V. Physik und Biologie. Kausalität und Teleologie.

1.

Verschiedene Wissensgebiete entwickeln sich oft lange Zeit neben einander, ohne daß eines auf das andere Einfluß nimmt. Gelegentlich können sie aber wieder in engern Kontakt treten, wenn bemerkt wird, daß die Lehren des einen durch jene des andern eine unerwartete Aufklärung erfahren. Dann zeigt sich sogar das natürliche Bestreben, das erstere Gebiet ganz in dem letzteren aufgehen zu lassen1). Der Zeit der Hoffnungsfreudigkeit, der Überschätzung dieser vermeintlich alles aufklärenden Beziehung folgt aber bald eine Periode der Enttäuschung und abermaligen Trennung dieser Gebiete, in welcher wieder jedes seine eigenen Ziele verfolgt, seine besonderen Fragen stellt und seine eigentümlichen Methoden anwendet. Jeder solche zeitweilige Kontakt hinterläßt bleibende Spuren. Außer dem positiven Wissensgewinn, welcher nicht zu unterschätzen ist, wird aber durch die zeitweilige Beziehung verschiedener Gebiete eine Metamorphose der Begriffe eingeleitet, wodurch diese geklärt und über das Gebiet ihrer Entstehung hinaus anwendbar werden.

l) Vgl. W. Pauli, Physikalisch-chemische Methoden in der Medizin. Wien 1900. — Daselbst wird eine verwandte, enger begrenzte, Frage behandelt.
 
2.

Wir befinden uns nun in einer solchen Periode mannigfaltiger Beziehungen, und die eingeleitete Gährung der Begriffe bietet recht merkwürdige Erscheinungen dar. Während manche Physiker die physikalischen Begriffe psychologisch, logisch und mathematisch zu säubern bestrebt sind, finden sich andere Physiker hierdurch beunruhigt und treten, philosophischer als die Philosophen, für die von diesen vielfach schon aufgegebenen alten metaphysischen Begriffe ein. Philosophen, Psychologen, Biologen und Chemiker wenden den Energiebegriff und andere physikalische Begriffe in so freier Weise auf die weitesten Gebiete an, wie dies der Physiker auf eigenem Gebiete kaum wagen würde. Man könnte fast sagen, die gewöhnlichen Rollen der Fächer seien vertauscht. Ob nun diese Bewegung teils positiven, teils negativen Erfolg hat, jedenfalls wird sich aus derselben eine präzisere Bestimmung der Begriffe, eine genauere Abgrenzung ihres Anwendungsbereiches, eine klarere Vorstellung von der Verschiedenheit und der Verwandtschaft der Methoden der genannten Gebiete ergeben.

3.

Uns handelt es sich hier insbesondere um die Beziehungen des physikalischen und biologischen Gebietes im weitesten Sinne. Schon Aristoteles unterschied wirkende Ursachen und Endursachen oder Zwecke. Es wurde nun vorausgesetzt, daß die Erscheinungen des ersteren Gebietes durchaus durch wirkende Ursachen, jene des letzteren aber auch durch Zwecke bestimmt seien. Die Beschleunigung eines Körpers z. B. ist nur durch die wirkenden Ursachen, durch die augenblicklichen Umstände, die Gegenwart anderer gravitierender, magnetischer oder elektrischer Körper bestimmt. Die Wachstumsentwicklung eines Tieres oder einer Pflanze in ihren eigentümlichen bestimmten Formen, oder die Instinkthandlungen eines Tieres vermögen wir gegenwärtig aus den wirkenden Ursachen allein nicht abzuleiten, doch werden uns dieselben aus dem Zweck der Selbsterhaltung unter diesen besonderen Lebensumständen wenigstens teilweise verständlich. Welche theoretische Bedenken gegen die Anwendung des Zweckbegriffes in der Biologie man auch hegen möchte, gewiß wäre es verkehrt, auf einem Gebiete, wo die "kausale" Betrachtung noch so unvollkommene Aufklärungen gibt, die leitenden Fäden, welche die Zweckbetrachtung liefert, ungenutzt liegen zu lassen. Ich weiß nicht, wodurch die Raupe des Nachtpfauenauges gezwungen wird, einen Kokon mit einer nach außen sich öffnenden Borstenklappe zu spinnen, aber ich sehe ein, daß gerade ein solcher Kokon dem Zwecke ihrer Lebenserhaltung entspricht. Ich bin weit davon entfernt, die vielen merkwürdigen Entwicklungserscheinungen und Instinkthandlungen der Tiere, die schon Reimarus und Autenrieth beschrieben und studiert haben, "kausal" zu verstehen, aber ich verstehe sie nach dem Zweck der Lebenserhaltung und unter ihren besonderen Lebensbedingungen. Jene Erscheinungen ziehen dadurch die Aufmerksamkeit auf sich und fügen sich dem Lebensbild des organischen Wesens als unverlierbare Bestandteile ein, welches sich dadurch erst zu einem einheitlichen, zusammenhängenden Ganzen gestaltet. Reimarus und Autenrieth haben auf diesem Wege die Verwandtschaft zwischen den Wachstumserscheinungen und den Instinkterscheinungen schon erkannt. Aber erst in neuester Zeit sind, besonders durch die pflanzenphysiologischen Untersuchungen von Sachs und die tierphysiologischen Arbeiten von Loeb über Geotropismus, Heliotropismus, Stereotropismus usw. die Beziehungen zwischen Wachstum und Instinkt wirklich aufgeklärt worden, und man fängt an, dieselben auch "kausal" zu begreifen. Wie nützlich der Zweckbegriff der biologischen Forschung war, darüber kann dem Zeugnis der Geschichte gegenüber gar kein Streit sein. Man denke nur an Keplers Untersuchung des Auges. Die Existenz der Akkommodation war für ihn nach dem Zweck des Auges, der Tatsache des deutlichen Sehens in verschiedene Entfernungen, unzweifelhaft, die Vorgänge aber, welche die Akkommodation bewirken, wurden erst dritthalb Jahrhunderte später wirklich enthüllt. Harvey gelangte zur Entdeckung der Blutbewegung, indem er sich den problematischen Zweck der Stellung der Herz- und Venenklappen klarmachen wollte.

4.

Wenn ein Gebiet von Tatsachen teleologisch auch vollkommen durchschaut ist, so bleibt das Bedürfnis nach dem "kausalen" Verständnis dennoch bestehen. Der Glaube an eine gänzlich verschiedene Natur der beiden betrachteten Gebiete, vermöge welcher das eine überhaupt nur kausal, das andere überhaupt nur teleologisch zu begreifen wäre, ist nicht gerechtfertigt. Der physikalische Tatsachenkomplex ist einfach, oder läßt sich wenigstens in vielen Fällen willkürlich (durch das Experiment) so einfach gestalten, daß die unmittelbaren Zusammenhänge sichtbar werden. Haben wir uns nun durch genügende Beschäftigung mit diesem Gebiete Begriffe von der Art. dieser Zusammenhänge erworben, die wir für den Tatsachen allgemein entsprechend halten, so müssen wir mit logischer Notwendigkeit erwarten, daß auch jede vorkommende Einzeltatsache diesen Begriffen entspricht. Hierin liegt aber keine Naturnotwendigkeit2). Das ist das "kausale" Verständnis. Der biologische Tatsachenkomplex ist nun so zusammengesetzt, daß die unmittelbaren Zusammenhänge nicht übersehen werden. Deshalb begnügen wir uns, auffallende, nicht unmittelbar zusammenhängende Teile des Tatsachenkomplexes als zusammenhängend hervorzuheben. Der an dem einfacheren Kausalverhältnis geschulte Intellekt findet nun in dem Fehlen der Zwischenglieder Schwierigkeiten, die er entweder nach Möglichkeit durch Aufsuchen dieser Zwischenglieder zu beheben sucht, oder er verfällt auf die Hypothese einer ganz neuen Art von Zusammenhängen. Letzteres ist unnötig, wenn wir unsere Kenntnisse als unvollständig und provisorisch ansehen und bedenken, daß im physikalischen Gebiet ganz analoge Fälle vorkommen. Die antiken Forscher unterschieden auch nicht so genau zwischen beiden Gebieten. Aristoteles läßt z. B. die schweren Körper ihren Ort suchen; Heron glaubt, daß die Natur aus Ersparungsrücksichten das Licht auf den kürzesten Wegen und in der kürzesten Zeit führe, usw. Diese Forscher zogen keine so scharfe Grenze zwischen dem Physikalischen und Biologischen. Durch eine unscheinbare Wendung des Gedankens kann man übrigens jede teleologische Frage so formulieren, daß der Zweckbegriff ganz aus dem Spiel bleibt. Das Auge sieht in verschiedenen Entfernungen deutlich: dessen dioptrischer Apparat muß also veränderlich sein; worin besteht diese Veränderung? Herz- und Venenklappen öffnen sich alle in demselben Sinne; nur einsinnige Blutbewegung ist unter diesen Umständen möglich. Ist sie vorhanden? Die moderne Entwicklungslehre hat sich diese nüchterne Denkweise angeeignet. Selbst in hoch entwickelten Partien der Physik finden wir andererseits Überlegungen, welche mit jenen der biologischen Wissenschaften sehr verwandt sind. Die Untersuchung über die stehenden Schwingungen z. B., welche unter gegebenen Verhältnissen möglich sind, d. h. sich erhalten können, ist seit langer Zeit weit fortgeschritten. Die Art, wie dieselben aber entstehen, ist erst durch neuere Arbeiten klarer geworden3). Die Lichtbewegung auf den kürzesten Wegen erklären wir durch eine Auslese der wirksamen Wege. Die Denkweise des Chemikers steht zuweilen jener des Biologen noch viel näher. Alle möglichen Verbindungen bilden sich nach seiner Auffassung in einer Lösung, die unlöslichen aber, welche neuen Angriffen stärker widerstehen, tragen über die anderen den Sieg davon, und bleiben übrig. Es scheint also zunächst noch keine Nötigung zu bestehen, einen tiefgehenden Unterschied zwischen teleologischer und kausaler Untersuchung anzunehmen. Die erstere ist einfach eine vorläufige.

              2) Prinzipien der Wärmelehre. 2. Aufl., Leipzig 1900, S. 434, 457.

3) Vgl. W. C. L. van Schaik, Über die Tonerregung in Labialpfeifen. Rotterdam 1891. — V. Hensen, Annalen der Physik, 4. Folge, Bd. II, S. 719 (1900).
 
5.

Um dies noch näher zu begründen, gehen wir nochmals auf die Vorstellungen von der Kausalität ein. Die alte, hergebrachte Vorstellung von der Kausalität ist etwas ungelenkig: einer Dosis Ursache folgt eine Dosis Wirkung. Es spricht sich hierin eine Art primitiver, pharmazeutischer Weltanschauung aus, wie in der Lehre von den vier Elementen. Schon durch das Wort Ursache wird dies deutlich. Die Zusammenhänge in der Natur sind selten so einfach, daß man in einem gegebenen Falle eine Ursache und eine Wirkung angeben könnte. Ich habe deshalb schon vor langer Zeit versucht, den Ursachenbegriff durch den mathematischen Funktionsbegriff zu ersetzen: Abhängigkeit der Erscheinungen von einander, genauer: Abhängigkeit der Merkmale der Erscheinungen von einander4). Dieser Begriff ist einer beliebigen Erweiterung und Einschränkung fähig, je nach der Forderung der untersuchten Tatsachen. Die gegen denselben erhobenen Bedenken möchten also wohl zu beseitigen sein5). Betrachten wir als einfaches Beispiel das Verhalten gravitierender Massen. Tritt einer Masse A eine Masse B gegenüber, so folgt hierauf eine Bewegung von A gegen B hin. Dies ist die alte Formel. Genauer betrachtet, zeigt sich aber, daß die Massen A, B, C, D . . . aneinander gegenseitig Beschleunigungen bestimmen, welche also mit der Setzung der Massen zugleich gegeben sind. Die Beschleunigungen geben die Geschwindigkeiten an, welche in einer künftigen Zeit erreicht sein werden. Es sind hierdurch nun auch die Lagen von A, B, C, D . . . für jede Zeit bestimmt. Das physikalische Maß der Zeit gründet sich aber wieder auf Raummessung (Drehung der Erde). Es ergibt sich also schließlich Abhängigkeit der Lagen voneinander. Schon in diesem einfachsten Falle vermag also die alte Formel die Mannigfaltigkeit der Beziehungen, welche in der Natur bestehen, nicht zu fassen. So kommt auch in andern Fällen alles auf gegenseitige Abhängigkeit hinaus6), über deren Form selbstverständlich von vornherein gar nichts ausgesagt werden kann, da hierüber nur die Spezialforschung zu entscheiden hat. Eine gegenseitige Abhängigkeit läßt Veränderung nur zu, wenn irgend eine Gruppe der in Beziehung stehenden Stücke als unabhängig variabel betrachtet werden kann. Deshalb ist es zwar möglich, das Weltbild in wissenschaftlich bestimmter Weise im einzelnen zu ergänzen, wenn ein ausreichender Teil desselben gegeben ist; wo aber die ganze Welt hinaus will, kann wissenschaftlich nicht ermittelt werden.

              4) Die Geschichte und die Wurzel des Satzes der Erhaltung der Arbeit. Prag, Calve, 1872.

5) Solche Einwendungen wurden erhoben von Külpe, Über die Beziehungen zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen" (Zeitschr. f. Hypnotismus, Bd. VII, S. 97), ferner von Cossmann, "Empirische Teleologie". Stuttgart 1899, S. 22. Ich glaube nicht, daß meine Auffassung von jener Cossmanns so sehr abweicht, daß eine Verständigung nicht möglich wäre. Bei längerer Erwägung würde Cossmann wahrscheinlich erkannt haben, daß ich den Funktionsbegriff an die Stelle des alten Kausalitätsbegriffes gesetzt habe, und daß dieser auch für jene Fälle genügt, welche er im Auge hat. Gegen die "empirische Teleologie" habe ich übrigens nichts einzuwenden. Vgl. auch C. Hauptmann, Die Metaphysik in der Physiologie. Dresden 1893.              6) Vgl. Erkenntnis u. Irrtum, 1905, S. 274.

    Wenn ein (etwa durch Zentralkräfte) gut definiertes mechanisches System in seinen Lagen und Geschwindigkeiten gegeben ist, so ist dessen Konfiguration als Funktion der Zeit bestimmt. Man kennt dieselbe zu einer beliebigen Zeit vor und nach der Anfangszeit, kann also voraus und rückwärts prophezeien. Dies gilt in beiden Fällen nur, wenn Störungen von außen nicht eintreten, das System also in gewissem Sinne als ein für sich abgeschlossenes angesehen werden kann. Als ganz von der übrigen Welt isoliert kann man jedoch kein System auffassen, da die Bestimmung der Zeit, demnach auch der Geschwindigkeiten, die Abhängigkeit von einem Parameter voraussetzt, der durch den zurückgelegten Weg eines außerhalb des Systems liegenden Körpers (Planeten) bestimmt wird. Die tatsächliche Abhängigkeit, wenn auch nicht die unmittelbare Abhängigkeit aller Vorgänge von der Lage eines Weltkörpers verbürgt uns den Zusammenhang der ganzen Welt7). Analoge Überlegungen gelten für ein beliebiges physikalisches System, wenn man dasselbe auch nicht als ein mechanisches auffaßt. Alle genau und klar erkannten Abhängigkeiten lassen sich als gegenseitige Simultanbeziehungen ansehen.

             7) Ebenda, S. 426 u. f.

    Betrachten wir im Gegensatz hierzu die populären Begriffe Ursache und Wirkung. Die Sonne, S, Fig. 1 b, bestrahle einen in irgend einem Medium eingetauchten Körper K. Dann ist die Sonne oder die Sonnenwärme die Ursache der Erwärmung des Körpers K, welche regelmäßig auf die Bestrahlung folgt. Andererseits kann der Körper K oder dessen Temperaturänderung nicht als Ursache der Temperaturänderung der Sonne angesehen werden, wie es allerdings der Fall wäre, wenn S und K allein in unmittelbarer Wechselbeziehung stünden. Die beiden Änderungen wären dann simultan und würden sich gegenseitig bestimmen. Es liegt dies also an den Zwischengliedern, den Elementen A, B des Mediums, welche nicht nur an K, sondern auch an andern Elementen Änderungen bestimmen und von letzteren Bestimmungen erfahren. K steht ebenso mit unzähligen Elementen in Wechselbeziehung, und nur ein verschwindender Teil seiner Strahlung gelangt zur Sonne zurück. An analogen Umständen liegt es, daß ein Körper K auf die Netzhaut ein Bild N wirft, eine Gesichtsempfindung E auslöst, und daß von dieser eine Erinnerung zurückbleibt, während durch die Erinnerung nicht das Netzhautbild N oder gar der ganze Körper K restituiert wird. Darin liegt für mich der Vorzug des Funktionsbegriffes vor dem Ursachenbegriff, daß ersterer zur Schärfe drängt, und daß demselben die Unvollständigkeit, Unbestimmtheit und Einseitigkeit des letzteren nicht anhaftet. Der Begriff Ursache ist in der Tat ein primitiver vorläufiger Notbehelf. Ich meine, das muß jeder moderne Naturforscher fühlen, der z. B. die Millschen Ausführungen über die Methoden der experimentellen Forschung in Augenschein nimmt. Er würde beim Versuch der Anwendung nicht über das Vorläufigste hinauskommen. — Man kann zwischen räumlich und zeitlich sehr weit Abliegendem funktionale Beziehungen vermuten, von der Gegenwart aus in die ferne Zukunft oder Vergangenheit zu prophezeien versuchen, und kann darin Glück haben. Der Gedanke wird aber auf desto weniger sicherer Basis ruhen, je größer die Entfernung ist. Deshalb ist es unbeschadet der Größe des Newtonschen Gedankens der Fernwirkung ein so wichtiger Fortschritt der modernen Physik, daß sie, wo sie es kann, die Berücksichtigung der räumlichen und zeitlichen Kontinuität fordert.

Fig. 1b.

6.

Es möchte demnach scheinen, daß man mit dem Funktionsbegriff sowohl im physikalischen als im biologischen Gebiet auskommen und daß derselbe allen Forderungen entsprechen könnte. Der sehr verschiedene Anblick, welchen die beiden Gebiete zeigen, braucht uns nicht abzuschrecken. Ganz nahe verwandte Gruppen von physikalischen Erscheinungen, wie die Reibungselektrizität und die galvanische Elektrizität sehen so verschieden aus, daß man von vornherein kaum eine Zurückführung beider auf dieselben Grundtatsachen erwarten möchte. Die magnetischen und chemischen Erscheinungen, welche im ersteren Gebiete kaum merklich sind und dort schwerlich hätten entdeckt werden können, treten im letzteren gewaltig hervor, während umgekehrt die ponderomotorischen und Spannungserscheinungen nur im ersteren Gebiete sich leicht und ungesucht darbieten. Bekannt ist aber, wie sehr beide Gebiete sich gegenseitig ergänzen und aufklären. Ist man doch daran, die chemische Natur der Reibungselektrizität durch die galvanische Elektrizität zu enthüllen. Ein analoges Verhältnis besteht wohl auch zwischen dem physikalischen und biologischen Gebiet. Beide enthalten wohl dieselben Grundtatsachen; manche Seiten derselben äußern sich aber nur in dem einen, manche nur in dem andern merklich, so daß nicht nur die Physik der Biologie, sondern auch die letztere der erstem hilfreich und aufklärend zur Seite stehen kann. Den unbezweifelten Leistungen der Physik in der Biologie stehen ebenso andere Fälle gegenüber, in welchen erst die Biologie neue physikalische Tatsachen ans Licht gefördert hat (Galvanismus, Pfeffersche Zelle u. s. w.). Die Physik wird in der Biologie viel mehr leisten, wenn sie erst noch durch die letztere gewachsen sein wird.

7.

Wer nur mit physikalischen Betrachtungen vertraut in das Gebiet der Biologie kommt und nun vernimmt, daß einem Tier eigentümliche Organe wachsen, welche es erst in einem spätem Lebensstadium zu zweckmäßiger Verwendung bereit findet, daß es Instinkthandlungen ausführt, die es nicht gelernt haben kann, und die erst dem künftigen Geschlecht zu gute kommen, daß es sich in seiner Färbung der Umgebung anpaßt, um möglichen künftigen Feinden zu entgehen, kann in der Tat leicht zur Annahme ganz besonderer hier wirksamer Faktoren gelangen. Diese rätselhafte Fernwirkung der Zukunft kann schon deshalb nicht mit einer physikalischen Beziehung parallelisiert werden, weil sie nicht ausnahmslos exakt besteht, denn viele Organismen bereiten sich für ein späteres Lebensstadium vor, gehen aber zugrunde, ohne dasselbe zu erreichen. Man wird nicht etwas, das für uns selbst nicht oder nur mangelhaft bestimmt ist, (ungewisse Vergangenheit oder ungewisse Zukunft) als bestimmend für ein Gegenwärtiges, uns vor Augen Liegendes ansehen wollen. Bedenken wir aber, daß die Vorgänge im Leben der Generationen periodisch wiederkehren, so sehen wir, daß die Auffassung eines bestimmten Lebensstadiums als eines Zukünftigen und Fernwirkenden etwas willkürlich und gewagt ist, und dasselbe auch als ein Vergangenes der Vorfahren, als ein Gegebenes, welches Spuren zurückgelassen hat, angesehen werden kann, wobei das ungewohnte Unbegreifliche sich sehr vermindert. Es ist dann nicht eine mögliche Zukunft, die wirken könnte, sondern eine gewiss unzählige Mal dagewesene Vergangenheit, die gewiß gewirkt hat.
    Um Beispiele dafür anzuführen, daß die Physik die Fähigkeit besitzt, an der Lösung scheinbar spezifisch biologischer Fragen wirksam mitzuarbeiten, gedenken wir des merkwürdigen Aufschwungs der experimentellen Embryologie, der Entwicklungsmechanik mit ihren physikalisch-chemischen Methoden8). Sehr bemerkenswert ist auch O. Wieners Nachweis des wahrscheinlichen Zusammenhanges der Farbenphotographie und der Farbenanpassung in der Natur9). Außer der Schichtenbildung eines lichtempfindlichen Mediums durch stehende Lichtwellen, welche die Farbe des beleuchtenden Lichtes als Interferenzfarbe wiedergibt, kann eine der Beleuchtung entsprechende Färbung noch auf eine andere Art entstehen. Es gibt lichtempfindliche Stoffe, die fast jede Färbung annehmen können. Werden dieselben farbiger Beleuchtung ausgesetzt, so behalten sie die Farbe der Beleuchtung, weil sie nun die Strahlen derselben Farbe nicht absorbieren und folglich nicht weiter der Veränderung durch das Licht unterliegen. Nach Poultons10) Beobachtungen ist es wahrscheinlich, daß viele Anpassungsfarben von Schmetterlingspuppen auf diese Art entstehen. In solchen Fällen ist also das wirksame Mittel nicht weit von dem "Zweck" zu suchen, welcher erreicht wird. Sagen wir nüchtern: Der Gleichgewichtszustand ist durch die Umstände bestimmt, unter welchen derselbe erreicht wird.

8) Vgl. W.Roux, Vorträge u. Aufsätze über Entwicklungsmechanik der Organismen, Leipzig, W. Engelmann, 1905.

9) O. Wiener, Farbenphotographie und Farbenanpassung in der Natur. Wiedemanns Annalen, Bd. LV (1895), S. 225.

             10) Poullon, The Colours of Animals. London 1890.

8.

Die Begriffe "wirkende Ursache" und "Zweck" stammen ursprünglich beide von animistischen Vorstellungen ab, wie man an dem Beispiel der antiken Forschung noch ganz deutlich sieht. Gewiß wird der Wilde über seine eigenen spontanen, ihm natürlich und selbstverständlich scheinenden Bewegungen sich nicht den Kopf zerbrechen. Sobald er aber unerwartete auffallende Bewegungen in der Natur wahrnimmt, setzt er dieselben instinktiv mit seinen eigenen in Analogie. Es leuchtet ihm hierdurch der Gedanke des eigenen und fremden Willens auf11). Nach und nach treten abwechselnd die Ähnlichkeiten und Unterschiede der physikalischen und biologischen Vorgänge mit dem Grundschema der Willenshandlung immer deutlicher hervor, und hiermit gestalten sich die Begriffe schärfer. In der bewußten Willenshandlung fallen Ursache und Zweck noch zusammen. Die große Einfachheit, die Berechenbarkeit der physikalischen Vorgänge drängt in bezug auf diese die animistische Auffassung immer mehr zurück. Der Begriff Ursache geht allmählich durch ungelenkige Formen in den Begriff der Abhängigkeit, in den Funktionsbegriff über. Nur für die Erscheinungen des organischen Lebens, welche der animistischen Auffassung weniger widerstreben, wird der Zweckbegriff, die Ansicht des zielbewußten Handelns, noch aufrecht erhalten, und wo letzteres dem organischen Wesen selbst nicht zugemutet werden kann, denkt man sich ein anderes über demselben schwebendes, zielstrebiges Wesen (Natur usw.), durch welches ersteres geleitet wird.

11) Ich setzte meinem etwa 3jährigen Jungen eine Holtzsche Elektrisiermaschine in Gang, und er erfreute sich an dem Funkenspiel derselben. Als ich aber die Maschine losließ und dieselbe weiterrotierte, zog er sich furchtsam zurück und hielt sie augenscheinlich für belebt. "Sie läuft allein"! rief er betroffen und ängstlich. Vielleicht verhalten sich Hunde, die jedem bewegten Wagen bellend nachlaufen, ähnlich. (Eine andere plausible, dieser Auffassung nicht widersprechende Erklärung bei Zell, Sind die Tiere unvernünftig? Kosmosverlag, S. 38.) Ich erinnere mich, daß ich im Alter von etwa 3 Jahren erschrak, als die elastische Samenkapsel einer Balsamine beim Drücken sich öffnete und meinen Finger umfaßte. Dieselbe erschien mir belebt, als ein Tier.     Der Animismus (Anthropomorphismus) ist an sich kein erkenntnistheoretischer Fehler, es müßte denn jede Analogie ein solcher sein. Der Fehler liegt nur in der Anwendung dieser Ansicht in Fällen, in welchen die Prämissen dafür fehlen oder nicht zureichen. Die Natur, welche den Menschen bildet, hat Analoges von niederer und zweifellos auch höherer Entwicklung reichlich erzeugt.
    Wenn an einem unorganischen oder auch an einem organischen Körper irgend ein Vorgang eintritt, der durch die augenblicklichen Umstände vollkommen bestimmt ist, und welcher ohne weitere Folgen auf sich selbst beschränkt bleibt, so werden wir kaum von Zweck sprechen. So, wenn durch einen Reiz Lichtempfindung oder Muskelzuckung erregt wird. Wenn aber der hungrige Frosch nach der gesehenen Mücke schnappt, dieselbe verschlingt und verdaut, so ist der Gedanke einer Zweckhandlung natürlich. In der Auslösung der organischen Funktionen durcheinander, in deren Zusammenhang, in der Nichtbeschränkung auf das Unmittelbare, in dem Umwege liegt erst die Zweckmäßigkeit. In dem Organischen wird ein weit größerer Ausschnitt des Weltgeschehens, der Einfluß einer größeren räumlichen und zeitlichen Umgebung sichtbar. Daher ist es schwerer zu durchschauen. Das wirkliche Verständnis ergibt sich aber doch immer erst, wenn es gelingt, den Komplex in die unmittelbar zusammenhängenden Glieder aufzulösen. Daher sind die eigenartigen Züge des Organischen als provisorische Leitfäden aufzufassen. In dieser Ansicht werde ich gerade durch die Lektüre neuerer biologischer Schriften (Driesch, Reinke u. a.), wenn auch vielleicht gegen die Tendenz der Verfasser, nur noch bestärkt. Ebenso wie die teleologische ist auch die historische Untersuchung eine vorläufige, welche einer Ergänzung durch die kausale bedarf, was von Loeb in seinen biologischen Arbeiten und von K. Menger in seinen volkswirtschaftlichen Schriften sehr richtig betont worden ist.

9.

Jeder Organismus und die Teile desselben unterliegen den physikalischen Gesetzen. Daher das berechtigte Bestreben, denselben nach und nach physikalisch zu begreifen und die "kausale" Betrachtung allein zur Geltung zu bringen. Versucht man aber dies, so stößt man immer auf ganz eigentümliche Züge des Organischen, für welche sich in den bisher durchschauten physikalischen Erscheinungen (der "leblosen" Natur) keine Analogie darbietet. Ein Organismus ist ein System, das seine Beschaffenheit (chemischen, Wärmezustand u. s. w.) gegen äußere Einflüsse zu erhalten vermag, das einen dynamischen Gleichgewichtszustand von beträchtlicher Stabilität darbietet12). Der Organismus vermag durch Aufwand von Energie aus der Umgebung andere Energie an sich zu ziehen, welche jenen Verlust ersetzt oder überbietet13). Eine Dampfmaschine, die ihre Kohle selbst herbeischafft und sich selbst heizt, ist nur ein schlechtes künstliches Bild des Organismus. Der Organismus besitzt diese Eigenschaften in sehr kleinen Teilen und regeneriert sich aus diesen, d. h. er wächst und pflanzt sich fort. Die Physik wird also aus dem Studium des Organischen an sich noch sehr viel neue Einsicht schöpfen müssen, bevor sie auch das Organische bewältigen kann.14)

             12) Hering, Vorgänge in der lebendigen Substanz. Lotos, Prag 1888.
             13) Hirth, Energetische Epigenesis. München 1898, S. X, XI.
             14) Hering, Zur Theorie der Nerventätigkeit. Leipzig 1899.

    Das beste physikalische Bild für den Lebensprozeß bietet noch ein Brand, oder ein ähnlicher Vorgang, der sich von selbst auf die Umgebung überträgt. Der Brand erhält sich selbst, schafft sich die Verbrennungstemperatur, bringt benachbarte Körper auf diese Temperatur und zieht sie dadurch in den Prozeß, assimiliert und wächst, breitet sich aus, pflanzt sich fort. Ist doch das tierische Leben selbst nur ein Brennen unter komplizierteren Umständen15).

             15) Vgl. Ostwald, ,,Naturphilosophie" und die S. 78 zitierte Schrift von Roux.

10.

Vergleichen wir unsere Willenshandlung mit einer an uns selbst beobachteten, zu unserer eigenen Überraschung eintretenden Reflexbewegung, oder mit der Reflexbewegung eines Tieres. In den beiden letzteren Fällen werden wir die Neigung verspüren, den ganzen Vorgang als durch die augenblicklichen Umstände im Organismus physikalisch bestimmt anzusehen. Was wir Willen nennen, ist nun nichts anderes als die Gesamtheit der teilweise bewußten und mit Voraussicht des Erfolges verbundenen Bedingungen einer Bewegung. Analysieren wir diese Bedingungen, soweit sie ins Bewußtsein fallen, so finden wir nichts als die Erinnerungsspuren früherer Erlebnisse und deren Verbindung (Assoziation). Es scheint, daß die Aufbewahrung solcher Spuren und deren Verbindungen eine Grundfunktion der Elementarorganismen ist, wenngleich wir da nicht mehr von einem Bewußtsein, von einer Einordnung in ein System von Erinnerungen sprechen können.
    Könnte man Gedächtnis und Assoziation im weiteren Heringschen Sinne als Grundeigenschaften der Elementarorganismen ansehen, so würde die Anpassung verständlich16). Was sich begünstigt, trifft öfter zusammen als im Verhältnis der zusammengesetzten Wahrscheinlichkeit und bleibt assoziiert. Gegenwart der Nahrung, Sättigungsgefühl und Schlingbewegung bleiben verbunden. Daß in der Ontogenie gekürzt die Phylogenie wiederholt wird, wäre eine Parallele zu der bekannten Erscheinung, daß Gedanken mit Vorliebe auf den einmal eingeschlagenen Wegen wiederkehren, und unter ähnlichen Verhältnissen auch ähnlich wieder entstehen. In der Tat entwickelt sich jeder Organismus embryonal und auch später unter sehr ähnlichen Verhältnissen. Was nun physikalisch dem Gedächtnis und der Assoziation entspricht, wissen wir nicht. Alle Erklärungsversuche sind sehr gewaltsame. Es scheint da fast keine Analogie zwischen Organischem und Unorganischem zu bestehen. In der Sinnesphysiologie können aber vielleicht die psychologische und physikalische Beobachtung bis zu gegenseitiger Berührung vordringen, und uns so neue Tatsachen zur Kenntnis bringen17). Aus dieser Untersuchung wird wohl kein Dualismus hervorgehen, sondern eine Wissenschaft, welche Organisches und Unorganisches umfaßt und die den beiden Gebieten gemeinsamen Tatsachen darstellt.

              16) Hering, Über das Gedächtnis als allgemeine Funktion der organisierten Materie. Wien 1870.

17) Die erste schüchterne Andeutung dieses Gedankens, noch in Fechnerscher Färbung, habe ich gegeben: Kompendium der Physik für Mediziner, 1863, S. 234.