1.
Der Physiker hat oft Gelegenheit zu sehen, wie sehr die Erkenntnis eines
Gebietes dadurch gehemmt werden kann, daß anstatt der vorurteilslosen
Untersuchung desselben an sich die auf einem andern Gebiet gefaßten
Ansichten auf dasselbe übertragen werden. Weit bedeutender ist die
Störung, welche durch solche Übertragung vorgefaßter Meinungen
aus dem Gebiet der Physik in jenes der Psychologie entsteht. Erläutern
wir dies durch einige Beispiele.
Ein Physiker beobachtet das verkehrte Netzhautbild
an einem ausgeschnittenen Auge und stellt sich die Frage, wie es kommt,
daß ein Punkt, der im Raume unten liegt, sich auf der Netzhaut oben
abbildet. Diese Frage beantwortet er durch dioptrische Untersuchungen.
Wenn nun dieselbe Frage, welche im Gebiete der Physik vollkommen berechtigt
ist, in die Psychologie übertragen wird, erzeugt sie nur Unklarheiten.
Die Frage, warum wir die verkehrten Netzhautbilder aufrecht sehen, hat
als psychologisches Problem keinen Sinn. Die Lichtempfindungen der einzelnen
Netzhautstellen sind von Anbeginn mit Raumempfindungen verknüpft,
und wir nennen die Orte, welche den unten gelegenen Stellen der Netzhaut
entsprechen, "oben". Dem empfindenden Subjekt kann sich eine solche Frage
gar nicht ergeben.
Ebenso verhält es sich mit der bekannten Theorie
der Projektion nach außen. Es ist die Aufgabe des Physikers, den
leuchtenden Objektpunkt zu dem Bildpunkt auf der Netzhaut in der Verlängerung
des durch den Bildpunkt und den Kreuzungspunkt des Auges gezogenen Strahles
zu suchen. Für das empfindende Subjekt existiert ein solches Problem
nicht, da die Lichtempfindungen von Anfang an an bestimmte Raumempfindungen
geknüpft sind. Die ganze Theorie des psychologischen Ursprungs der
Außenwelt durch Projektion der Empfindungen nach außen beruht
nur auf einer mißverständlichen Anwendung physikalischer Gesichtspunkte.
Unsere Gesichts- und Tastempfindungen sind an verschiedene Raumempfindungen
gebunden, d. h. sie sind nebeneinander und außereinander, sie befinden
sich in einem räumlichen Feld, von welchem unser Leib nur einen Teil
erfüllt. Der Tisch, der Baum, das Haus liegt also selbstverständlich
außerhalb meines Leibes. Ein Projektionsproblem liegt also niemals
vor, wird weder bewußt noch unbewußt gelöst.
Ein Physiker (Mariotte) findet, daß
eine bestimmte Stelle der Netzhaut blind ist. Der Physiker ist gewohnt,
jedem Raumpunkt einen Bildpunkt und jedem Bildpunkt eine Empfindung zuzuordnen.
So entsteht die Frage: Was sehen wir an den dem blinden Fleck entsprechenden
Raumstellen? Wie wird die Lücke ausgefüllt? Wenn die unberechtigte
physikalische Fragenform aus der psychologischen Untersuchung ausgeschaltet
wird, finden wir, daß ein Problem hier überhaupt nicht besteht.
Wir sehen nichts an der blinden Stelle, die Lücke im Bild wird überhaupt
nicht ausgefüllt. Die Lücke wird vielmehr gar nicht empfunden,
einfach darum, weil ein Fehlen der Lichtempfindung an einer von Haus aus
blinden Stelle so wenig bemerkt werden kann, als etwa die blinde Haut des
Rückens eine Lücke im Gesichtsfeld bedingen kann.
Ich habe absichtlich einfache und naheliegende Beispiele
gewählt, um zu zeigen, welche unnötige Verwirrung durch die unvorsichtige
Übertragung der in einem Gebiet gültigen Ansicht oder Denkweise
auf ein gänzlich anderes entstehen kann.
In dem Werk eines berühmten deutschen Ethnographen
las ich den folgenden Satz: "dieser Stamm hat sich durch Menschenfresserei
tief entwürdigt". Daneben lag das Buch eines englischen Forschers,
welches sich mit demselben Gegenstande beschäftigt. Der letztere stellt
einfach die Frage auf, warum gewisse Südseeinsulaner Kannibalen sind,
findet im Verlaufe der Untersuchung, daß auch unsere Vorfahren Kannibalen
waren, und gelangt auch zum Verständnis der Anschauungen der Indier
in dieser Frage. Dieses leuchtete auch einmal meinem 5 Jahre alten Knaben
auf, der beim Verspeisen eines Bratens plötzlich erschreckt und betroffen
innehielt und ausrief: "Wir sind für die Tiere Menschenfresser!" "Du
sollst nicht Menschen fressen" ist ein sehr lobenswerter Grundsatz. In
dem Munde des Ethnographen vernichtet er aber den erhabenen milden Glanz
der Unbefangenheit, in dem wir den Forscher so gern erblicken. Noch einen
Schritt weiter, und wir sagen auch: "Der Mensch darf nicht vom Affen abstammen".
"die Erde soll sich nicht drehen", "die Materie soll den Raum nicht kontinuierlich
ausfüllen", "die Energie muß konstant sein" usw. Ich glaube,
daß unser Vorgehen sich nur dem Grade nach und nicht der Art nach
von dem eben bezeichneten unterscheidet, wenn wir physikalische Ansichten
mit dem Anspruch der absoluten Gültigkeit, ohne vorher deren Verwendbarkeit
erprobt zu haben, in das Gebiet der Psychologie übertragen. In solchen
Fällen unterliegen wir dem Dogma, wenn auch nicht dem aufgezwungenen,
wie unsere scholastischen Vorfahren, so doch dem selbstgemachten. Und welches
Forschungsergebnis könnte durch lange Gewohnheit nicht zum Dogma werden?
Dieselbe Gewandtheit, welche wir uns für oft wiederkehrende intellektuelle
Situationen erworben haben, benimmt uns ja die Frische und Unbefangenheit,
deren wir in neuen Situationen so sehr bedürfen.
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich die
nötigen erläuternden Ausführungen über meine Stellung
zum Dualismus des Physischen und Psychischen vorbringen. Derselbe ist meines
Erachtens künstlich und ohne Not herbeigeführt.
2.
Bei Untersuchung rein physikalischer Prozesse verwenden wir gewöhnlich
so abstrakte Begriffe, daß wir in der Regel nur flüchtig oder
gar nicht an die Empfindungen (Elemente) denken, welche diesen Begriffen
zugrunde liegen. Wenn ich z. B. feststelle, daß der elektrische Strom
von der Intensität 1 Ampere in der Minute 101/2
ccm Knallgas von 0° C und 760 mm Quecksilberdruck entwickelt, bin ich
sehr geneigt, den definierten Objekten eine von meinen Sinnesempfindungen
ganz unabhängige Realität zuzuschreiben. Um aber zu dem Definierten
zu gelangen, bin ich genötigt, den Strom, dessen ich mich nur durch
Sinnesempfindungen versichern kann, durch einen kreisförmigen Draht
von bestimmtem Radius zu leiten, so daß derselbe bei gegebener Intensität
des Erdmagnetismus die Magnetnadel um einen bestimmten Winkel aus dem Meridian
ablenkt. Die Bestimmung der magnetischen Intensität, der Knallgasmenge
usw., ist nicht weniger umständlich. Die ganze Bestimmung gründet
sich auf eine fast unabsehbare Reihe von Sinnesempfindungen, insbesondere
wenn noch die Justierung der Apparate in Betracht gezogen wird, welche
der Bestimmung vorausgehen muß. Nun kann es dem Physiker, der nicht
die Psychologie seiner Operationen studiert, leicht begegnen, daß
er, um eine bekannte Redeweise umzukehren, die Bäume vor lauter Wald
nicht bemerkt, daß er die Empfindungen als Grundlage seiner Begriffe
übersieht. Ich halte nun aufrecht, daß ein physikalischer Begriff
nur eine bestimmte Art des Zusammenhanges sinnlicher Elemente bedeutet,
welche in dem vorigen mit A B C., bezeichnet wurden. Diese Elemente — Elemente
in dem Sinne, daß eine weitere Auflösung bisher noch nicht gelungen
ist — sind die einfachsten Bausteine der physikalischen (und auch der psychologischen)
Welt.
Eine physiologische Untersuchung kann einen durchaus
physikalischen Charakter haben. Ich kann den Verlauf eines physikalischen
Prozesses durch einen sensiblen Nerv zum Zentralorgan verfolgen, von da
seine verschiedenen Wege zu den Muskeln aufsuchen, deren Kontraktion neue
physikalische Veränderungen in der Umgebung bedingt. Ich muß
hierbei an keine Empfindung des beobachteten Menschen oder Tieres denken.
Was ich untersuche, ist ein rein physikalisches Objekt. Ohne Zweifel fehlt
hier sehr viel zum Verständnis der Einzelheiten, und die Versicherung,
daß alles auf "Bewegung der Moleküle" beruhe, kann mich über
meine Unwissenheit nicht trösten und nicht täuschen.
Lange vor Entwicklung einer wissenschaftlichen Psychologie
hat jedoch der Mensch bemerkt, daß das Verhalten eines Tieres unter
physikalischen Einflüssen viel besser vorausgesehen, d. h. verstanden
wird, indem ihm Empfindungen, Erinnerungen ähnlich den unsrigen zugeschrieben
werden. Das, was ich beobachte, meine Empfindungen, habe ich in Gedanken
zu ergänzen durch die Empfindungen des Tieres, welche ich nicht im
Gebiete meiner Empfindungen antreffe. Dieser Gegensatz erscheint dem Forscher,
welcher einen Nervenprozeß mit Hilfe farbloser abstrakter Begriffe
verfolgt, und der z. B. genötigt ist, diesem Prozeß in Gedanken
die Empfindung Grün hinzuzufügen, sehr schroff. Diese letztere
erscheint in der Tat als etwas gänzlich Neues und Fremdartiges, und
wir stellen uns die Frage, wie dieses wunderbare Ding aus chemischen Prozessen,
elektrischen Strömen u. dgl. hervorgehen kann.
3.
Die psychologische Analyse belehrt uns darüber, daß diese
Verwunderung nicht gerechtfertigt ist, indem der Physiker immer mit Empfindungen
operiert. Dieselbe Analyse zeigt auch, daß die Ergänzung von
Komplexen von Empfindungen in Gedanken nach der Analogie durch augenblicklich
nicht beobachtete Elemente, oder solche, welche überhaupt nicht beobachtet
werden können, vom Physiker tagtäglich geübt wird. Dies
geschieht z. B., wenn er sich den Mond als greifbare, schwere, träge
Masse vorstellt. Die gänzliche Fremdartigkeit der oben bezeichneten
Situation ist also eine Illusion.
Die Illusion verschwindet auch durch eine andere
Betrachtung, welche sich auf die eigene sinnliche Sphäre beschränkt.
Vor mir liegt das Blatt einer Pflanze. Das Grün (A) des Blattes ist
verbunden mit einer gewissen optischen Raumempfindung (B), einer gewissen
Tastempfindung (C) und mit der Sichtbarkeit der Sonne oder der Lampe (D).
Wenn das Gelb (E) der Natriumflamme an die Stelle der Sonne tritt, so übergeht
das Grün des Blattes in Braun (F). Wenn das Chlorophyll durch Alkohol
entfernt wird, eine Operation, die ebenfalls durch sinnliche Elemente darstellbar
ist, verwandelt sich das Grün (A) in Weiß (G). Alle diese Beobachtungen
sind physikalische. Doch das Grün (A) ist auch mit einem Prozeß
meiner Netzhaut verknüpft. Nichts hindert mich prinzipiell, diesen
Prozeß in meinem Auge in derselben Weise zu untersuchen, wie in den
oben erwähnten Fällen, und denselben in Elemente X Y Z . . .
aufzulösen. Stehen der Untersuchung am eigenen Auge Schwierigkeiten
im Wege, so kann sie am fremden Auge ausgeführt und die Lücke
nach der Analogie ausgefüllt werden, genau so, wie bei andern physikalischen
Untersuchungen. Nun ist A in seiner Abhängigkeit von B C D E ... ein
physikalisches Element, in seiner Abhängigkeit von X Y Z ... ist es
eine Empfindung, und kann auch als psychisches Element aufgefaßt
werden. Das Grün (A) an sich wird aber in seiner Natur nicht geändert,
ob wir unsere Aufmerksamkeit auf die eine oder auf die andere Form der
Abhängigkeit richten. Ich sehe daher keinen Gegensatz von Psychischem
und Physischem, sondern einfache Identität in bezug auf diese Elemente.
In der sinnlichen Sphäre meines Bewußtseins ist jedes Objekt
zugleich physisch und psychisch. (Vgl. S. 14.)
4.
Die Dunkelheit, die man in dieser intellektuellen Situation gefunden
hat, entspringt meines Erachtens nur einer physikalischen Voreingenommenheit,
welche in das psychologische Gebiet übertragen wurde. Der Physiker
sagt: Ich finde überall nur Körper und Bewegungen von Körpern,
keine Empfindungen; Empfindungen müssen also etwas von den physikalischen
Objekten, mit welchen ich verkehre, Grundverschiedenes sein. Der Psychologe
akzeptiert den zweiten Teil der Behauptung. Ihm sind, das ist richtig,
zunächst die Empfindungen gegeben; denselben entspricht aber ein mysteriöses
physikalisches Etwas, welches nach der vorgefaßten Meinung von Empfindungen
gänzlich verschieden sein muß. Was ist aber in Wirklichkeit
das Mysteriöse? Ist es die Physis oder ist es die Psyche? oder sind
es vielleicht gar beide? Fast scheint es so, da bald die eine, bald die
andere, in undurchdringliches Dunkel gehüllt, unerreichbar scheint.
Oder werden wir hier vom bösen Geist im Kreis herum geführt?
Ich glaube das letztere. Für mich sind die
Elemente ABC . . . unmittelbar und unzweifelhaft gegeben, und für
mich können dieselben nachträglich nicht durch Betrachtungen
verflüchtigt werden, welche sich in letzter Linie doch immer auf deren
Existenz gründen.
Die Spezialuntersuchung der sinnlichen physisch-psychischen
Sphäre, welche durch diese allgemeine Orientierung nicht überflüssig
wird, hat die Aufgabe, den eigenartigen Zusammenhang der A B C . . . zu
ermitteln. Dies kann symbolisch so ausgedrückt werden, daß man
der Spezialforschung das Ziel setzt, Gleichungen von der Form F (A, B,
C . .) = 0 zu finden.