I. Antimetaphysische Vorbemerkungen.

1.

Die großen Erfolge, welche die physikalische Forschung in den verflossenen Jahrhunderten nicht nur auf eigenem Gebiet, sondern auch durch Hilfeleistung in dem Bereiche anderer Wissenschaften, errungen hat, bringen es mit sich, daß physikalische Anschauungen und Methoden überall in den Vordergrund treten, und daß an die Anwendung derselben die höchsten Erwartungen geknüpft werden. Dem entsprechend hat auch die Physiologie der Sinne, die von Männern wie Goethe, Schopenhauer u. A., mit größtem Erfolge aber von Johannes Müller eingeschlagene Methode, die Empfindungen an sich zu untersuchen, allmählich verlassend, fast ausschließlich einen physikalischen Charakter angenommen. Diese Wendung muß uns als eine nicht ganz zweckentsprechende erscheinen, wenn wir bedenken, daß die Physik trotz ihrer bedeutenden Entwicklung doch nur ein Teil eines größeren Gesamtwissens ist, und mit ihren für einseitige Zwecke geschaffenen einseitigen intellektuellen Mitteln diesen Stoff nicht zu erschöpfen vermag. Ohne auf die Unterstützung der Physik zu verzichten, kann die Physiologie der Sinne nicht nur ihre eigentümliche Entwicklung fortsetzen, sondern auch der Physik selbst noch kräftige Hilfe leisten. Folgende einfache Betrachtung mag dazu dienen, dies Verhältnis klarzulegen.

2.

Farben, Töne, Wärmen, Drücke, Räume, Zeiten u.s.w. sind in mannigfaltiger Weise miteinander verknüpft, und an dieselben sind Stimmungen, Gefühle und Willen gebunden. Aus diesem Gewebe tritt das relativ Festere und Beständigere hervor, es prägt sich dem Gedächtnisse ein, und drückt sich in der Sprache aus. Als relativ beständiger zeigen sich zunächst räumlich und zeitlich (funktional) verknüpfte Komplexe von Farben, Tönen, Drücken u.s.w., die deshalb besondere Namen erhalten, und als Körper bezeichnet werden. Absolut beständig sind solche Komplexe keineswegs.
    Mein Tisch ist bald heller, bald dunkler beleuchtet, kann wärmer und kälter sein. Er kann einen Tintenfleck erhalten. Ein Fuß kann brechen. Er kann repariert, poliert, Teil für Teil ersetzt werden. Er bleibt für mich doch der Tisch, an dem ich täglich schreibe.
    Mein Freund kann einen anderen Rock anziehen. Sein Gesicht kann ernst und heiter werden. Seine Gesichtsfarbe kann durch Beleuchtung oder Affekte sich ändern. Seine Gestalt kann durch Bewegung oder dauernd alteriert werden. Die Summe des Beständigen bleibt aber den allmählichen Veränderungen gegenüber doch immer so groß, daß diese zurücktreten. Es ist derselbe Freund, mit dem ich täglich meinen Spaziergang mache.
    Mein Rock kann einen Fleck, ein Loch erhalten. Schon der Ausdruck zeigt, daß es auf eine Summe von Beständigem ankommt, welchem das Neue hinzugefügt, von welchem das Fehlende nachträglich in Abzug gebracht wird.
    Die größere Geläufigkeit, das Übergewicht des mir wichtigen Beständigen gegenüber dem Veränderlichen drängt zu der teils instinktiven, teils willkürlichen und bewußten Ökonomie des Vorstellens und der Bezeichnung, welche sich in dem gewöhnlichen Denken und Sprechen äußert. Was auf einmal vorgestellt wird, erhält eine Bezeichnung, einen Namen.
    Als relativ beständig zeigt sich ferner der an einen besonderen Körper (den Leib) gebundene Komplex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen, welcher als Ich bezeichnet wird. Ich kann mit diesem oder jenem Ding beschäftigt, ruhig und heiter oder aufgebracht und verstimmt sein. Doch bleibt (pathologische Fälle abgerechnet) genug Beständiges übrig, um das Ich als dasselbe anzuerkennen. Allerdings ist auch das Ich nur von relativer Beständigkeit. Die scheinbare Beständigkeit des Ich besteht vorzüglich nur in der Kontinuität, in der langsamen Änderung. Die vielen Gedanken und Pläne von gestern, welche heute fortgesetzt werden, an welche die Umgebung im Wachen fortwährend erinnert (daher das Ich im Traume sehr verschwommen, verdoppelt sein, oder ganz fehlen kann), die kleinen Gewohnheiten, die sich unbewußt und unwillkürlich längere Zeit erhalten, machen den Grundstock des Ich aus. Größere Verschiedenheiten im Ich verschiedener Menschen, als im Laufe der Jahre in einem Menschen eintreten, kann es kaum geben. Wenn ich mich heute meiner frühen Jugend erinnere, so müßte ich den Knaben (einzelne wenige Punkte abgerechnet) für einen Andern halten, wenn nicht die Kette der Erinnerungen vorläge. Schon manche Schrift, die ich selbst vor 20 Jahren verfaßt, macht mir einen höchst fremden Eindruck. Die sehr allmähliche Änderung des Leibes trägt wohl auch zur Beständigkeit des Ich bei, aber viel weniger als man glaubt. Diese Dinge werden noch viel weniger analysiert und beachtet als das intellektuelle und das moralische Ich. Man kennt sich persönlich sehr schlecht1). Als ich diese Zeilen schrieb (1886), war mir Ribot's schönes Buch "Les maladies de la personnalité", in welcher dieser die Wichtigkeit der Gemeingefühle für die Konstitution des Ich hervorhebt, noch nicht bekannt. Ich kann seiner Ansicht nur zustimmen2).

1) Als junger Mensch erblickte ich einmal auf der Straße ein mir höchst unangenehmes widerwärtiges Gesicht im Profil. Ich erschrak nicht wenig, als ich erkannte, dass es mein eigenes sei, welches ich an einer Spiegelniederlage vorbeigehend durch zwei gegen einander geneigte Spiegel wahrgenommen hatte. — Ich stieg einmal nach einer anstrengenden nächtlichen Eisenbahnfahrt sehr ermüdet in einen Omnibus, eben als von der anderen Seite auch ein Mann hereinkam. "Was steigt doch da für ein herabgekommener Schulmeister ein", dachte ich. Ich war es selbst, denn mir gegenüber befand sich ein großer Spiegel. Der Klassenhabitus war mir also viel geläufiger, als mein Spezialhabitus.

2) Vgl. Hume, Treatise on human nature, Vol. I, P. IV, S. 6. — Fr. u. P. Gruithuisen, Beiträge zur Physiognosie und Eautognosie, München, 1812, S. 37—58.

    Das Ich ist so wenig absolut beständig als die Körper. Was wir am Tode so sehr fürchten, die Vernichtung der Beständigkeit, das tritt im Leben schon in reichlichem Maße ein. Was uns das Wertvollste ist, bleibt in unzähligen Exemplaren erhalten, oder erhält sich bei hervorragender Besonderheit in der Regel von selbst. Im besten Menschen liegen aber individuelle Züge, um die er und andere nicht zu trauern brauchen. Ja zeitweilig kann der Tod, als Befreiung von der Individualität, sogar ein angenehmer Gedanke sein. Das physiologische Sterben wird durch solche Überlegungen natürlich nicht erleichtert.
    Ist die erste Orientierung durch Bildung der Substanzbegriffe "Körper", "Ich" (Materie, Seele) erfolgt, so drängt der Wille zur genaueren Beachtung der Veränderungen an diesem relativ Beständigen. Das Veränderliche an den Körpern und am Ich ist es eben, was den Willen3) bewegt. Erst jetzt treten die Bestandteile des Komplexes als Eigenschaften desselben hervor. Eine Frucht ist süß, sie kann aber auch bitter sein. Auch andere Früchte können süß sein. Die gesuchte rote Farbe kommt an vielen Körpern vor. Die Nähe mancher Körper ist angenehm, jene anderer unangenehm. So erscheinen nach und nach verschiedene Komplexe aus gemeinsamen Bestandteilen zusammengesetzt. Von den Körpern trennt sich das Sichtbare, Hörbare, Tastbare ab. Das Sichtbare löst sich in Farbe und Gestalt. In der Mannigfaltigkeit der Farben treten wieder einige Bestandteile in geringerer Zahl hervor, die Grundfarben u.s.w. Die Komplexe zerfallen in Elemente4), d. h. in letzte Bestandteile, die wir bisher nicht weiter zerlegen konnten. Die Natur dieser Elemente bleibe dahin gestellt; dieselbe kann durch künftige Untersuchungen weiter aufgeklärt werden. Daß der Naturforscher nicht die direkten Beziehungen dieser Elemente, sondern Relationen von Relationen derselben leichter verfolgt, braucht uns hier nicht zu stören.

              3) Nicht in metaphysischem Sinne zu nehmen.

4) Faßt man diesen Vorgang auch als Abstraktion auf, so verlieren doch hierdurch die Elemente, wie wir sehen werden, nichts von ihrer Bedeutung. Vgl. die späteren Ausführungen über den Begriff im vorletzten Kapitel.
 
3.

Die zweckmäßige Gewohnheit, das Beständige mit einem Namen zu bezeichnen und ohne jedesmalige Analyse der Bestandteile in einen Gedanken zusammenzufassen, kann mit dem Bestreben, die Bestandteile zu sondern, in einen eigentümlichen Widerstreit geraten. Das dunkle Bild des Beständigen, welches sich nicht merklich ändert, wenn ein oder der andere Bestandteil ausfällt, scheint etwas für sich zu sein. Weil man jeden Bestandteil einzeln wegnehmen kann, ohne daß dies Bild aufhört, die Gesamtheit zu repräsentieren und wieder erkannt zu werden, meint man, man könnte alle wegnehmen und es bliebe noch etwas übrig. So entsteht in natürlicher Weise der anfangs imponierende, später aber als ungeheuerlich erkannte philosophische Gedanke eines (von seiner "Erscheinung" verschiedenen unerkennbaren) Dinges an sich5).

5) Vgl. W. Schuppes Polemik gegen Überweg. Abgedr. in Brasch, Welt- und Lebensanschauung Überwegs, Leipzig, 1889. — F. J. Schmidt, Das Ärgernis der Philosophie. Eine Kantstudie. Berlin 1897.     Das Ding, der Körper, die Materie ist nichts außer dem Zusammenhang der Elemente, der Farben, Töne u.s.w., außer den sogenannten Merkmalen. Das vielgestaltige vermeintliche philosophische Problem von dem einen Ding mit seinen vielen Merkmalen entsteht durch das Verkennen des Umstandes, daß übersichtliches Zusammenfassen und sorgfältiges Trennen, obwohl beide temporär berechtigt und zu verschiedenen Zwecken ersprießlich, nicht auf einmal geübt werden können. Der Körper ist einer und unveränderlich, so lange wir nicht nötig haben, auf Einzelheiten zu achten. So ist auch die Erde oder ein Billardballen eine Kugel, sobald wir von allen Abweichungen von der Kugelgestalt absehen wollen, und größere Genauigkeit unnötig ist. Werden wir aber dazu gedrängt, Orographie oder Mikroskopie zu treiben, so hören beide Körper auf, Kugeln zu sein.

4.

Der Mensch hat vorzugsweise die Fähigkeit, sich seinen Standpunkt willkürlich und bewußt zu bestimmen. Er kann jetzt von den imposantesten Einzelheiten absehen, und sofort wieder die geringste Kleinigkeit beachten, jetzt die stationäre Strömung ohne Rücksicht auf den Inhalt (ob Wärme, Elektrizität oder Flüssigkeit) betrachten, und dann die Breite einer Fraunhoferschen Linie im Spektrum schätzen; er kann nach Gutdünken zu den allgemeinsten Abstraktionen sich erheben, oder ins Einzelnste sich vertiefen. Das Tier besitzt diese Fähigkeit in viel geringerem Grade. Es stellt sich nicht auf einen Standpunkt, es wird meist durch die Eindrücke auf denselben gestellt. Der Säugling, welcher den Vater mit dem Hut nicht erkennt, der Hund, der durch den neuen Rock des Herrn irre wird, unterliegen im Widerstreit der Standpunkte. Wer wäre nie in einem ähnlichen Falle unterlegen? Auch der philosophierende Mensch kann gelegentlich unterliegen, wie das angeführte wunderliche Problem lehrt. Besondere Umstände scheinen noch für die Berechtigung des erwähnten Problems zu sprechen. Farben, Töne, Düfte der Körper sind flüchtig. Es bleibt als beharrlicher, nicht leicht verschwindender Kern das Tastbare zurück, welches als Träger der daran gebundenen flüchtigeren Eigenschaften erscheint. Die Gewohnheit hält nun den Gedanken an einen solchen Kern fest, auch wenn sich schon die Erkenntnis Bahn gebrochen hat, daß Sehen, Hören, Riechen und Tasten durchaus verwandt sind. Hierzu kommt noch, daß dem Räumlichen und Zeitlichen infolge der eigentümlichen großen Entwicklung der mechanischen Physik eine Art höherer Realität gegenüber den Farben, Tönen, Düften zugeschrieben wird. Dem entsprechend erscheint das zeitliche und räumliche Band von Farben, Tönen, Düften realer als diese selbst. Die Physiologie der Sinne legt aber klar, daß Räume und Zeiten ebenso gut Empfindungen genannt werden können, als Farben und Töne. Hiervon später.

5.

Auch das Ich, sowie das Verhältnis der Körper zum Ich, gibt Anlaß zum Auftreten analoger Scheinprobleme, deren Kern im folgenden kurz angegeben werden soll. Die zuvor statuierten Elemente wollen wir durch die Buchstaben A B C ... K L M ... a b g... andeuten. Die Komplexe von Farben, Tönen u.s.w., welche man gewöhnlich Körper nennt, bezeichnen wir der Deutlichkeit wegen mit A B C ...; den Komplex, der unser Leib heißt, und der ein durch Besonderheiten ausgezeichneter Teil der ersteren ist, nennen wir K L M ... ; den Komplex von Willen, Erinnerungsbildern u.s.w. stellen wir durch a, b, g, . . . dar. Gewöhnlich wird nun der Komplex a b g... K L M ... als Ich dem Komplex A B C ... als Körperwelt gegenübergestellt; zuweilen wird auch a b g ... als Ich, K L M ... A B C ... als Körperwelt zusammengefaßt. Zunächst erscheint A B C ... als unabhängig vom Ich und diesem selbständig gegenüber stehend. Diese Unabhängigkeit ist nur relativ, und hält vor gesteigerter Aufmerksamkeit nicht stand. In dem Komplex a b g ... kann sich allerdings manches ändern, ohne daß an A B C ... viel bemerklich wird, ebenso umgekehrt. Viele Änderungen in a b g... gehen aber durch Änderungen in K L M ... nach A B C ... über und umgekehrt. (Wenn z. B. lebhafte Vorstellungen in Handlungen ausbrechen, oder die Umgebung in unserm Leib merkliche Änderungen veranlaßt.) Hierbei scheint K L M ... mit a b g... und auch mit A B C ... stärker zusammenzuhängen, als letztere untereinander. Diese Verhältnisse finden eben in dem gewöhnlichen Denken und Sprechen ihren Ausdruck.
    Genau genommen, zeigt sich aber, daß A B C ..., immer durch K L M ... mitbestimmt ist. Ein Würfel wird, wenn er nahe, groß, wenn er fern, klein, mit dem rechten Auge anders als mit dem linken, gelegentlich doppelt, bei geschlossenen Augen gar nicht gesehen. Die Eigenschaften eines und desselben Körpers erscheinen also durch den Leib modifiziert, sie erscheinen durch denselben bedingt. Wo ist denn aber derselbe Körper, der so verschieden erscheint? Alles, was man sagen kann, ist, daß verschiedene A B C ... an verschiedene K L M gebunden sind6).

6) Ich habe diesem Gedanken vor langer Zeit (Vierteljahrsschrift für Psychiatrie, Leipzig und Neuwied 1868 Über die Abhängigkeit der Netzhautstellen von einander") in folgender Weise Ausdruck gegeben: "Der Ausdruck "Sinnestäuschung" beweist, daß man sich noch nicht recht zum Bewußtsein gebracht, oder wenigstens noch nicht nötig gefunden hat, dies Bewußtsein auch in der Terminologie zu bekunden, daß die Sinne weder falsch noch richtig zeigen. Das einzig Richtige, was man von den Sinnesorganen sagen kann, ist, daß sie unter verschiedenen Umständen verschiedene Empfindungen und Wahrnehmungen auslösen. Weil diese "Umstände" so äußerst mannigfaltiger Art, teils äußere (in den Objekten gelegene), teils innere (in den Sinnesorganen sitzende), teils innerste (in den Zentralorganen tätige) sind, kann es allerdings den Anschein haben, wenn man nur auf die äußern Umstände Acht hat, daß das Organ ungleich unter gleichen Umständen wirkt. Die ungewöhnlichen Wirkungen pflegt man nun Täuschungen zu nennen."     Man pflegt in der populären Denk- und Redeweise der Wirklichkeit den Schein gegenüber zu stellen. Einen Bleistift, den wir in der Luft vor uns halten, sehen wir gerade; tauchen wir denselben schief ins Wasser, so sehen wir ihn geknickt Man sagt nun in letzterem Falle: Der Bleistift scheint geknickt, ist aber in Wirklichkeit gerade. Was berechtigt uns aber, eine Tatsache der andern gegenüber für Wirklichkeit zu erklären und die andere zum Schein herabzudrücken? In beiden Fällen liegen doch Tatsachen vor, welche eben verschieden bedingte, verschiedenartige Zusammenhänge der Elemente darstellen. Der eingetauchte Bleistift ist eben wegen seiner Umgebung optisch geknickt, haptisch und metrisch aber gerade. Das Bild im Hohl- oder Planspiegel ist nur sichtbar, während unter andern (gewöhnlichen) Umständen dem sichtbaren Bild auch ein tastbarer Körper entspricht. Eine helle Fläche ist neben einer dunklen heller als neben einer noch helleren. Unsere Erwartung wird allerdings getäuscht, wenn wir verschiedene Fälle des Zusammenhanges, auf die Bedingungen nicht genau achtend, mit einander verwechseln, den natürlichen Fehler begehen, in ungewöhnlichen Fällen dennoch das Gewöhnliche zu erwarten. Die Tatsachen sind daran unschuldig. Es hat nur einen praktischen, aber keinen wissenschaftlichen Sinn, in diesen Fällen von Schein zu sprechen. Ebenso hat die oft gestellte Frage, ob die Welt wirklich ist oder ob wir sie bloß träumen, gar keinen wissenschaftlichen Sinn. Auch der wüsteste Traum ist eine Tatsache, so gut als jede andere. Wären unsere Träume regelmäßiger, zusammenhängender, stabiler, so wären sie für uns auch praktisch wichtiger. Beim Erwachen bereichern sich die Beziehungen der Elemente gegenüber jenen des Traumes. Wir erkennen den Traum als solchen. Bei dem umgekehrten Prozeß verengert sich das psychische Gesichtsfeld; es fehlt der Gegensatz meist vollständig. Wo kein Gegensatz besteht, ist die Unterscheidung von Traum und Wachen, Schein und Wirklichkeit ganz müßig und wertlos.
    Der populäre Gedanke eines Gegensatzes von Schein und Wirklichkeit hat auf das wissenschaftlich-philosophische Denken sehr anregend gewirkt. Dies zeigt sich z. B. in Platons geistreicher und poetischer Fiktion der Höhle, in der wir, mit dem Rücken gegen das Feuer gekehrt, bloß die Schatten der Vorgänge beobachten (Staat, VII, I). Indem aber dieser Gedanke nicht ganz zu Ende gedacht wurde, hat derselbe auf unsere Weltanschauung einen ungebührlichen Einfluß genommen. Die Welt, von der wir doch ein Stück sind, kam uns ganz abhanden, und wurde uns in unabsehbare Ferne gerückt. So glaubt auch mancher Jüngling, der zum erstenmal von der astronomischen Strahlenbrechung hört, die ganze Astronomie sei nun in Frage gestellt, während doch durch eine leicht zu ermittelnde und unbedeutende Korrektur alles wieder berichtigt wird.

6.

Wir sehen einen Körper mit einer Spitze S. Wenn wir S berühren, zu unserm Leib in Beziehung bringen, erhalten wir einen Stich. Wir können S sehen, ohne den Stich zu fühlen. Sobald wir aber den Stich fühlen, werden wir S an der Haut finden. Es ist also die sichtbare Spitze ein bleibender Kern, an den sich der Stich nach Umständen wie etwas Zufälliges anschließt. Bei der Häufigkeit analoger Vorkommnisse gewöhnt man sich endlich, alle Eigenschaften der Körper als von bleibenden Kernen ausgehende, durch Vermittlung des Leibes dem Ich beigebrachte "Wirkungen", die wir Empfindungen nennen, anzusehen. Hiermit verlieren aber diese Kerne den ganzen sinnlichen Inhalt, werden zu bloßen Gedankensymbolen. Es ist dann richtig, daß die Welt nur aus unsern Empfindungen besteht. Wir wissen aber dann eben nur von den Empfindungen, und die Annahme jener Kerne, sowie einer Wechselwirkung derselben, aus welcher erst die Empfindungen hervorgehoben würden, erweist sich als gänzlich müßig und überflüssig. Nur dem halben Realismus oder dem halben Kriticismus kann eine solche Ansicht zusagen.

7.

Gewöhnlich wird der Komplex ab g... K L M ... als Ich dem Komplex A B C ... gegenübergestellt. Nur jene Elemente von A B C ..., welche ab g... stärker alterieren, wie einen Stich, einen Schmerz pflegt man bald mit dem Ich zusammenzufassen. Später zeigt sich aber durch Bemerkungen der oben angeführten Art, daß das Recht, A B C ... zum Ich zu zählen, nirgends aufhört. Dem entsprechend kann das Ich so erweitert werden, daß es schließlich die ganze Welt umfaßt7). Das Ich ist nicht scharf abgegrenzt, die Grenze ist ziemlich unbestimmt und willkürlich verschiebbar. Nur indem man dies verkennt, die Grenze unbewußt enger und zugleich auch weiter zieht, entstehen im Widerstreit der Standpunkte die metaphysischen Schwierigkeiten.

7) Wenn ich sage, der Tisch, der Baum u. s. w. sind meine Empfindungen, so liegt darin, der Vorstellung des gemeinen Mannes gegenüber, eine wirkliche Erweiterung des Ich. Aber auch nach der Gefühlsseite ergibt sich eine solche Erweiterung für den Virtuosen, der sein Instrument fast so gut beherrscht als seinen Leib, für den gewandten Redner, in dem alle Augenaxen convergieren, und der die Gedanken seiner Zuhörer leitet, für den kräftigen Politiker, der seine Partei mit Leichtigkeit führt, u. s. w. — In Depressionszuständen hingegen, wie sie nervöse Menschen zeitweilig zu ertragen haben, schrumpft das Ich zusammen. Eine Wand scheint es von der Welt zu trennen.     Sobald wir erkannt haben, daß die vermeintlichen Einheiten "Körper", "Ich" nur Notbehelfe zur vorläufigen Orientierung und für bestimmte praktische Zwecke sind (um die Körper zu ergreifen, um sich vor Schmerz zu wahren u.s.w.), müssen wir sie bei vielen weitergehenden wissenschaftlichen Untersuchungen als unzureichend und unzutreffend aufgeben. Der Gegensatz zwischen Ich und Welt, Empfindung oder Erscheinung und Ding fällt dann weg, und es handelt sich lediglich um den Zusammenhang der Elemente ab g ... A B C ... K L M ..., für welchen eben dieser Gegensatz nur ein teilweise zutreffender unvollständiger Ausdruck war. Dieser Zusammenhang ist nichts weiter als die Verknüpfung jener Elemente mit andern gleichartigen Elementen (Zeit und Raum). Die Wissenschaft hat ihn zunächst einfach anzuerkennen, und sich in demselben zu orientieren, anstatt die Existenz desselben sofort erklären zu wollen.
    Bei oberflächlicher Betrachtung scheint der Komplex ab g ... aus viel flüchtigeren Elementen zu bestehen, als A B C ... und K L M ..., in welchen letzteren die Elemente stabiler und in mehr beständiger Weise (an feste Kerne) geknüpft zu sein scheinen. Obgleich bei weiterem Zusehen die Elemente aller Komplexe sich als gleichartig erweisen, so schleicht sich doch auch nach dieser Erkenntnis die ältere Vorstellung eines Gegensatzes von Körper und Geist leicht wieder ein. Der Spiritualist fühlt wohl gelegentlich die Schwierigkeit, seiner vom Geist geschaffenen Körperwelt die nötige Festigkeit zu geben, dem Materialisten wird es sonderbar zu Mut, wenn er die Körperwelt mit Empfindung beleben soll. Der durch Überlegung erworbene monistische Standpunkt wird durch die älteren stärkeren instinktiven Vorstellungen leicht wieder getrübt.

8.

Die bezeichnete Schwierigkeit wird besonders bei folgender Überlegung empfunden. In dem Komplex A B C ..., den wir als Körperwelt bezeichnet haben, finden wir als Teil nicht nur unsern Leib K L M ..., sondern auch die Leiber anderer Menschen (oder Tiere) K' L' M' ..., K" L" M" ..., an welche wir nach der Analogie dem Komplex ab g ... ähnliche a' b ' g ' ..., a " b" g " ... gebunden denken. So lange wir uns mit K' L' M' ..., beschäftigen, befinden wir uns in einem uns vollständig geläufigen, uns überall sinnlich zugänglichen Gebiet. Sobald wir aber nach den Empfindungen oder Gefühlen fragen, die dem Leib K' L' M' ... zugehören, finden wir dieselben in dem sinnlichen Gebiet nicht mehr vor, wir denken sie hinzu. Nicht nur das Gebiet, auf welches wir uns da begeben, ist uns viel weniger geläufig, sondern auch der Übergang auf dasselbe ist verhältnismäßig unsicher. Wir haben das Gefühl, als sollten wir uns in einen Abgrund stürzen8). Wer immer nur diesen Gedankenweg einschlägt, wird das Gefühl der Unsicherheit, das als Quelle von Scheinproblemen sehr ergiebig ist, nie vollständig los werden.

8) Als ich in einem Alter von 4—5 Jahren zum erstenmal vom Lande nach Wien kam, und von meinem Vater auf die Bastei (die ehemalige Stadtmauer) geführt wurde, war ich sehr überrascht, im Stadtgraben unten Menschen zu sehen, und konnte nicht begreifen, wie dieselben von meinem Standpunkt aus hatten hinunter gelangen können, denn der Gedanke eines anderen möglichen Weges kam mir gar nicht in den Sinn. Dieselbe Überraschung beobachtete ich nochmals an meinem etwa 3-jährigen Knaben bei Gelegenheit eines Spazierganges auf der Prager Stadtmauer. Dieses Gefühls erinnere ich mich jedesmal bei der im Text bezeichneten Überlegung, und gern gestehe ich, daß mein zufälliges Erlebnis bei Befestigung meiner vor langer Zeit gefaßten Ansicht über diesen Punkt wesentlich mitgewirkt hat. Die Gewohnheit, materiell und psychisch stets dieselben Wege zu gehen, wirkt sehr desorientierend. Ein Kind kann beim Durchbrechen einer Wand im längst bewohnten Hause eine wahre Erweiterung der Weltanschauung erfahren, und eine kleine wissenschaftliche Wendung kann sehr aufklärend wirken.     Wir sind aber auf diesen Weg nicht beschränkt. Wir betrachten zunächst den gegenseiti-gen Zusammenhang der Elemente des Komplexes A B C ..., ohne auf K L M ... (unsern Leib) zu achten. Jede physikalische Untersuchung ist von dieser Art. Eine weiße Kugel fällt auf eine Glocke; es klingt. Die Kugel wird gelb vor der Natrium-, rot vor der Lithiumlampe. Hier scheinen die Elemente (A B C ...) nur untereinander zusammenzuhängen, von unserm Leib (K L M ...) unabhängig zu sein. Nehmen wir aber Santonin ein, so wird die Kugel auch gelb. Drücken wir ein Auge seitwärts, so sehen wir zwei Kugeln. Schließen wir die Augen ganz, so ist gar keine Kugel da. Durchschneiden wir den Gehörnerven, so klingt es nicht. Die Elemente A B C ... hängen also nicht nur untereinander, sondern auch mit den Elementen K L M ... zusammen. Insofern, und nur insofern, nennen wir A B C .... Empfindungen und betrachten A B C als zum Ich gehörig. Wo in dem Folgenden neben oder für die Ausdrücke "Element", "Elementenkomplex" die Bezeichnungen "Empfindung", "Empfindungskomplex" gebraucht werden, muß man sich gegenwärtig halten, daß die Elemente nur in der bezeichneten Verbindung und Beziehung, in der bezeichneten funktionalen Abhängigkeit Empfindungen sind. Sie sind in anderer funktionaler Beziehung zugleich physikalische Objekte. Die Nebenbezeichnung der Elemente als Empfindungen wird bloß deshalb verwendet, weil den meisten Menschen die gemeinten Elemente eben als Empfindungen (Farben, Töne, Drücke, Räume, Zeiten u.s.w.) viel geläufiger sind, während nach der verbreiteten Auffassung die Massenteilchen als physikalische Elemente gelten, an welchen die Elemente in dem hier gebrauchten Sinne als "Eigenschaften", "Wirkungen" haften9). 9) Diesen Hauptpunkt habe ich dem Wesen nach gleich, aber in einer ändern Form dargestellt, welche den Naturforschern sympathischer sein möchte, in "Erkenntnis und Irrtum". Leipzig, 1905.     Auf diesem Wege finden wir also nicht die vorher bezeichnete Kluft zwischen Körpern und Empfindungen, zwischen außen und innen, zwischen der materiellen und geistigen Welt10). Alle Elemente A B C ... K L M ... bilden nur eine zusammenhängende Masse, welche, an jedem Element angefaßt, ganz in Bewegung gerät, nur daß eine Störung bei K L M ... viel weiter und tiefer greift, als bei A B C .... Ein Magnet in unserer Umgebung stört die benachbarten Eisenmassen, ein stürzendes Felsstück erschüttert den Boden, das Durchschneiden eines Nerven aber bringt das ganze System von Elementen in Bewegung. Ganz unwillkürlich führt das Verhältnis zu dem Bilde einer zähen Masse, welche an mancher Stelle (dem Ich) fester zusammenhängt. Oft habe ich mich dieses Bildes im Vortrage bedient. 10) Vgl. meine ,,Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen". Leipzig, Engeimann, 1875, S. 54. Daselbst habe ich meine Ansicht zuerst kurz, aber bestimmt ausgesprochen, in den Worten: "Die Erscheinungen lassen sich in Elemente zerlegen, die wir, insofern sie als mit bestimmten Vorgängen des Körpers (Leibes) verbunden und durch dieselben bedingt angesehen werden können, Empfindungen nennen."
9.

So besteht also die große Kluft zwischen physikalischer und psychologischer Forschung nur für die gewohnte stereotype Betrachtungsweise. Eine Farbe ist ein physikalisches Objekt, sobald wir z. B. auf ihre Abhängigkeit von der beleuchtenden Lichtquelle (andern Farben, Wärmen, Räumen u.s.w.) achten. Achten wir aber auf ihre Abhängigkeit von der Netzhaut (den Elementen K L M ...), so ist sie ein psychologisches Objekt, eine Empfindung. Nicht der Stoff, sondern die Untersuchungsrichtung ist in beiden Gebieten verschieden. (Vgl. auch Kapitel II.)
    Sowohl wenn wir von der Beobachtung fremder Menschen- oder Tierleiber auf deren Empfindungen schließen, als auch, wenn wir den Einfluß des eigenen Leibes auf unsere Empfindungen untersuchen, müssen wir eine beobachtete Tatsache durch Analogie ergänzen. Diese Ergänzung fällt aber viel sicherer und leichter aus, wenn sie etwa nur den Nervenvorgang betrifft, den man am eigenen Leib nicht vollständig beobachten kann, wenn sie also in dem geläufigem physikalischen Gebiet spielt, als wenn sich die Ergänzung auf Psychisches, die Empfindungen, Gedanken anderer Menschen erstreckt. Sonst besteht kein wesentlicher Unterschied.

10.

Die dargelegten Gedanken erhalten eine größere Festigkeit und Anschaulichkeit, wenn man dieselben nicht bloß in abstrakter Form ausspricht, sondern direkt die Tatsachen ins Auge faßt, welchen sie entspringen. Liege ich z. B. auf einem Ruhebett, und schließe das rechte Auge, so bietet sich meinem linken Auge das Bild der folgenden Figur 1. In einem durch den Augenbrauenbogen, die Nase und den Schnurrbart gebildeten Rahmen erscheint ein Teil meines Körpers, so weit er sichtbar ist, und dessen Umgebung11). Mein Leib unterscheidet sich von den andern menschlichen Leibern nebst dem Umstande, daß jede lebhaftere Bewegungsvorstellung sofort in dessen Bewegung ausbricht, daß dessen Berührung auffallendere Veränderungen bedingt als jene anderer Körper, dadurch daß er nur teilweise und insbesondere ohne Kopf gesehen wird. Beobachte ich ein Element

1l) Von dem binocularen Gesichtsfeld, das mit seiner eigentümlichen Stereoskopie jedermann geläufig ist, das aber schwieriger zu beschreiben und durch eine ebene Zeichnung nicht darstellbar ist, wollen wir hier absehen.

Fig. 1

    A im Gesichtsfelde, und untersuche dessen Zusammenhang mit einem andern Element B desselben Feldes, so komme ich aus dem Gebiet der Physik in jenes der Physiologie oder Psychologie, wenn B, um den treffenden Ausdruck anzuwenden, den ein Freund beim Anblick dieser Zeichnung gelegentlich gebraucht hat12), die Haut passiert. Ähnliche Überlegungen wie für das Gesichtsfeld lassen sich für das Tastfeld und die Wahrnehmungsfelder der übrigen Sinne anstellen13).

              12) Herr Ingenieur J. Popper in Wien.

13) Zur Entwerfung dieser Zeichnung bin ich etwa um 1870 durch einen drolligen Zufall veranlaßt worden. Ein längst verstorbener Herr v. L., dessen wahrhaft liebenswürdiger Charakter über manche Exzentrizität hinweg half, nötigte mich eine Schrift von Chr. Fr. Krause zu lesen. In derselben findet sich folgende Stelle: ,,Aufgabe: Die Selbstschauung ,Ich' auszuführen.
                                                                                                      Auflösung: Man führt sie ohne weiteres aus."
Um nun dieses philosophische "Viel Lärm um Nichts" scherzhaft zu illustrieren, und zugleich zu zeigen, wie man wirklich die Selbstschauung "Ich" ausführt, entwarf ich die obige Zeichnung. — Der Verkehr mit Herrn v. L. war für mich sehr lehrreich und anregend durch die Naivetät, mit welcher er sonst sorgfältig verschwiegene oder verhüllte philosophische Gedanken aussprach.
11.

Es ist schon auf die Verschiedenheit der Elementengruppen, die wir mit ABC ... und ab g ... bezeichnet haben, hingewiesen worden. In der Tat, wenn wir einen grünen Baum vor uns sehen, oder uns an den grünen Baum erinnern, uns denselben vorstellen, so wissen wir diese beiden Fälle ganz wohl zu unterscheiden. Der vorgestellte Baum hat eine viel weniger bestimmte, viel mehr veränderliche Gestalt, sein Grün ist viel matter und flüchtiger, und er scheint vor allem deutlich in einem andern Feld. Eine Bewegung, die wir ausführen wollen, ist immer nur eine vorgestellte Bewegung und erscheint in einem andern Feld als die ausgeführte Bewegung, welche übrigens immer erfolgt, wenn die Vorstellung lebhaft genug wird. Die Elemente A oder a erscheinen in einem verschiedenen Feld, heißt nun, wenn man auf den Grund geht, nichts anderes, als daß sie mit verschiedenen andern Elementen verknüpft sind. So weit wären also die Grundbestandteile in A B C ... ab gdieselben (Farben, Töne, Räume, Zeiten, Bewegungsempfindungen ...), und nur die Art ihrer Verbindung verschieden.
    Schmerz und Lust pflegt man als von den Sinnesempfindungen verschieden zu betrachten. Allein nicht nur die Tastempfindungen, sondern auch alle übrigen Sinnesempfindungen können allmählich in Schmerz und Lust übergehen. Auch Schmerz und Lust können mit Recht Empfindungen genannt werden. Sie sind nur nicht so gut analysiert und so geläufig als die Sinnesempfindungen, vielleicht auch nicht auf so wenige Organe beschränkt als letztere. Schmerz- und Lustempfindungen, mögen sie noch so schattenhaft auftreten, bilden einen wesentlichen Inhalt aller sogenannten Gefühle. Was uns sonst noch zum Bewußtsein kommt, wenn wir von Gefühlen ergriffen werden, können wir als mehr oder weniger diffuse, nicht scharf lokalisierte Empfindungen bezeichnen. W. James14) und später Th. Ribot15) sind der physiologischen Mechanik der Gefühle nachgegangen und sehen das Wesentliche in zweckmäßigen, den Umständen entsprechenden, durch die Organisation ausgelösten Aktionstendenzen des Leibes. Nur ein Teil derselben tritt ins Bewußtsein. Wir sind traurig, weil wir weinen, und nicht umgekehrt, sagt James. Und Ribot findet mit Recht den niedern Stand unserer Kenntnis der Gefühle dadurch bedingt, daß wir stets nur beachtet haben, was bei diesen physiologischen Prozessen ins Bewußtsein tritt. Allerdings geht er zu weit, wenn er alles Psychische für dem Physischen bloß "surajouté", und nur das Physische für wirksam hält. Für uns besteht ein solcher Unterschied nicht.

            14) W. James, Psychology. New York 1890, II, p. 442.
            15) Th. Ribot, La psychologie des sentiments, 1899.

    Somit setzen sich die Wahrnehmungen sowie die Vorstellungen, der Wille, die Gefühle, kurz die ganze innere und äußere Welt, aus einer geringen Zahl von gleichartigen Elementen in bald flüchtigerer, bald festerer Verbindung zusammen. Man nennt diese Elemente gewöhnlich Empfindungen. Da aber in diesem Namen schon eine einseitige Theorie liegt, so ziehen wir vor, kurzweg von Elementen zu sprechen, wie wir schon getan haben. Alle Forschung geht auf die Ermittlung der Verknüpfung dieser Elemente aus16). Sollte man mit einer Art dieser Elemente durchaus nicht das Auskommen finden, so werden eben mehrere statuiert werden. Es ist aber nicht zweckmäßig, für die hier behandelten Fragen die Annahmen gleich von vornherein zu komplizieren.

16) Vgl. S. 4, 7, 11, 12, 13 der vorliegenden Schrift, endlich auch die allgemeine Anmerkung am Schluß meiner Schrift: Die Geschichte und die Wurzel des Satzes der Erhaltung der Arbeit. Prag, Calve, 1872.
12.

Daß aus diesem Elementenkomplex, welcher im Grunde nur einer ist, die Körper und das Ich sich nicht in bestimmter, für alle Fälle zureichender Weise abgrenzen lassen, wurde schon gesagt. Die Zusammenfassung der mit Schmerz und Lust am nächsten zusammenhängenden Elemente in einer ideellen denkökonomischen Einheit, dem Ich, hat die höchste Bedeutung für den im Dienste des schmerzmeidenden und lustsuchenden Willens stehenden Intellekt. Die Abgrenzung des Ich stellt sich daher instinktiv her, wird geläufig und befestigt sich vielleicht sogar durch Vererbung. Durch ihre hohe praktische Bedeutung nicht nur für das Individuum, sondern für die ganze Art machen sich die Zusammenfassungen "Ich" und "Körper" instinktiv geltend und treten mit elementarer Gewalt auf. In besonderen Fällen aber, in welchen es sich nicht um praktische Zwecke handelt, sondern die Erkenntnis Selbstzweck wird, kann sich diese Abgrenzung als ungenügend, hinderlich, unhaltbar erweisen17).

17) So kann auch das Standesbewußtsein und das Standesvorurteil, das Gefühl für Nationalität, der bornierteste Lokalpatriotismus für gewisse Zwecke sehr wichtig sein. Solche Anschauungen werden aber gewiß nicht den weitblickenden Forscher auszeichnen, wenigstens nicht im Momente des Forschens. Alle diese egoistischen Anschauungen reichen nur für praktische Zwecke aus. Natürlich kann der Gewohnheit auch der Forscher unterliegen. Die kleinen gelehrten Lumpereien, das schlaue Benutzen und das perfide Verschweigen, die Schlingbeschwerden bei dem unvermeidlichen Worte der Anerkennung und die schiefe Beleuchtung der fremden Leistung bei dieser Gelegenheit zeigen hinlänglich, daß auch der Forscher den Kampf ums Dasein kämpft, daß auch die Wege der Wissenschaft noch zum Munde führen, und daß der reine Erkenntnistrieb bei unsern heutigen sozialen Verhältnissen noch ein Ideal ist.     Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen). Man berücksichtige das in bezug auf den Ausdruck "Empfindung" Gesagte. Die Elemente bilden das Ich. Ich empfinde Grün, will sagen, daß das Element Grün in einem gewissen Komplex von anderen Elementen (Empfindungen, Erinnerungen) vorkommt. Wenn ich aufhöre Grün zu empfinden, wenn ich sterbe, so kommen die Elemente nicht mehr in der gewohnten geläufigen Gesellschaft vor. Damit ist alles gesagt. Nur eine ideelle denkökonomische, keine reelle Einheit hat aufgehört zu bestehen. Das Ich ist keine unveränderliche, bestimmte, scharf begrenzte Einheit. Nicht auf die Unveränderlichkeit, nicht auf die bestimmte Unterscheidbarkeit von andern und nicht auf die scharfe Begrenzung kommt es an, denn alle diese Momente variieren schon im individuellen Leben von selbst, und deren Veränderung wird vom Individuum sogar angestrebt. Wichtig ist nur die Kontinuität. Diese Ansicht stimmt mit derjenigen, zu welcher Weismann durch biologische Untersuchungen (Zur Frage der Unsterblichkeit der Einzelligen. Biolog. Centralblatt, IV. Bd, Nr. 21, 22) gelangt. (Vergl. besonders S. 654 und 655, wo von der Teilung des Individuums in zwei gleiche Hälften die Rede ist.) Die Kontinuität ist aber nur ein Mittel, den Inhalt des Ich vorzubereiten und zu sichern. Dieser Inhalt und nicht das Ich ist die Hauptsache. Dieser ist aber nicht auf das Individuum beschränkt. Bis auf geringfügige wertlose persönliche Erinnerungen bleibt er auch nach dem Tode des Individuums in andern erhalten. Die Bewußtseinselemente eines Individuums hängen unter einander stark, mit jenen eines andern Individuums aber schwach und nur gelegentlich merklich zusammen. Daher meint jeder nur von sich zu wissen, indem er sich für eine untrennbare von anderen unabhängige Einheit hält. Bewußtseinsinhalte von allgemeiner Bedeutung durchbrechen aber diese Schranken des Individuums und führen, natürlich wieder an Individuen gebunden, unabhängig von der Person, durch die sie sich entwickelt haben, ein allgemeineres unpersönliches, überpersönliches Leben fort. Zu diesem beizutragen, gehört zu dem größten Glück des Künstlers, Forschers, Erfinders, Sozialreformators u.s.w.
    Das Ich ist unrettbar. Teils diese Einsicht, teils die Furcht vor derselben führen zu den absonderlichsten pessimistischen und optimistischen, religiösen, asketischen und philosophischen Verkehrtheiten. Der einfachen Wahrheit, welche sich aus der psychologischen Analyse ergibt, wird man sich auf die Dauer nicht verschließen können. Man wird dann auf das Ich, welches schon während des individuellen Lebens vielfach variiert, ja im Schlaf und bei Versunkenheit in eine Anschauung, in einen Gedanken, gerade in den glücklichsten Augenblicken, teilweise oder ganz fehlen kann, nicht mehr den hohen Wert legen. Man wird dann auf individuelle Unsterblichkeit18) gern verzichten, und nicht auf das Nebensächliche mehr Wert legen als auf die Hauptsache. Man wird hierdurch zu einer freieren und verklärten Lebensauffassung gelangen, welche Mißachtung des fremden Ich und Überschätzung des eigenen ausschließt. Das ethische Ideal, welches sich auf dieselbe gründet, wird gleich weit entfernt sein von jenem des Asketen, welches für diesen biologisch nicht haltbar ist, und zugleich mit seinem Untergang erlischt, wie auch von jenem des Nietzscheschen frechen "Übermenschen", welches die Mitmenschen nicht dulden können, und hoffentlich nicht dulden werden19). 18) Indem wir unsere persönlichen Erinnerungen über den Tod hinaus zu erhalten wünschen, verhalten wir uns ähnlich wie der kluge Eskimo, der die Unsterblichkeit ohne Seehunde und Walrosse dankend ablehnte.

19) So weit auch der Weg ist von der theoretischen Einsicht zum praktischen Verhalten, so kann letzteres der ersteren auf die Dauer doch nicht widerstehen.

    Genügt uns die Kenntnis des Zusammenhanges der Elemente (Empfindungen) nicht, und fragen wir, "wer hat diesen Zusammenhang der Empfindungen, wer empfindet"?, so unterliegen wir der alten Gewohnheit, jedes Element (jede Empfindung) einem unanalysierten Komplex einzuordnen, wir sinken hiermit unvermerkt auf einen älteren, tieferen und beschränkteren Standpunkt zurück. Man weist wohl oft darauf hin, daß ein psychisches Erlebnis, welches nicht das Erlebnis eines bestimmten Subjekts wäre, nicht denkbar sei, und meint damit die wesentliche Rolle der Einheit des Bewußtseins dargetan zu haben. Allein, wie verschiedene Grade kann das Ichbewußtsein haben, und aus wie mannigfaltigen zufälligen Erinnerungen setzt es sich zusammen! Man könnte ebensogut sagen, daß ein physikalischer Vorgang, der nicht in irgend einer Umgebung, eigentlich immer in der Welt, stattfindet, nicht denkbar sei. Von dieser Umgebung, welche ja in bezug auf ihren Einfluß sehr verschieden sein und in Spezialfällen auf ein Minimum zusammenschrumpfen kann, zu abstrahieren, muß uns hier wie dort erlaubt sein, um die Untersuchung zu beginnen. Man denke an Empfindungen der niedern Tiere, welchen man kaum ein ausgeprägtes Subjekt wird zuschreiben wollen. Aus den Empfindungen baut sich das Subjekt auf, welches dann allerdings wieder auf die Empfindungen reagiert.
    Die Gewohnheit, den unanalysierten Ich-Komplex als eine unteilbare Einheit zu behandeln, hat sich wissenschaftlich oft in eigentümlicher Weise geäußert. Aus dem Leibe wird zunächst das Nervensystem als Sitz der Empfindungen ausgesondert. In dem Nervensystem wählt man wieder das Hirn als hierzu geeignet aus, und sucht schließlich, die vermeintliche psychische Einheit zu retten, im Hirn noch nach einem Punkt als Sitz der Seele. So rohe Anschauungen werden aber schwerlich geeignet sein, auch nur in den gröbsten Zügen die Wege der künftigen Untersuchung über den Zusammenhang des Physischen und Psychischen vorzuzeichnen. Daß die verschiedenen Organe, Teile des Nervensystems, mit einander physisch zusammenhängen und durch einander leicht erregt werden können, ist wahrscheinlich die Grundlage der "psychischen Einheit". Ich hörte einmal ernstlich die Frage diskutieren: "Wieso die Wahrnehmung eines großen Baumes in dem kleinen Kopfe des Menschen Platz fände"? Besteht auch dieses Problem nicht, so wird doch durch die Frage die Verkehrtheit fühlbar, die man leicht begeht, indem man sich die Empfindungen räumlich in das Hirn hineindenkt. Ist von den Empfindungen eines andern Menschen die Rede, so haben diese in meinem optischen oder überhaupt physischen Raum natürlich gar nichts zu schaffen; sie sind hinzugedacht, und ich denke sie kausal (oder besser funktional), aber nicht räumlich an das beobachtete oder vorgestellte Menschenhirn gebunden. Spreche ich von meinen Empfindungen, so sind dieselben nicht räumlich in meinem Kopfe, sondern mein "Kopf" teilt vielmehr mit ihnen dasselbe räumliche Feld, wie es oben dargestellt wurde. (Vergl. das über Fig. 1, Abschn. 9, 10 Gesagte)20). 20) Schon bei Johannes Müller finden wir einen Ansatz zu ähnlichen Betrachtungen. Sein metaphysischer Hang hindert ihn aber, dieselben konsequent zu Ende zu führen. Bei Hering aber stoßen wir (Hermanns Handbuch der Physiologie, Bd. III, S. 345) auf folgende charakteristische Stelle: "Der Stoff, aus welchem die Sehdinge bestehen, sind die Gesichtsempfindungen. Die untergehende Sonne ist als Sehding eine flache, kreisförmige Scheibe, welche aus Gelbrot, also aus einer Gesichtsempfindung besteht. Wir können sie daher geradezu als eine kreisförmige, gelbrote Empfindung bezeichnen. Diese Empfindung haben wir da, wo uns eben die Sonne erscheint." Ich kann wohl nach den Erfahrungen, die ich gelegentlich im Gespräch gemacht habe, sagen, daß die meisten Menschen, welche diesen Fragen nicht durch ernstes Nachdenken näher getreten sind, diese Auffassung einfach haarsträubend finden werden. Natürlich ist das gewöhnliche Konfundieren des sinnlichen und begrifflichen Raumes an diesem Entsetzen wesentlich schuld. Geht man, wie ich es getan habe, von der ökonomischen Aufgabe der Wissenschaft aus, nach welcher nur der Zusammenhang des Beobachtbaren, Gegebenen für uns von Bedeutung ist, alles Hypothetische, Metaphysische, Müßige aber zu eliminieren ist, so gelangt man zu dieser Ansicht. Den gleichen Standpunkt wird man wohl Avenarius zuschreiben müssen, denn wir lesen bei ihm (Der menschliche Weltbegriff, S. 76) die Sätze: "Das Gehirn ist kein Wohnort, Sitz, Erzeuger, kein Instrument oder Organ, kein Träger, oder Substrat u.s.w. des Denkens." "Das Denken ist kein Bewohner oder Befehlshaber, keine andere Hälfte oder Seite u.s.w., aber auch kein Produkt, ja nicht einmal eine physiologische Funktion oder nur ein Zustand überhaupt des Gehirns." Ohne für jedes Wort von Avenarius und dessen Interpretation einstehen zu können und zu wollen, scheint mir doch seine Auffassung der meinigen sehr nahe zu liegen. Der Weg, den Avenarius verfolgt, "die Ausschaltung der Introjektion", ist nur eine besondere Form der Elimination des Metaphysischen.     Man betone nicht die Einheit des Bewußtseins. Da der scheinbare Gegensatz der wirklichen und der empfundenen Welt nur in der Betrachtungsweise liegt, eine eigentliche Kluft aber nicht existiert, so ist ein mannigfaltiger zusammenhängender Inhalt des Bewußt-seins um nichts schwerer zu verstehen, als der mannigfaltige Zusammenhang in der Welt.
    Wollte man das Ich als eine reale Einheit ansehen, so käme man nicht aus dem Dilemma heraus, entweder eine Welt von unerkennbaren Wesen demselben gegenüberzustellen (was ganz müßig und ziellos wäre), oder die ganze Welt, die Ich anderer Menschen eingeschlossen, nur als in unserm Ich enthalten anzusehen (wozu man sich ernstlich schwer entschließen wird).
    Faßt man aber ein Ich nur als eine praktische Einheit auf für eine vorläufig orientierende Betrachtung, als eine stärker zusammenhängende Gruppe von Elementen, welche mit andern Gruppen dieser Art schwächer zusammenhängt, so treten Fragen dieser Art gar nicht auf, und die Forschung hat freie Bahn.
    In seinen philosophischen Bemerkungen sagt Lichtenberg: "Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen; andere, glauben wir wenigstens, hingen von uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis." Mag auch der Weg, auf dem Lichtenberg zu diesem Resultate gelangt, von dem unsrigen etwas verschieden sein, dem Resultate selbst müssen wir zustimmen.

13.

Nicht die Körper erzeugen Empfindungen, sondern Elementenkomplexe (Empfindungskomplexe) bilden die Körper. Erscheinen dem Physiker die Körper als das Bleibende, Wirkliche, die "Elemente" hingegen als ihr flüchtiger vorübergehender Schein, so beachtet er nicht, daß alle "Körper" nur Gedankensymbole für Elementenkomplexe (Empfindungskomplexe) sind. Die eigentliche, nächste und letzte Grundlage, welche durch physiologisch-physikalische Untersuchungen noch weiter zu erforschen ist, bilden auch hier die bezeichneten Elemente. Durch diese Einsicht gestaltet sich in der Physiologie und in der Physik manches viel durchsichtiger und ökonomischer, und durch dieselbe werden manche vermeintlichen Probleme beseitigt.
    Die Welt besteht also für uns nicht aus rätselhaften Wesen, welche durch Wechselwirkung mit einem andern ebenso rätselhaften Wesen, dem Ich, die allein zugänglichen ,Empfindungen' erzeugen. Die Farben, Töne, Räume, Zeiten ... sind für uns vorläufig die letzten Elemente (vgl. Abschn. 8), deren gegebenen Zusammenhang wir zu erforschen haben20). Darin besteht eben die Ergründung der Wirklichkeit. Bei dieser Forschung können wir uns durch die für besondere praktische temporäre und beschränkte Zwecke gebildeten Zusammenfassungen und Abgrenzungen (Körper, Ich, Materie, Geist ...) nicht hindern lassen. Vielmehr müssen sich bei der Forschung selbst, wie dies in jeder Spezialwissenschaft geschieht, die zweckmäßigsten Denkformen erst ergeben. Es muß durchaus an die Stelle der überkommenen instinktiven eine freiere, naivere, der entwickelten Erfahrung sich anpassende, über die Bedürfnisse des praktischen Lebens hinausreichende Auffassung treten.

20) Ich habe es stets als besonderes Glück empfunden, daß mir sehr früh (in einem Alter von 15 Jahren etwa) in der Bibliothek meines Vaters Kants "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik" in die Hand fielen. Diese Schrift hat damals einen gewaltigen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht, den ich in gleicher Weise bei späterer philosophischer Lektüre nie mehr gefühlt habe. Etwa 2 oder 3 Jahre später empfand ich plötzlich die müßige Rolle, welche das "Ding an sich" spielt. An einem heitern Sommertage im Freien erschien mir einmal die Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend. Obgleich die eigentliche Reflexion sich erst später hinzugesellte, so ist doch dieser Moment für meine ganze Anschauung bestimmend geworden. Übrigens habe ich noch einen langen und harten Kampf gekämpft, bevor ich imstande war, die gewonnene Ansicht auch in meinem Spezialgebiete festzuhalten. Man nimmt mit dem Wertvollen der physikalischen Lehren notwendig eine bedeutende Dosis falscher Metaphysik auf, welche von dem, was beibehalten werden muß, recht schwer losgeht, gerade dann, wenn diese Lehren geläufig geworden. Auch die überkommenen instinktiven Auffassungen traten zeitweilig mit großer Gewalt hervor und stellten sich hemmend in den Weg. Erst durch abwechselnde Beschäftigung mit Physik und Physiologie der Sinne, sowie durch historisch-physikalische Studien habe ich (etwa seit 1863), nachdem ich den Widerstreit in meinen Vorlesungen über Psychophysik (im Auszug in "Zeitschr. f. prakt. Heilkunde", Wien 1863, S. 364) noch durch eine physikalisch-psychologische Monadologie vergeblich zu lösen versucht hatte, in meinen Ansichten eine größere Festigkeit erlangt. Ich mache keinen Anspruch auf den Namen eines Philosophen. Ich wünsche nur in der Physik einen Standpunkt einzunehmen, den man nicht sofort verlassen muß, wenn man in das Gebiet einer anderen Wissenschaft hinüberblickt, da schließlich doch alle ein Ganzes bilden sollen. Die heutige Molekularphysik entspricht dieser Forderung entschieden nicht. Was ich sage, habe ich vielleicht nicht zuerst gesagt. Ich will meine Darlegung auch nicht als eine besondere Leistung hinstellen. Vielmehr glaube ich, daß jeder ungefähr denselben Weg einschlagen wird, der in besonnener Weise auf einem nicht zu beschränkten Wissensgebiet Umschau hält. Meinem Standpunkt nahe liegt jener von Avenarius, den ich 1883 kennen gelernt habe (Philosophie als Denken der Welt nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes, 1876). Auch Hering in seiner Rede "Über das Gedächtnis" (Almanach der Wiener Akademie, 1870, S. 258) und J. Popper in dem schönen Buche "Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben", Leipzig 1878, S. 62, bewegen sich zum Teil in ähnlichen Gedanken. Vgl. auch meine Rede "Über die ökonomische Natur der physikalischen Forschung" (Almanach der Wiener Akademie, 1882, S. 179 Anmerkung, und Populärwissenschaftliche Vorlesungen, 3. Aufl. 1903, S. 239). Endlich muß ich hier noch auf die Einleitung zu W. Preyers "Reine Empfindungslehre" sowie auf Riehls Freiburger Antrittsrede S. 40 und auf R. Wahles "Gehirn und Bewußtsein", 1884, hinweisen. Meine Ansichten hatte ich 1882 und 1883 zuerst ausführlicher dargelegt, nachdem ich dieselben 1872 und 1875 kurz angedeutet hatte. Wahrscheinlich müßte ich noch viel mehr oder weniger Verwandtes anführen, wenn ich eine ausgebreitetere Literaturkenntnis hätte.
14.

Die Wissenschaft entsteht immer durch einen Anpassungsprozeß der Gedanken an ein bestimmtes Erfahrungsgebiet. Das Resultat des Prozesses sind die Gedankenelemente, welche das ganze Gebiet darzustellen vermögen. Das Resultat fällt natürlich verschieden aus, je nach der Art und der Größe des Gebietes. Erweitert sich das Erfahrungsgebiet, oder vereinigen sich mehrere bisher getrennte Gebiete, so reichen die überkommenen geläufigen Gedankenelemente für das weitere Gebiet nicht mehr aus. Im Kampfe der erworbenen Gewohnheit mit dem Streben nach Anpassung entstehen die Probleme, welche mit der vollendeten Anpassung verschwinden, um andern, die einstweilen auftauchten, Platz zu machen.
    Dem bloßen Physiker erleichtert der Gedanke eines Körpers die Orientierung, ohne störend zu werden. Wer rein praktische Zwecke verfolgt, wird durch den Gedanken des Ich wesentlich unterstützt. Denn ohne Zweifel behält jede Denkform, welche unwillkürlich oder willkürlich für einen besonderen Zweck gebildet wurde, für eben diesen Zweck einen bleibenden Wert. Sobald aber Physik und Psychologie sich berühren, zeigen sich die Gedanken des einen Gebietes als unhaltbar in dem andern. Dem Bestreben der gegenseitigen Anpassung entspringen die mannigfaltigen Atom- und Monadentheorien, ohne doch ihrem Zweck genügen zu können. Die Probleme erscheinen im wesentlichen beseitigt, die erste und wichtigste Anpassung demnach ausgeführt, wenn wir die Elemente (in dem oben Abschn. 7 bezeichneten Sinne) als Weltelemente ansehen. Diese Grundanschauung kann (ohne sich als eine Philosophie für die Ewigkeit auszugeben) gegenwärtig allen Erfahrungsgebieten gegenüber festgehalten werden; sie ist also diejenige, welche mit dem geringsten Aufwand, ökonomischer als eine andere, dem temporären Gesamtwissen gerecht wird. Diese Grundanschauung tritt auch im Bewußtsein ihrer lediglich ökonomischen Funktion mit der höchsten Toleranz auf. Sie drängt sich nicht auf in Gebieten, in welchen die gangbaren Anschauungen noch ausreichen. Sie ist auch stets bereit, bei neuerlicher Erweiterung des Erfahrungsgebietes, einer besseren zu weichen.

15.

Die Vorstellungen und Begriffe des gemeinen Mannes von der Welt werden nicht durch die volle, reine Erkenntnis als Selbstzweck, sondern durch das Streben nach günstiger Anpassung an die Lebensbedingungen gebildet und beherrscht. Darum sind sie weniger genau, bleiben aber dafür auch vor den Monstrositäten bewahrt, welche bei einseitiger eifriger Verfolgung eines wissenschaftlichen (philosophischen) Gesichtspunktes sich leicht ergeben. Dem unbefangenen, psychisch voll entwickelten Menschen erscheinen die Elemente, die wir mit A B C ... bezeichnet haben, räumlich neben und außerhalb der Elemente K L M ... und zwar unmittelbar, nicht etwa durch einen psychischen Projektions- oder einen logischen Schluß- oder Konstruktionsprozeß, der, wenn er auch existieren würde, sicher nicht ins Bewußtsein fiele. Er sieht also eine von seinem Leib K L M ... verschiedene, außer diesem existierende "Außenwelt" A B C.... Indem er zunächst die Abhängigkeit der A B C... von den, sich immer in ähnlicher Weise wiederholenden, und daher wenig bemerkten K L M ... nicht beachtet, sondern den festen Zusammenhängen der A B C... unter einander nachgeht, erscheint ihm eine von seinem Ich unabhängige Welt von Dingen. Dieses Ich bildet sich durch die Beachtung der besonderen Eigenschaften des Einzeldinges K L M ..., mit welchen Schmerz, Lust, Fühlen, Wollen usw. aufs engste zusammenhängen. Er bemerkt ferner Dinge K' L' M', K" L" M" ..., die sich ganz analog K L M verhalten, und deren Verhalten im Gegensatz zu demjenigen von A B C... ihm erst recht vertraut wird, sobald er sich an dieselben ganz analoge Empfindungen, Gefühle usw. gebunden denkt, wie er dieselben an sich selbst beobachtet. Die Analogie, welche ihn hierzu treibt, ist dieselbe, die ihn bestimmt, an einem Draht, an dem er alle Eigenschaften eines elektrisch durchströmten Leiters, mit Ausnahme einer jetzt nicht direkt nachweisbaren, beobachtet, auch diese eine als vorhanden anzusehen. Indem er nun die Empfindungen der Mitmenschen und Tiere nicht wahrnimmt, sondern nur nach der Analogie ergänzt, während er aus dem Verhalten der Mitmenschen entnimmt, daß sie sich ihm gegenüber in demselben Falle befinden, sieht er sich veranlaßt, den Empfindungen, Erinnerungen usw. eine besondere A B C ... K L M ... verschiedene Natur zuzuschreiben, die je nach der Kulturstufe ungleich aufgefaßt wird, was, wie oben gezeigt wurde, unnötig ist und auf wissenschaftliche Irrwege führt, wenn dies auch fürs praktische Leben von geringer Bedeutung ist.
    Diese, die intellektuelle Situation des naiven Menschen bestimmenden Momente treten je nach Bedürfnis des praktischen Lebens in diesem abwechselnd hervor und bleiben in einem nur wenig schwankenden Gleichgewicht. Die wissenschaftliche Weltbetrachtung betont aber bald das eine, bald das andere Moment stärker, nimmt bald von dem einen, bald von dem andern ihren Ausgangspunkt, und sucht in ihrem Streben nach Verschärfung, Einheitlichkeit und Konsequenz die entbehrlichen Auffassungen, so viel als ihr möglich scheint, zu verdrängen. So entstehen die dualistischen und die monistischen Systeme.
    Der naive Mensch kennt die Blindheit, Taubheit, und weiß aus den alltäglichen Erfahrungen, daß das Aussehen der Dinge durch seine Sinne beeinflußt wird; es fällt ihm aber nicht ein, die ganze Welt zu einer Schöpfung seiner Sinne zu machen. Ein idealistisches System oder gar die Monstrosität des Solipsismus wäre ihm praktisch unerträglich.
    Die unbefangene wissenschaftliche Betrachtung wird leicht dadurch getrübt, daß eine für einen besonderen engbegrenzten Zweck passende Auffassung von vornherein zur Grundlage aller Untersuchungen gemacht wird. Dies geschieht z. B., wenn alle Erlebnisse als in das Bewußtsein sich erstreckende "Wirkungen" einer Außenwelt angesehen werden. Ein scheinbar unentwirrbares Knäuel von methaphysischen Schwierigkeiten ist hiermit gegeben. Der Spuk verschwindet jedoch sofort, wenn man die Sache sozusagen in mathematischem Sinne auffaßt, und sich klar macht, daß nur die Ermittlung von Funktionalbeziehungen für uns Wert hat, daß es lediglich die Abhängigkeiten der Erlebnisse voneinander sind, die wir zu kennen wünschen. Zunächst ist dann klar, dass die Beziehung auf unbekannte, nicht gegebene Urvariable (Dinge an sich) eine rein fiktive und müßige ist. Aber auch wenn man diese zwar unökonomische Fiktion zunächst bestehen läßt, kann man leicht die verschiedenen Klassen der Abhängigkeit unter den Elementen der "Tatsachen des Bewußtseins" unterscheiden; und das ist für uns allein wichtig.

In vorstehendem Schema ist das System der Elemente angedeutet. Innerhalb des einfach umzogenen Raumes liegen die Elemente, welche der Sinnenwelt angehören, und deren gesetzt mäßige Verbindung, deren eigenartige Abhängigkeit von einander, die physikalischen (leblosen) Körper, sowie die Leiber der Menschen, Tiere und Pflanzen darstellt. Wieder in ganz besonderer Abhängigkeit stehen alle diese Elemente von einigen der Elemente K L M, den Nerven unseres Leibes, worin sich die Tatsachen der Sinnesphysiologie aussprechen. Der doppelt umzogene Raum enthält die dem höhern psychischen Leben angehörigen Elemente, die Erinnerungsbilder, Vorstellungen, darunter auch diejenigen, welche wir uns von dem psychischen Leben der Mitmenschen bilden, die durch Akzente unterschieden werden mögen. Die Vorstellungen hängen zwar unter einander wieder in anderer Weise zusammen (Assoziation, Phantasie) als die sinnlichen Elemente A B C ... K L M, doch läßt sich nicht zweifeln, daß sie mit den letzteren in der intimsten Verwandtschaft stehen, und daß ihr Verhalten in letzter Linie durch A B C ... K L M, die gesamte physikalische Welt, insbesondere durch unsern Leib, und das Nervensystem bestimmt ist. Die Vorstellungen a' b ' g ' ... von dem Bewußtseinsinhalt unserer Mitmenschen spielen für uns die Rolle von Zwischensubstitutionen, durch welche uns das Verhalten der Mitmenschen, die Funktionalbeziehung von K' L' M' zu A B C, soweit dasselbe für sich allein (physikalisch) unaufgeklärt bliebe, verständlich wird.
    Es ist also für uns wichtig zu erkennen, daß es bei allen Fragen, die hier vernünftigerweise gestellt werden, und die uns interessieren können, auf die Berücksichtigung verschiedener Grundvariablen und verschiedener Abhängigkeitsverhältnisse ankommt. Das ist die Hauptsache. An dem Tatsächlichen, an den Funktionalbeziehungen, wird nichts geändert, ob wir alles Gegebene als Bewußtseinsinhalt, oder aber teilweise oder ganz als physikalisch ansehen22). Die biologische Aufgabe der Wissenschaft ist, dem vollsinnigen menschlichen Individuum eine möglichst vollständige Orientierung zu bieten. Ein anderes wissenschaftliches Ideal ist nicht realisierbar, und hat auch keinen Sinn. 22) Vgl. die vortrefflichen Ausführungen bei J. Petzoldt, Solipsismus auf praktischem Gebiet (Vierteljahrsschrift f. wissenschaftliche Philosophie XXV, 3, S. 339). — Schuppe, Der Solipsismus (Zeitschr. f. immanente Philosophie, Bd. III, S. 327).     Der philosophische Standpunkt des gemeinen Mannes, wenn man dessen naivem Realismus diesen Namen zuerkennen will, hat Anspruch auf die höchste Wertschätzung. Derselbe hat sich ohne das absichtliche Zutun des Menschen in unmeßbar langer Zeit ergeben; er ist ein Naturprodukt und wird durch die Natur erhalten. Alles, was die Philosophie geleistet hat — die biologische Berechtigung jeder Stufe, ja jeder Verirrung zugestanden —, ist dagegen nur ein unbedeutendes ephemeres Kunstprodukt. Und wirklich sehen wir jeden Denker, auch jeden Philosophen, sobald er durch praktische Bedrängnis aus seiner einseitigen intellektuellen Beschäftigung vertrieben wird, sofort den allgemeinen Standpunkt einnehmen. Professor X, welcher theoretisch Solipsist zu sein glaubt, ist es praktisch gewiß nicht, sobald er dem Minister für einen erhaltenen Orden dankt, oder seinem Auditorium eine Vorlesung hält. Der geprügelte Pyrrhonist in Molières "Mariage forcé" sagt nicht mehr: "il me semble que vous me battez", sondern nimmt die Schläge als wirklich erhalten an.
    Die "Vorbemerkungen" suchen auch keineswegs den Standpunkt des gemeinen Mannes zu diskreditieren. Dieselben stellen sich nur die Aufgabe zu zeigen, warum und zu welchem Zweck wir den größten Teil des Lebens diesen Standpunkt einnehmen, und warum, zu welchem Zweck und in welcher Richtung wir denselben vorübergehend verlassen müssen. Kein Standpunkt hat eine absolute bleibende Geltung; jeder ist nur wichtig für einen bestimmten Zweck.