VIII. Der Wille.

1.

Im Vorigen wurde vielfach der Ausdruck "Wille" gebraucht und es sollte damit nur ein allgemein bekanntes psychisches Phänomen bezeichnet werden. Ich verstehe unter dem Willen kein besonderes psychisches oder metaphysisches Agens, und nehme keine eigene psychische Kausalität an. Ich bin vielmehr mit der überwiegenden Zahl der Physiologen und modernen Psychologen überzeugt, daß die Willenserscheinungen aus den organisch-physischen Kräften allein, wie wir kurz, aber allgemein verständlich sagen wollen, begreiflich sein müssen. Ich würde dies als selbstverständlich gar nicht besonders betonen, wenn nicht die Bemerkungen mancher Kritiker bewiesen hätten, daß es doch nötig ist.
    Die Bewegungen niederer Tiere, nicht minder die ersten Bewegungen der Neugeborenen, werden unmittelbar durch den Reiz ausgelöst, erfolgen ganz maschinenmäßig, sind Reflexbewegungen. Auch in spätem Lebensstadien der höhern Tiere fehlen solche Reflexbewegungen nicht, und wenn wir Gelegenheit haben, dieselben, etwa die Sehnenreflexe, an uns zum erstenmal zu beobachten, so sind wir von denselben nicht minder überrascht, als von irgend einem unerwarteten Ereignis in unserer Umgebung. Das beschriebene Verhalten des jungen Sperlings beruht auf Reflexbewegungen. Das junge Hühnchen pickt ganz maschinenmäßig nach allem, was es sieht, so wie das Kind nach allem Auffallenden greift, und andererseits die Glieder vor jeder unangenehmen Berührung ohne Mitwirkung des Intellekts zurückzieht. Es bestehen eben organische Einrichtungen, welche die Erhaltung des Organismus bedingen. Folgen wir den Ansichten von Hering über die lebendige Substanz, wonach diese dem Gleichgewicht der antagonistischen Vorgänge in derselben zustrebt, so müssen wir eine solche Erhaltungstendenz (oder tatsächliche Stabilität) schon den Elementen der Organismen zuschreiben.
    Sinnliche Reize können durch Erinnerungsbilder teilweise oder ganz vertreten werden. Alle im Nervensystem zurückbleibenden Gedächtnisspuren wirken mit den Sinnesempfindungen reflexauslösend, fördernd, hemmend, modifizierend zusammen. So entsteht die willkürliche Bewegung, welche wir als eine durch Erinnerungen modifizierte Reflexbewegung, wenigstens im Prinzip, begreifen können, soviel auch an dem Verständnis im Einzelnen noch fehlen mag. Das Kind, welches sich einmal an der glänzenden Flamme gebrannt hat, ergreift dieselbe nicht mehr, weil der Angriffsreflex durch den antagonistischen Fluchtreflex, welchen die Schmerzerinnerung auslöst, gehemmt ist. Das Hühnchen pickt anfangs nach allem, wählt aber bald unter dem Einflusse der teils hemmenden, teils fördernden Geschmackserinnerung. Der allmähliche Übergang der Reflexbewegung in die Willkürhandlung ist an unserm Sperling (Kap. 4) sehr schön zu verfolgen. Für das reflektierende Subjekt liegt das Charakteristische der Willkürhandlung zum Unterschiede von der Reflexbewegung darin, daß es das Bestimmende derselben in den eigenen Vorstellungen erkennt, welche diese Handlung antizipieren (Kap. 5).

2.

Die psychischen Vorgänge, welche die Willkürhandlung, die willkürliche Bewegung begleiten, sind von W. James1) und H. Münsterberg2) vortrefflich analysiert worden. Es scheint eine einfache und natürliche Ansicht, daß die wirkliche Bewegung an die vorgestellte sich ebenso assoziiert, wie eine Vorstellung an die andere. Bezüglich der Empfindungen aber, der Art, des Ausmaßes, der Anstrengung der Bewegung, welche mit Ausführung der Bewegung verbunden sind, stehen sich zwei Ansichten gegenüber. Die eine, von Bain, Wundt, Helmholtz u. a. vertretene, nimmt an, daß die auf die Muskel abgehende Innervation selbst empfunden wird. Anderer Meinung sind James und Münsterberg. Sie halten alle kinästhetischen, die Bewegung begleitenden Empfindungen für peripherisch durch sensible Elemente in der Haut, dem Muskel, den Gelenken erregt.

              1) James, Principles of Psychology, II, 486 ff.
              2) Münsterberg, Die Willenshandlung, 1888.

    Gegen den zentralen Ursprung der kinästhetischen Empfindungen sprechen vor allem die Beobachtungen an Anästhetischen3), welche bei Ausschluß der Sinnesempfindungen über die passive Bewegung ihrer Glieder nichts auszusagen wissen, obgleich sie dieselben unter Leitung des Gesichtssinnes zu bewegen vermögen. Die Anstrengung eines faradisierten Muskels empfinden wir gerade so, wie jene eines willkürlich innervierten4). Die Annahme besonderer Innervationsempfindungen ist zur Erklärung der Erscheinungen unnötig, daher nach dem Prinzip der Sparsamkeit zu vermeiden. Endlich werden solche Innervationsempfindungen auch nicht direkt beobachtet. Eine besondere Schwierigkeit bilden gewisse optische Erscheinungen, auf die wir noch zurückkommen.

              3) James, a. a. O. II, 489.
              4) James, a. a.O. II, 502.

    Das Gesetz der Assoziation verbindet nicht nur ins Bewußtsein fallende Prozesse (Vorstellungen), sondern auch die verschiedenartigsten organischen Vorgänge. Wer in der Verlegenheit leicht errötet, wer leicht an den Händen schwitzt usw., beobachtet diese Prozesse meist sofort an sich, sobald er an dieselben erinnert wird. Ein Blendungsbild, welches sich Newton5) zum Zwecke des Studiums durch Blicken in die Sonne verschafft hatte, verschwand zwar wieder, trat aber trotz mehrtägigen Aufenthalts im Dunkeln durch mehrere Monate hindurch immer wieder mit voller sinnlicher Intensität hervor, sobald er sich desselben erinnerte. Nur durch lange fortgesetzte gewaltsame psychische Ablenkung konnte er die lästige Erscheinung wieder los werden. Eine ähnliche Beobachtung teilt Boyle in seinem Buch über die Farben mit. Zusammengehalten mit diesen Tatsachen, erscheint die Assoziation motorischer Prozesse an Vorstellungen nicht befremdlich.

5) Kings Life of Locke, 1830, Vol. I, p. 404. — Brewster, Memoirs of Newton, 1855, Vol. I, p. 236.
3.

Durch einen apoplektischen Anfall (1898), den ich ohne die geringste Bewußtseinstrübung erlitten habe, bin ich mit einem Teil der hier in Betracht kommenden Tatsachen vertraut geworden. Auf einer Eisenbahnfahrt merkte ich plötzlich, ohne sonstiges Übelbefinden, eine vollständige Lähmung des rechten Armes und Beines, welche intermittierte, so daß ich mich zeitweilig anscheinend wieder ganz normal bewegen konnte. Nach einigen Stunden blieb dieselbe dauernd, und es gesellte sich auch eine Affektion des rechten Fazialis hinzu, welche mir nur leises und etwas erschwertes Sprechen gestattete. Meinen Zustand während der Perioden der vollständigen Lähmung kann ich nur so bezeichnen, daß ich sage: ich fühlte keine Anstrengung bei der Absicht, die Glieder zu bewegen, konnte aber in keiner Weise den Willen zur Bewegung aufbringen. In den Phasen der unvollständigen Lähmung und in der Zeit der Rekonvaleszenz hingegen schienen mir Arm und Bein ungeheuere Lasten, die ich mit der größten Anstrengung erhob. Es scheint mir sehr plausibel, daß dies von der energischen Innervation anderer Muskelgruppen neben jenen der gelähmten Extremitäten herrührte6). Die Sensibilität der gelähmten Glieder mit Ausnahme einer Stelle am Schenkel, war vollständig erhalten, wodurch auch die Kenntnis der Lage und der passiven Bewegung vermittelt wurde. Die Reflexerregbarkeit der gelähmten Glieder fand ich enorm gesteigert, was sich namentlich durch heftiges Zucken beim leichtesten Erschrecken äußerte. Die optischen und haptischen Bewegungsbilder verblieben im Gedächtnis. Sehr oft des Tages beabsichtigte ich, mit der rechten Hand etwas zu verrichten, und mußte mich erst auf die Unmöglichkeit, dies zu tun, besinnen. Lebhafte Träume von Klavierspielen und Schreiben, begleitet von Verwunderung, wie gut das wieder vonstatten gehe, und gefolgt von bitterer Enttäuschung beim Erwachen, sind auf dieselbe Quelle zurückzuführen. Auch motorische Halluzinationen kamen vor. Ich meinte oft ein Öffnen und Schließen der gelähmten Hand zu empfinden, wobei die Exkursionen wie durch einen weiten, aber steifen Handschuh eingeschränkt schienen. Daraufsehen überzeugte mich aber, daß jede Spur von Bewegung fehlte. Über die Beuger habe ich eine sehr geringe, über die Strecker dieser Hand habe ich aber gar keine Herrschaft mehr gewonnen.

              6) James, a. a. O. II, 503.

    Da die Sensibilität der Hand erhalten ist, die willkürliche Bewegung aber fehlt, weiß ich mir die Bewegungstäuschung auch nach der neuen Theorie nicht recht zu erklären. Die Muskel, welche dem Einfluß des Willens entzogen sind, reagieren nun auf die verschiedensten Reize, so daß die Hand sich bald streckt, bald ballt. Qualitativ verschiedene stärkere Geschmacksreize scheinen ungleich auf verschiedene Muskel meiner gelähmten Hand zu wirken. Bitterwasser erregt z. B. unwillkürliche Bewegungsspannung des Daumens und der beiden benachbarten Finger.

4.

Die Auffassung von James und Münsterberg schließt sich diesen Tatsachen, wie ich glaube, ohne Zwang an, und wir dürfen sie daher im wesentlichen für richtig halten. Nicht die Innervation wird empfunden, sondern die Folgen derselben setzen neue peripherische sensible Reize, welche an die Ausführung der Bewegung gebunden sind. Einige Schwierigkeiten hindern mich jedoch zu glauben, daß mit dieser Ansicht, welche ursprünglich auch die meinige7) war, der Sachverhalt vollständig durchschaut ist.

              7) Bevor mir die Erscheinungen bei Lähmung der Augenmuskel bekannt waren (vor 1863).

    Man sollte meinen, daß der zentrale Prozeß, welcher die bloße Vorstellung einer Bewegung bedingt, doch in etwas sich von demjenigen unterscheiden müßte, der auch eine wirkliche Bewegung auslöst. Allerdings kann die Stärke des Prozesses, das Fehlen antagonistischer Vorgänge, die Ladung der Innervationszentren mitbestimmend sein, doch wird man ein Bedürfnis nach weiterer Aufklärung kaum in Abrede stellen. Insbesondere muß der Unterschied im Verhalten der Augenmuskel und der übrigen willkürlich erregbaren Muskel näher untersucht werden. Die meisten Muskel haben variable Arbeiten zu verrichten, deren Betrag ungefähr zu kennen für uns von praktischer Wichtigkeit ist. Die Arbeit der Augenmuskel ist im Gegenteil nur gering und immer genau an die Änderung der Stellung der Augen gebunden, welche letztere allein von optischer Bedeutung ist, während die Arbeit als solche gleichgültig ist. Daher mögen die kinästhetischen Empfindungen bei den Muskeln der Extremitäten eine so viel größere Rolle spielen.

5.

Von wie geringer Bedeutung die von den Augenmuskeln ausgehenden Empfindungen sind, hat Hering8) gezeigt. Gewöhnlich achten wir kaum auf die Bewegungen unserer Augen, und die Lage der Objekte im Raume bleibt von dieser Bewegung unbeeinflußt. Stellt man sich zwei mit den beweglichen Netzhäuten sich deckende Kugelflächen vor, welche im Raume fest bleiben, während sich die Netzhäute drehen, so könnte man bei flüchtiger Überlegung sogar glauben, daß die Raumwerte der gesehenen Objekte nur durch die beiden Abbildungsorte auf den festen Kugeln bestimmt seien. Die in Kap. 7 erwähnten Tatsachen nötigen aber, diese Raumwerte in zwei Komponenten zu zerlegen, deren eine von den Koordinaten des Bildpunktes auf der Netzhaut, deren andere von den Koordinaten des Blickpunktes abhängt, und welche Komponenten bei willkürlichen Änderungen des Blickpunktes sich gegenseitig kompensierende Änderungen erfahren9). Wenn man nun eine Empfindung der Innervation nicht annimmt, den peripherisch erregten kinästhetischen Empfindungen der Augenmuskel aber die Bedeutung abspricht, so bleibt allerdings nur übrig (mit Hering) den Ort der Aufmerksamkeit als durch einen bestimmten psychophysischen Prozeß bedingt anzusehen, der zugleich das physische Moment ist, welches die entsprechende Innervation der Augenmuskel auslöst10). Dieser Prozeß ist aber doch ein zentraler, und die "Aufmerksamkeit" von dem "Willen zu sehen", doch kaum verschieden. Somit könnte ich meinen Ausdruck in Kap. 7 im wesentlichen doch festhalten, denn welcher von der Reihe der vom Zentrum aus erregten und ablaufenden Prozesse in die Empfindung eingeht, kann für manche Frage zunächst dahingestellt bleiben.

8) Hering in Hermanns Handbuch der Physiologie, III, I, 547. Vgl. auch Hillebrand, Verhältnis der Akkommodation und Konvergenz zur Tiefenlokalisation. Zeitschr. f. Psych. u. Phys. d. Sinnesorgane, VII, S. 97 fg.

9) Vgl. S. 94; Hering, a. a. O. 533,534. — Ob die Ansicht, daß die Änderung der Raumwerte sofort mit dem Wechsel der Aufmerksamkeit vollzogen ist, mit der Seite 107 erwähnten Tatsache in Einklang gebracht werden kann, vermag ich jetzt nicht zu entscheiden.

             10) Hering, a. a. O. 547, 548.

6.

Im Kap. 7 versuchten Erklärung könnte man nach dem Obigen die beiden antagonistischen Innervationen durch zwei antagonistische Aufmerksamkeitsprozesse ersetzen, einen durch den sensiblen Reiz und einen zentral erregten. Der von James11) vorgebrachten Erklärung der Erscheinungen bei Augenmuskellähmungen, welche wenigstens in der Form in das bedenkliche Fahrwasser der "unbewußten Schlüsse" einzulenken scheint, könnte ich nicht zustimmen. Es handelt sich in dem fraglichen Fall wohl um Empfindungen und nicht um die Ergebnisse der Überlegung.

              11) James, a. a. O. II, 506.

    Die Augenmuskel dienen nur der räumlichen Orientierung, die Muskel der Glieder vorzugsweise der mechanischen Arbeit. Es liegen also hier zwei extreme Fälle vor, zwischen welchen es auch Mittelfälle geben wird. Sieht man das neugeborene Hühnchen mit voller Sicherheit picken und treffen, so kann man wohl glauben, daß dessen Kopf- und Halsmuskel sich einigermaßen ähnlich wie die Augenmuskel, als räumlicher Orientierungsapparat, verhalten. Die zuckenden Kopfbewegungen vorwärtsschreitender Vögel werden wohl wie die nystagmischen Kopfwendungen bei Drehung im Interesse der Orientierung ausgeführt. Ganz ohne Analogie zu den Augenmuskeln werden auch die Muskel der Extremitäten nicht sein. Wie sollten wir sonst die haptische Raumvorstellung des Blinden verstehen? Es ist doch schwer, eine nativistische Theorie des Sehraumes mit einer empiristischen Theorie des Tastraumes zu vereinigen12).

             12) Vgl. S. 111, Anm. 2 u. S. 114.