht ändern.
Die physischen Körper entsprechen den Folgerungen soweit, als sie
den Voraussetzungen genügen.
Anschauung, physikalische Erfahrung und begriffliche
Idealisierung sind also die drei Momente, welche in der wissenschaftlichen
Geometrie zusammenwirken. Die Über- oder Unterschätzung des einen
oder anderen Momentes hat die weit divergierenden Ansichten verschiedener
Forscher über die Natur der Geometrie veranlaßt. Nur die genaue
Sonderung des Anteiles eines jeden dieser Momente beim Aufbau der Geometrie
kann eine richtige Auffassung begründen. Unsere im Interesse der raschen
Lokomotion erworbene anatomisch-motorisch-symmetrische Organisation bewirkt
z. B., daß die Anschauung uns die beiden Hälften eines räumlichen
symmetrischen Gebildes als äquivalent erscheinen läßt,
was sie in physikalisch-geometrischer Hinsicht keineswegs sind, da sie
nicht zur Kongruenz gebracht werden können. Physikalisch sind sie
so wenig äquivalent, als eine Bewegung der entgegengesetzten, eine
Rotation der gegensinnigen äquivalent ist. Kants darauf bezügliche
Paradoxen rühren von einer ungenügenden Trennung der in Betracht
kommenden Momente her.