IX. Eine biologisch-teleologische Betrachtung über den Raum1).

1.

Es ist schon wiederholt darauf hingewiesen worden, wie sehr sich das System unserer Raumempfindungen, der physiologische Raum, wenn wir so sagen dürfen, von dem geometrischen Raum (wir meinen hier den Euklidischen Raum) unterscheidet. Dies gilt nicht nur für den Sehraum, sondern auch für den haptischen Raum des Blinden im Vergleich zum geometrischen Raum. Der geometrische Raum ist überall und nach allen Richtungen gleich beschaffen, unbegrenzt und unendlich (im Riemannschen Sinne). Der Sehraum ist begrenzt und endlich, ja sogar, wie der Anblick des abgeplatteten "Himmelsgewölbes" lehrt, in verschiedener Richtung von ungleicher Ausdehnung. Durch das Schrumpfen der Körper bei Entfernung, durch das Schwellen bei Annäherung derselben gleicht der Sehraum viel mehr manchen Gebilden der Metageometer als dem Euklidischen Raum. Die Verschiedenheit des "oben" und "unten", des "vorn" und "hinten", genau genommen auch des "rechts" und "links",teilt der haptische Raum mit dem Sehraum. Solche Unterschiede fehlen im geometrischen Raum. Der physiologische Raum verhält sich zum geometrischen für den Menschen und die Tiere von ähnlichem Bau ungefähr wie ein triklines zu einem tesseralen Medium. Dies gilt für Menschen und Tiere, solange diesen nicht die Freiheit der Bewegung und der Orientierung zukommt. Mit der Beweglichkeit nähert sich der physiologische Raum dem Euklidischen, ohne ihn jedoch in der Einfachheit seiner Eigenschaften vollständig zu erreichen. Mit dem geometrischen Raum hat der physiologische gemein die dreifache Mannigfaltigkeit und die Kontinuität. Der stetigen Bewegung des Punktes A im geometrischen Raum entspricht eine ebensolche des Punktes A' im physiologischen Raum. Es genügt auf die Schwierigkeit hinzuweisen, welche die Lehre von den Antipoden zu überwinden hatte, um zu zeigen, daß geometrische Raum Vorstellungen durch physiologische getrübt werden können. Auch unsere abstrakteste Geometrie bedient sich nicht rein metrischer Begriffe, sondern verwendet noch physiologische Vorstellungen, wie Richtung, Sinn, rechts, links usw.

l) Dieser Gegenstand kann hier nicht ausführlich erörtert werden. Ich verweise auf meine Artikel in "The Monist", von welchen der erste im April 1901, der zweite im Juli 1902, der dritte im Oktober 1903 erschienen ist. — Die hier angedeuteten physiologischen Betrachtungen sind zum Teil mit jenen Wlassaks verwandt, welche er am Schluß seines schönen Referates "über die statischen Funktionen des Ohrlabyrinthes" (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie XVII, l, S. 28) mitteilt, nur nehme ich nicht eine, sondern zwei Reaktionen auf die betreffenden Reize an. Vgl. auch die oben zitierten Stellen von Hering und James, Psychology II, S. 134 u. f. — Vgl. auch Erkenntnis und Irrtum, 1905, S. 331–414, 426–440.     Um Physiologisches und Geometrisches reinlich zu sondern, haben wir zu bedenken, daß unsere Raumempfindungen bestimmt sind durch die Abhängigkeit der Elemente, die wir ABC . . . genannt haben, von Elementen unseres Leibes KLM . . ., daß aber die geometrischen Begriffe sich ergeben durch räumliche Vergleichung der Körper, durch die Beziehungen der ABC . . . untereinander.

2.

Betrachten wir die Raumempfindungen nicht als isolierte Erscheinungen, sondern in ihrem biologischen Zusammenhang, in ihrer biologischen Funktion, so werden dieselben, teleologisch wenigstens, verständlicher. Sobald ein Organ oder ein System von Organen gereizt wird, treten reflektorisch, als Reaktion, im allgemeinen zweckmäßige Bewegungen ein, welche je nach der Art des Reizes Abwehr- oder Angriffsbewegungen sein können. Einem Frosch mögen z. B. nacheinander verschiedene Hautstellen durch Säuretropfen gereizt werden. Er wird auf jede Reizung mit einer spezifischen, der gereizten Stelle entsprechenden, Abwehrbewegung antworten. Reizung der Netzhautstellen lösen den ebenso spezifizierten Schnappreflex aus. Das heißt: Auf verschiedenen Wegen in den Organismus eintretende Veränderungen pflanzen sich auch nach außen wieder auf verschiedenen Wegen in die Umgebung des Tieres fort. Sollen nun derartige Reaktionen bei komplizierteren Lebensbedingungen auch spontan, d. h. auf einen leisen Anstoß hin, durch Erinnerung eintreten, und durch Erinnerungen modifizierbar sein, so müssen Spuren, welche der Art des Reizes und den gereizten Organen entsprechen, im Gedächtnis zurückbleiben. Wie die Selbstbeobachtung lehrt, erkennen wir nicht nur die Gleichheit der Reizqualität des Brennens, welche Stelle auch davon betroffen sei, sondern unterscheiden zugleich auch die gereizten Stellen. Wir dürfen also annehmen, daß der qualitativ gleichen Empfindung ein differenter Bestandteil anhaftet, der von der spezifischen Natur des gereizten Elementarorgans, von der gereizten Stelle, oder mit Hering zu reden, von dem Ort der Aufmerksamkeit abhängt. So gewinnt also jedes Sinnesgebiet sein eigenes Gedächtnis mit seiner eigenen räumlichen Ordnung. Die intime gegenseitige biologische Anpassung einer Vielheit von zusammenhängenden Elementarorganen kommt eben in der Raumwahrnehmung besonders deutlich zum Ausdruck.

3.

Wir nehmen bloß eine Art von Bewußtseinselementen an: Empfindungen. Sofern wir räumlich wahrnehmen, beruht dies nach unserer Auffassung auf Empfindungen. Welcher Art diese Empfindungen sind, und welche Organe hierbei tätig werden, müssen wir dahingestellt sein lassen. Wir denken uns ein System von Elementarorganen gemeinsamer embryologischer Abstammung natürlich so angeordnet, daß die benachbarten Elemente die größte ontogenetische Verwandtschaft aufweisen, dass diese aber mit deren Entfernung abnimmt. Die von der Individualität des Organs allein abhängige Organempfindung, welche dem Verwandtschaftsgrade parallel variiert, soll der Raumempfindung entsprechen, von welcher wir die von der Reizqualität abhängige Empfindung als Sinnesempfindung unterscheiden. Organempfindungen und Sinnesempfindungen können nur miteinander auftreten2). Die sich gleichbleibenden Organempfindungen bilden aber den variierenden Sinnesempfindungen gegenüber bald ein festes Register, in welches letztere eingeordnet werden. Wir machen hier über die Elementarorgane nur ähnliche Voraussetzungen, wie wir sie in bezug auf getrennte Individuen gleicher Abstammung, aber verschiedenen Grades der Verwandtschaft, natürlich finden würden.

2) So werden auch die inneren Organe erst dann empfunden und lokalisiert, wenn deren Gleichgewichtszu-stand überhaupt gestört wird.
4.

Die Raumwahrnehmung ist aus dem biologischen Bedürfnis hervorgegangen, und wird auch aus diesem am besten zu verstehen sein. Ein unendliches System von Raumempfindungen wäre für den Organismus nicht nur zwecklos, sondern auch physikalisch und physiologisch unmöglich. Wertlos wären auch gegen den Leib nicht orientierte Raumempfindungen. Vorteilhaft ist auch, daß der Sehraum für nähere, biologisch wichtigere Objekte die Empfindungsindices stärker abstuft, während dafür in bezug auf fernere, weniger wichtige Objekte mit dem begrenzten Vorrat der Indices gespart wird. Auch ist dies Verhältnis das einzig physikalisch mögliche.
    Die motorische Organisation des Sehapparates wird durch folgende Überlegung verständlich. Die größere Deutlichkeit, feinere Unterscheidung an einer Netzhautstelle des Wirbeltierauges ist eine ökonomische Einrichtung. Hiermit ist eine dem Wechsel der Aufmerksamkeit folgende Bewegung der Augen ebenso als vorteilhaft, wie ein (irreführender) Einfluß der willkürlichen Augenbewegung auf die von ruhenden Objekten ausgelöste Raumempfindung als nachteilig erkannt. Die Bildverschiebung auf der ruhenden Netzhaut, die Objektbewegung bei ruhendem Blick zu erkennen, ist jedoch eine biologische Notwendigkeit. Unnötig war es nur für den Organismus, die Wahrnehmung der Ruhe des Objektes auch in dem sehr seltenen Fall zu sichern, daß das Auge durch einen bewußtseinsfremden Umstand (eine äußere mechanische Kraft, Muskelzucken) bewegt wird. Die obigen Forderungen sind nur zu vereinigen, indem bei willkürlicher Augenbewegung die derselben entsprechende Bildverschiebung auf der Netzhaut in bezug auf den Raumwert durch die willkürliche Bewegung eben kompensiert wird. Hieraus folgt aber, daß bei festgehaltenem Auge die ruhenden Objekte durch die bloße Bewegungsintention des Auges eine Verschiebung im Sehraum erfahren müssen. Durch das betreffende Experiment (Kap. 7) ist auch die zweite der beiden sich kompensierenden Komponenten direkt nachgewiesen. Auf diesen organischen Einrichtungen beruht es, daß wir unter besonderen Umständen mit ruhendem Auge ruhende Objekte bewegt, mit fließenden Raumwerten sehen, daß wir bewegte Körper sehen, die doch ihre relative Lage gegen unsern Leib nicht ändern, die sich weder entfernen noch nähern. Was aber unter diesen besondern Umständen paradox erscheint, hat unter den gewöhnlichen, der spontanen Lokomotion, seine hohe biologische Wichtigkeit.
    Die Verhältnisse des haptischen Raumes sind, von gewissen Eigentümlichkeiten abgesehen, ganz ähnliche wie jene des Sehraums. Der Tastsinn ist kein Fernsinn, womit das perspektivische Schrumpfen und Schwellen der Tastobjekte entfällt. Sonst aber begegnen wir hier verwandten Erscheinungen. Der Macula lutea entsprechen die Fingerspitzen. Wir wissen es ganz wohl zu unterscheiden, ob wir mit den Fingerspitzen über ein ruhendes Objekt hinstreichen, oder ob sich ein Objekt über die ruhenden Fingerspitzen hinbewegt. Auch die analogen paradoxen Erscheinungen bei Drehschwindel treten hier ein. Sie waren schon Purkinje bekannt.

5.

Allgemein biologische Erwägungen drängen zu einer homogenen Auffassung des optischen und haptiscben Raumes. Ein neugeborenes Hühnchen bemerkt ein kleines Objekt und blickt und pickt sofort nach demselben. Durch den Reiz wird ein gewisses Gebiet des Sinnesorgans und des Zentralorgans erregt, wodurch ganz automatisch sowohl die Blickbewegung der Augenmuskel als auch die Pickwegung der Kopf- und Halsmuskel ausgelöst wird. Die Erregung desselben Nervengebietes, das einerseits durch den geometrischen Ort des physikalischen Reizes bestimmt ist, muß andererseits als die Grundlage der Raumempfindung angesehen werden. Ähnlich wie jenes Hühnchen verhält sich auch ein Kind, das einen glänzenden Gegenstand bemerkt, nach demselben blickt und greift. Außer den optischen Reizen können auch andere Reize, akustische, thermische, Geruchsreize, selbstverständlich auch bei Blinden, Greif- oder Abwehrbewegungen auslösen. Denselben Bewegungen werden auch dieselben Reizstellen und dieselben Raumempfindungen entsprechen. Die den Blinden erregenden Reize sind nur im allgemeinen auf einen engeren Umkreis beschränkt und von weniger scharfer Ortsbestimmung. Daher wird auch das System seiner Raumempfindungen etwas dürftiger und verschwommener sein, und bei Mangel besonderer Erziehung auch bleiben. Man denke etwa an einen Blinden, der eine ihn umschwirrende Wespe abwehrt.
    Es müssen, wenn auch naheliegende, doch zum Teil verschiedene Gebiete des Zentralorgans in Anspruch genommen werden, je nachdem mich ein Objekt reizt, demselben den Blick zuzuwenden, oder dasselbe zu ergreifen. Geschieht beides zugleich, so ist das Gebiet natürlich größer. Aus biologischen Gründen werden wir erwarten, daß die zwar verwandten, wenn auch nicht identischen, Raumempfindungen verschiedener Sinnesgebiete durch das Band der eingeleiteten erhaltungsgemäßen Bewegungen assoziativ verschmelzen und sich gegenseitig unterstützen, wie es in der Tat der Fall ist.
    Hiermit ist das Gebiet der Erscheinungen, welche uns angehen, nicht erschöpft. Ein Hühnchen kann nach einem Objekt blicken, nach demselben picken, oder durch den Reiz sogar bestimmt werden, sich hinzuwenden, hinzulaufen. Ein Kind, das nach einem Ziel kriecht, das dann eines Tages aufsteht und mit einigen Schritten auf das Ziel zuläuft, verhält sich ebenso. Wir werden alle diese Fälle, welche allmählich in einander übergehen, in homogener Weise auffassen müssen. Es werden wohl immer gewisse Hirnteile sein, welche, in verhältnismäßig einfacher Weise gereizt, einerseits die Raumempfindungen bestimmen, andererseits die zuweilen recht komplizierten automatischen Bewegungen auslösen. Optische, thermische, akustische, chemische galvanische Reize können zu ausgiebiger Lokomotion und Änderung der Orientierung anregen, und diese kann auch bei Tieren, die von Haus aus oder durch Rückbildung blind sind, eingeleitet werden.

6.

Wenn man einen gleichförmig dahin kriechenden Tausendfuß (Julus) beobachtet, kann man sich des Gedankens nicht erwehren, daß von irgend einem Organ desselben ein gleichmäßiger Reizstrom ausgeht, der von den Bewegungsorganen der aufeinander folgenden Leibessegmente mit rhythmischen automatischen Bewegungen beantwortet wird. Durch den Phasenunterschied der hinteren Segmente gegen die vorderen entsteht die Longitudinalwelle, welche mit maschinenmäßiger Regelmäßigkeit durch die Füßchen des Tieres dahinzuziehen scheint. Analoge Vorgänge bei höher organisierten Tieren können nicht fehlen, und fehlen auch nicht. Wir weisen nur auf die Erscheinungen bei Labyrinthreizungen hin, z. B. auf die bekannten nystagmischen Augenbewegungen, welche bei aktiver und passiver Drehung ausgelöst werden. Gibt es nun Organe, wie bei jenem Tausendfuß, durch deren einfache Reizung die komplizierten Bewegungen einer bestimmten Art von Lokomotion eingeleitet werden, so kann man diese einfache Reizung, falls sie bewußt ist, als den Willen zu dieser Lokomotion ansehen, oder als die Aufmerksamkeit auf diese Lokomotion, welche von selbst letztere nach sich zieht. Zugleich erkennt man es als ein Bedürfnis des Organismus, den Effekt der Lokomotion in entsprechend einfacher Weise zu empfinden. In der Tat erscheinen jetzt die Gesichts- und Tastobjekte mit variierenden, fließenden Raumwerten, anstatt mit stabilen. Auch bei möglichstem Ausschluß von Gesichts- und Tastempfindungen bleiben Beschleunigungsempfindungen übrig, welche Bilder variierender Raumwerte, mit welchen sie oft verknüpft waren, assoziativ hervorrufen. Zwischen dem Anfangs- und Endglied des Prozesses liegen die Empfindungen der bewegten Extremitäten, die aber gewöhnlich nur bei Eintritt eines Hindernisses, welches zu Modifikation der Bewegung nötigt, zu vollem Bewußtsein kommen.
    Während der als Ganzes unbewegte Mensch nur begrenzte, örtlich individuelle, und in bezug auf seinen Leib orientierte Raumempfindungen kennt, haben die bei Lokomotion und Änderung der Orientierung auftretenden Sensationen den Charakter der Gleichmäßigkeit und Unerschöpflichkeit. Erst auf Grund aller dieser Erfahrungen kann eine Raumvorstellung sich bilden, die der Euklidischen sich nähert. Abgesehen davon, daß die erstere nur Übereinstimmungen und Verschiedenheiten, keine Größen, keine metrischen Bestimmungen kennt, wird die absolute Gleichförmigkeit der letzteren wegen der Hindernisse, die sich einer dauernden und ausgiebigen Desorientierung gegen die Vertikale in den Weg stellen, nicht vollkommen erreicht.

7.

Für den tierischen Organismus sind zunächst die Beziehungen der Teile des eigenen Leibes zu einander von der höchsten Wichtigkeit. Fremdes erhält nur dadurch Wert, daß es zu Leibesteilen in Beziehung steht. Der niedrigsten Organisation genügen die Empfindungen, darunter die Raumempfindungen, zur Anpassung an die primitiven Lebensbedingungen. Werden aber diese Lebensbedingungen komplizierter, so drängen sie zur Entwicklung des Intellekts. Dann gewinnen die Beziehungen jener Funktionalkomplexe von Elementen (Empfindungen) zu einander, die wir Körper nennen, ein indirektes Interesse. Der räumlichen Vergleichung der Körper untereinander entspringt die Geometrie.
    Förderlich für das Verständnis der Entwicklung der Geometrie ist die Bemerkung, daß sich das unmittelbare Interesse nicht an die räumlichen Eigenschaften allein, sondern an den ganzen beständigen Komplex von (materiellen) Eigenschaften knüpft, welcher für die Bedürfnisbefriedigung von Wichtigkeit ist. Formen, Lagen, Entfernungen, Ausdehnungen der Körper sind aber maßgebend für den Modus und die Quantität der Bedürfnisbefriedigung. Die bloße Wahrnehmung (Schätzung, Augenmaß, Erinnerung) erweist sich als zu sehr beeinflußt von schwer kontrollierbaren physiologischen Umständen, um darauf zu bauen, wenn es sich um das genaue Urteil über das räumliche Verhalten der Körper gegen einander handelt. Wir sind daher genötigt, nach zuverläßigern Merkmalen an den Körpern selbst zu suchen.
    Die tägliche Erfahrung lehrt uns die Beständigkeit der Körper kennen. Unter gewöhnlichen Umständen erstreckt sich diese Beständigkeit auch auf einzelne Eigenschaften: Farbe, Gestalt, Ausdehnung usw. Wir lernen starre Körper kennen, die trotz ihrer Beweglichkeit im Raume, sobald sie nur zu unserem Leib in ein bestimmtes Verhältnis gebracht werden, beim Beschauen und Betasten immer wieder dieselben Raumempfindungen auslösen. Diese Körper bieten räumliche Substanzialität3) dar, sie bleiben räumlich konstant, identisch. Kann man einen starren Körper A mit einem andern starren Körper B, oder mit dessen Teilen, unmittelbar oder mittelbar zur räumlichen Deckung bringen, so bleibt dies Verhältnis immer und überall bestehen. Man sagt dann, der Körper B werde durch den Körper A gemessen. Bei dieser Vergleichung der Körper mit einander kommt es auf die Art der Raumempfindungen gar nicht mehr an, sondern nur mehr auf die Beurteilung ihrer Identität unter gleichen Umständen, die mit großer Genauigkeit und Sicherheit stattfindet. In der Tat verschwinden die Schwankungen in den Ergebnissen der Messung gegen jene der unmittelbaren räumlichen Beurteilung neben oder nacheinander dargebotener Körper, worin eben der Vorzug und die rationelle Begründung dieses Verfahrens liegt. Statt der individuellen Hände und Füße, die jeder mit sich herumführt, ohne eine merkliche räumliche Änderung an denselben wahrzunehmen, wird bald ein allgemein zugänglicher Maßstab gewählt, welcher die Bedingung der Unveränderlichkeit in höherem Maße erfüllt, womit eine Ära größerer Genauigkeit eingeleitet ist.

3) Diese Einsicht war gewiß ein Privatbesitz unzähliger Geometer. In der ganzen Anlage der Geometrie Euklids tritt sie deutlich hervor, noch klarer bei Leibniz, besonders in dessen "geometrischer Charakteristik". Doch hat erst Helmholtz eine öffentliche Diskussion darüber angeregt.
8.

Alle geometrischen Aufgaben kommen auf Auszählung zu ermittelnder Räume durch gleiche bekannte Körper hinaus. Hohlmaße für Flüssigkeiten oder für eine Menge nahe gleicher dichtliegender Körper dürften wohl die ältesten Maße sein. Das Volumen der Körper (die Menge der materiell erfüllten Orte), welches beim Erblicken und Ergreifen bekannter Körper instinktiv vorgestellt wird, kommt als Quantität der materiellen bedürfnisbefriedigenden Eigenschaften in Betracht, und bildet als solches ein Streitobjekt. Die Messung der Fläche hat ursprünglich auch keinen andern Sinn, als die Ermittlung der Menge gleicher dichtliegender Körper, welche dieselbe bedecken. Die Längenmessung, Auszählung durch gleiche Schnur- oder Kettenteile, bestimmt ein Minimalvolumen, welches in einzigartiger Weise zwischen zwei Punkten (sehr kleinen Körpern) eingeschaltet werden kann. Sieht man hierbei von einer oder zwei Dimensionen der Maßkörper ab, beziehungsweise setzt man dieselben überall konstant, aber beliebig klein, so gelangt man zu den idealisierten Vorstellungen der Geometrie.

9.

Die Raumanschauung wird durch das Experiment mit körperlichen Objekten bereichert, indem sich an dieselbe metrische Erfahrungen knüpfen, welche die Raumanschauung für sich allein nicht zu gewinnen vermag. So lernen wir metrische Eigenschaften längst bekannter Formen, wie der Geraden, der Ebene, des Kreises u. s. w. kennen. Die Erfahrung hat auch, nach dem Zeugnis der Geschichte, zuerst zur Kenntnis gewisser geometrischer Sätze geführt und gezeigt, daß durch gewisse Maße eines Objektes andere Maße desselben Objektes mitbestimmt sind. Die wissenschaftliche Geometrie stellte sich die ökonomische Aufgabe, die Abhängigkeit der Maße von einander zu ermitteln, überflüssige Messungen zu ersparen, und die einfachsten geometrischen Tatsachen aufzusuchen, durch welche die andern als deren logische Folgen gegeben sind. Da wir in Gedanken nicht die Natur, sondern nur unsere eigenen einfachen logischen Gebilde beherrschen, so mußten zu diesem Zwecke die geometrischen Grunderfahrungen begrifflich idealisiert werden. Nun steht nichts im Wege, in der anschaulichen Vorstellung vorschreitend, welche man an jene idealisierten Erfahrungen gebunden denkt, im Gedankenexperiment, geometrische Sätze wiederzufinden. Man verhält sich da durchaus analog, wie in jeder Naturwissenschaft. Die Grunderfahrungen der Geometrie reduzieren sich nur auf ein solches Minimum, daß man sie nur allzu leicht übersieht. Man stellt sich Körper über Schatten oder Gespenster von Körpern hinbewegt vor, und hält hierbei in Gedanken fest, daß hierbei die Abmessungen, wenn man sie ausführen würde, sich nicht ändern. Die physischen Körper entsprechen den Folgerungen soweit, als sie den Voraussetzungen genügen.
    Anschauung, physikalische Erfahrung und begriffliche Idealisierung sind also die drei Momente, welche in der wissenschaftlichen Geometrie zusammenwirken. Die Über- oder Unterschätzung des einen oder anderen Momentes hat die weit divergierenden Ansichten verschiedener Forscher über die Natur der Geometrie veranlaßt. Nur die genaue Sonderung des Anteiles eines jeden dieser Momente beim Aufbau der Geometrie kann eine richtige Auffassung begründen. Unsere im Interesse der raschen Lokomotion erworbene anatomisch-motorisch-symmetrische Organisation bewirkt z. B., daß die Anschauung uns die beiden Hälften eines räumlichen symmetrischen Gebildes als äquivalent erscheinen läßt, was sie in physikalisch-geometrischer Hinsicht keineswegs sind, da sie nicht zur Kongruenz gebracht werden können. Physikalisch sind sie so wenig äquivalent, als eine Bewegung der entgegengesetzten, eine Rotation der gegensinnigen äquivalent ist. Kants darauf bezügliche Paradoxen rühren von einer ungenügenden Trennung der in Betracht kommenden Momente her.