Der allgemeinen Physiologie des körperlichen Lebens lasse ich hier die Physiologie des geistigen Lebens folgen, als Abschluß der Darstellungen, durch welche ich hoffte, dem medizinischen Studium von Seiten philosophischer Betrachtung einige Vorteile zu bereiten. Dieselben Zwecke, dieselbe Darstellungsweise teilt dieses Buch mit dem vorerwähnten; indem es sich auf die Wechselverhältnisse zwischen Körper und Seele beschränkt, und die Gegenstände ausschließt, die einer spekulativen Psychologie allein zugänglich sind, macht es nicht den Anspruch, eine philosophische Untersuchung zu sein, sondern ist gleich seinem Vorgänger zur Entwicklung anwendbarer Anschauungen über die Beziehungen des geistigen Lebens zu den körperlichen Tätigkeiten bestimmt. Man wird vielleicht eine größere Ausführlichkeit in Betreff der anatomischen Verhältnisse der Nervenzentralorgane wünschen. Ohne indessen die Wichtigkeit zu verkennen, welche die Encephalotomie bei den verbesserten Mitteln der Untersuchung für unsere Zeit gewinnt, kann ich doch nichts sehen, was sie bis jetzt schon gelehrt hätte, als einzelne noch ganz undeutbare Tatbestände. Je sicherer wir indessen von den scharfsinnigen und gewandten Physiologen, die sich dieser Untersuchungen angenommen haben, einen lebhaften Fortschritt der Entdeckungen erwarten dürfen, um so nützlicher schien es mir, eine allgemeine Ansicht über die möglichen Beurteilungsgründe zu entwickeln, nach denen die eventuellen Resultate jener Forschungen zu deuten sein werden. Ich muß die Worte Volkmanns über die Untersuchung der Herztätigkeit auch auf den Gegenstand meines Buches anwenden: "Mikroskopische Untersuchungen in diesem Gebiete werden nie zu erheblichen Aufschlüssen fuhren, weil selbst die bewahrteste Beobachtung ein vieldeutiges Ding ist. Mit solchen Beobachtungen macht Jeder, was er will; was er mit ihnen machen darf, das hängt von schon erworbenen physiologischen Erfahrungen ab. Ebenso ist in unserm Falle die Deutung des Gefundenen nach allgemeinen psychologischen Anschauungen zu regeln. Auf diese mich zu beschränken, schien mir um so ratsamer, als ich heimlich längst die statistische Bemerkung gemacht, habe, dass die großen positiven Entdeckungen der exakten Physiologie eine durchschnittliche Lebensdauer von etwa vier Jahren haben.
Göttingen Ostern 1852.
Den Sturm einer akuten Krankheit hat schon die Naturbeobachtung der
ältesten Zeiten der langsamen Gewalt chronischen Siechtums als die
günstigere Form des Übels vorgezogen. Ausreichende Reize, mit
großer Kraft die natürlichen Verhältnisse verschiebend,
drängen dort das Leben zu schnellem Untergang oder zu gleich rascher
und elastischer Rückwirkung; kleinliche Einflüsse, oft wiederholt,
greifen es hier verstohlen an, jeder einzelne stark genug, um ein Stück
seiner Grundlagen anzunagen, keiner hinlänglich, um durch entschiedenen
Eindruck seine Kräfte zu gemeinsamer Abwehr zu wecken. Man hat nicht
mit unrecht dieselben Analogien auf das geistige Leben übergetragen;
sie kehren in der Tat nicht nur in unsern sittlichen Verhältnissen,
sondern ebensowohl im Laufe wissenschaftlicher Bestrebungen wieder. Für
die Erziehung des Einzelnen gleich sehr wie für die Entwicklung der
Wissenschaft selbst ist es stets eine ungünstige Bedingung, wenn wir
mit ihrem Gegenstande allmählich und zu einer Zeit bekannt werden,
in welcher uns eine genügende Fähigkeit seiner Beurteilung noch
abgeht. Wo einem gebildeten und gesammelten Bewußtsein ein Kreis
von Erscheinungen sich plötzlich gegenüberstellte, da würde,
an die Verfolgung bestimmter Fragen längst gewöhnt, unser Nachdenken
rasch in seine Tiefen vordringen, lange bevor die Helligkeit verblich,
mit welcher die Frische des Eindrucks jeden einzelnen seiner Züge
hervorhob. Verfrühte und nur allmählich sich erweiternde Auffassung
der Dinge läßt dagegen die meisten ihrer Eigentümlichkeiten
wirkungslos an uns vorübergleiten, um so mehr, je weniger ein an andern
Problemen noch nicht geübtes Denken für den unmerklichen Zuwachs
neuen Inhaltes reizbar ist, den eine so langsam fortrückende Erfahrung
mit sich führt. Die unzureichende Kraft dieser in ihrer Zersplitterung
zu wenig eindringlichen Wahrnehmungen regt die Erkenntnis zu keiner entschlossenen
und vollständigen Untersuchung auf; mit kleinen und unvollständigen
Aushilfen beschwichtigen wir uns für jeden einzelnen Fall, und so
bringt dies allmähliche Verwachsen des Geistes mit seinen Gegenständen
nur eine unzusammenhängende Ablagerung von Eindrücken hervor,
deren jeder ein halbgelöstes Rätsel in sich schließt.
Unter der hemmenden Gewalt
dieser Umstände hat die Erkenntnis des Seelenlebens in größerem
Masse als andere Wissenschaften, und in eigentümlicher Weise gelitten.
In der Tat dürfen wir uns auf diesem Gebiete das innigste und eindringendste
Verständnis fast mit demselben Recht zuschreiben, mit welchem wir
die Unmöglichkeit beklagen, gerade diesen Besitz in wissenschaftlichen
Formen festzuhalten. Von frühester Kindheit an führt uns die
Umgebung unzählige Wahrnehmungen geistigen Lebens zu; aber mancherlei
Wünsche des Gemüts und die Triebe der Selbsterhaltung zeitigen
aus ihnen mit allzugroßer Beschleunigung jenen Instinkt unmittelbarer
Menschenkenntnis, der sogleich den nutzbaren Gewinn seiner Wahrnehmungen
zu verfolgen eilt. Mit dem schnellen Anwachs dieser praktischen Klugheit
vermag die wissenschaftlichere Neigung des Verstandes, das Beobachtete
auf seine ersten Quellen zurückzuführen, niemals gleichen Schritt
zu halten. Und so erneuert sich zwar in dem Lebenslaufe jedes Einzelnen
die rasche Ausbildung einer mehr oder minder gehaltvollen Kenntnis des
geistigen Lebens, und die Lücken individueller Erfahrung ergänzend
haben die Überlieferungen der Geschichte und die Werke der Kunst einen
Reichtum psychologischer Anschauungen um uns aufgehäuft, deren umfassende
Mannigfaltigkeit und eindringende Feinheit wenig zu begehren übrig
läßt. Aber diese lebendige Menschenkenntnis ist dennoch weder
Wissenschaft, noch geeignet eine solche aus sich zu entwickeln.
Zwar entspringen gewiß
auch aus ihr für jedes nachdenkliche Gemüt allgemeine Gesichtspunkte
und zusammenfassende Ansichten genug, aber sie unterscheiden sich völlig
von dem, was eine Wissenschaft anstreben würde, die zunächst
nur auf Erklärung ihres Gegenstandes, nicht aber gleich unmittelbar
auf die praktische Anwendung ihrer Ergebnisse gerichtet wäre. Eine
vollendete Erklärung irgend eines Kreises von Erscheinungen würde
allerdings stets die genaueste Anweisung sein, handelnd in ihn einzugreifen
und ihn nach willkürlichen Zwecken zu gestalten; bei der allgemeinen
Unvollendbarkeit menschlicher Wissenschaft jedoch fließen in Wirklichkeit
die nützlichen Regeln praktischen Benehmens meist aus näheren
Quellen. Um den Eintritt irgend eines Ereignisses aus vorhandenen Umständen
vorher zu bestimmen, ist selten die Kenntnis der wahren wirkenden Kräfte
unentbehrlich, welche jene Folge mit diesen Bedingungen verknüpfen;
es reicht hin, eine gesetzliche Formel zu wissen, nach welcher beide tatsächlich
mit einander verbunden vorkommen. Solcher Gesetze bietet uns eine vervielfältige
Beobachtung gar manche mit hinlänglicher Genauigkeit dar; und da selten
eine praktische Maxime auf Unfehlbarkeit Anspruch macht, vielmehr die Ungewißheit
der Beurteilung diesem Verkehr mit den Ereignissen einen neuen Reiz lebendigen
Wagnisses gibt, so reichen um so mehr selbst unvollständige Beobachtungen
hin, um unserem Handeln die nötigen Zielpunkte festzustellen. Auf
so schwebenden Grundlagen ruht auch jene lebendige Menschenkenntnis; und
so wenig wir hoffen dürfen, ihren praktischen Blick jemals durch wissenschaftliche
Überlegungen zu ersetzen, so wenig vermag sie selbst die Aufgaben
der Wissenschaft zu lösen oder ihrer Lösung auch nur in genügender
Weise vorzuarbeiten. Jenes Innere der Seele, das der Pädagog nach
bestimmten Zwecken auszubilden, dessen krankhafte Störungen der Arzt,
dessen sittliche Verirrungen der Seelsorger zu heilen unternimmt, und dessen
verborgenstes Getriebe meist der Schlechteste für seine Absichten
am glücklichsten in Bewegung setzt, bleibt in seinem eigentlichen
Wesen und in den ursprünglichen Gesetzen seines Wirkens ihnen allen
unbekannt Mit instinktiver Sicherheit bewegen sie sich in einem Kreise
der zusammengesetztesten Ereignisse, die auf ihre unzähligen Bedingungen
zurückzuführen die Wissenschaft, selbst im Besitze der festeten
Prinzipien, verzweifeln müßte; manche Gewohnheiten ferner des
Ineinanergreifens geistiger Tätigkeiten wissen sie den Beobachtungen
geschickt genug zu entlehnen: aber die wesentlichste Frage lassen sie unberührt,
die nach den elementaren Kräften, auf deren Wirksamkeit und Verbindung
die Möglichkeil aller dieser Gewohnheiten allein beruht. Neben dem
feinsten Verständnis menschlicher Charaktere im Leben und neben der
schärfsten Zeichnung derselben in den Werken der Kunst pflegt daher
doch selbst ein gebildetes Zeitalter gewissen Grundvorstellungen über
die Natur des geistigen Wesens zu folgen, über deren Rohheit es selbst
erschrickt, sobald eine empirische Psychologie ihm die Summe derselben
in wissenschaftlicher Allgemeinheit vorhält und abgelöst von
dem bestechenden Reichtum spezieller Anschauungen, die allein in der lebendigen
Anwendung ihre gänzliche Unzulänglichkeit verdeckten.
Dasselbe geistige Dasein
nun, welches jene lebendige Kenntnis so fein in seinen letzten Verzweigungen
und so gar nicht in seinen Wurzeln versteht, hat freilich stets auch den
geordneten Angriffen der wissenschaftlichen Untersuchung offen gestanden.
Aber ein doppeltes Mißgeschick hat auch diese ernstlichen Bestrebungen
der Erklärung immer verfolgt. Zuerst hat die überwältigende
Wichtigkeit des Gegenstandes jedes Zeitalter gedrängt, mit oft unzulänglichen
Erkenntnismitteln eine abschließende Ansicht über ihn zu suchen.
Wie sehr nun auch zur Beurteilung vieler Seiten des geistigen Lebens die
nötigen Grandlagen nur in dem Innern des Geistes selbst liegen
und daher dem Scharfsinn menschlicher Erkenntnis stets zugänglich
sein mußten, so wird doch seine vollständige Auffassung nie
ohne jene klaren naturwissenschaftlichen Anschauungen möglich sein,
die im Verlaufe unserer Bildung sich bekanntlich spät und allmählich
entwickelt haben. Im Angesicht so vieler mißlungener Versuche, das
geistige Leben zu erklären, dürfen wir deshalb die Hoffnung doch
nicht aufgeben, wenigstens in Bezug auf die enger begrenzte Frage, welche
den Gegenstand unserer folgenden Betrachtungen bilden wird, glücklicher
zu sein. Können wir uns nicht zuschreiben, eine größere
Kraft des Gedankens gegen diese Rätsel zu wenden, so hat dafür
der allgemeine Fortschritt der naturwissenschaftlichen Bildung nicht nur
einzelne Schranken der Erkenntnis hinweggeräumt, sondern durch den
umfassenden Überblick, den er uns über die Welt des Vorhandenen
eröffnet, sind auch unsere allgemeinen Beurteilungsgründe klarer
und zur Überwältigung mancher Schwierigkeit beweglicher geworden.
Es ist daher nicht sowohl
die eigne Dunkelheit des Gegenstandes, die wir scheuen, als vielmehr jenes
andere Mißgeschick, dem, wie wir erwähnten, die Versuche psychologischer
Erklärung stets ausgesetzt gewesen sind. In jener lebendigen Menschenkenntnis
sind wir mit den Erscheinungen des Seelenlebens äußerlich zu
bekannt geworden, um noch gern zu glauben, die Wissenschaft wisse über
sie mehr Aufklärung zu geben, als unsere unerzogenen Reflexionen bereits
enthalten. Wie jeder andere Kreis von Erfahrungen, so ist auch der, den
wir über psychische Erscheinungen uns gesammelt haben, durch die unablässige
Tätigkeit halb unbewußter Überlegungen mit einer unfertigen
Metaphysik allenthalben versetzt. Jene äußerliche Vertrautheit
aber mit den Phänomenen des geistigen Lebens trägt die Schuld,
dass wir gerade auf diesem Gebiete die Vorurteile jener unregelmäßigen
Erklärungsversuche mit viel größerer Hartnäckigkeit,
als sonstwo, den Behauptungen gegenüberstellen, welche eine besonnene
und an umfassender Betrachtung der Welt großgezogene Spekulation
geltend zu machen hat. Vieles erscheint daher der allgemeinen Meinung als
eine klare und brauchbare Hypothese der Erklärung, was jede philosophische
Theorie als eine völlig unmögliche Verkehrtheit zurückweisen
muß; manches gilt umgekehrt jener fragmentarisch gebildeten Ansicht
als unlösbares Rätsel, was die wissenschaftliche Auffassung als
einfach und erledigt betrachten darf. So hat jener unangenehme Zustand
der Dinge sich gebildet, dass zwar Jeder zugibt, die Entscheidung physikalischer
Fragen hänge von der genauen Kenntnis unbestreitbarer Grundsätze
ab, dass dagegen der Bereich psychologischer Untersuchungen fast für
ein vogelfreies Gebiet gehalten wird, in welchem bei dem Mangel aller festen
Gesetze und der Unmöglichkeit sicherer Ergebnisse Jeder den Einfällen
folgen dürfe, die nach der besondern Eigentümlichkeit seines
Bildungsganges ihn am meisten anmuten. Zwar müssen wir zugeben, dass
hier wie in allen Wissenschaften, einzelne unentscheidbare Fragen sich
finden, deren Beantwortung für jetzt einem subjektiven Gefühl
des Richtigen anheimgestellt bleiben muß; nicht minder aber können
wir das Vorhandensein ebenso sicherer Grundsätze behaupten, als sie
irgend einer andern Wissenschaft zu Gebote stehn. Der Genialität unserer
Physiologen mag das schöne Verdienst beschieden sein, diesen Grundsätzen
durch individuellen Scharfsinn eine Reihe wichtiger Anwendungen abzugewinnen;
in Bezug auf die Grundsätze selbst dagegen müssen sie mit Aufgebung
subjektiver Neigungen sich zu der aufrichtigen Stellung eines Lernenden
verstehen.
Indem wir nun den Versuch
wagen wollen, den Zusammenhang des geistigen und des körperlichen
Lebens in allen jenen Beziehungen zu schildern, die der Heilkunst von Wert
sein können, müssen wir hoffen, dass eine ausdauernde Teilnahme
unserer Leser die Ungunst der Stellung überwinden werde, in der sich
alle solche Bestrebungen gegenwärtig befinden. Wir sehen uns einem
Gegenstande gegenüber, dessen erste Frische längst durch unzählige
vereinzelte und mißglückte Versuche seiner Erforschung für
uns verloren ist; der Zugang zu dem ferner, was wir als feststehend und
weiterer Entwicklung fähig behaupten möchten, steht uns nur nach
dem langen Wege einer erschöpfenden Kritik jener Vorurteile offen,
die sich verwirrend, Gesuchtes und Gegebenes am häufigsten verwechselnd,
in unerhörten Entdeckungen einander überbietend, um diese Fragen
angesammelt haben; endlich ist, was wir als das Wahre vertreten wollen,
nicht eine jener extremen und capriciösen Ansichten, die gegenwärtig
am meisten Hoffnung haben, die erschlaffte Empfänglichkeit für
die Behandlung dieser Gegenstände wieder aufzustacheln. Unsere Absicht
ist es vielmehr, eine Auffassung des Seelenlebens zu entwickeln, die den
Anforderungen naturwissenschaftlicher Anschauung ebenso vollständig
Genüge leistet, als sie anderseits unverkümmerten Raum läßt
für die Anknüpfung jener sittlichen und religiösen Reflexionen,
deren gleiches Recht an unsern Gegenstand zu leugnen wir der Leidenschaftlichkeit
unserer Zeit nicht zugestehen dürfen. Wir wollen versuchen, diese
allgemeinen Grundlagen der psvchologischen Untersuchungen hier zusammenzufassen,
ohne Bildung und Sprache einer bestimmten philosophischen Schule vorauszusetzen,
aber gleichzeitig auch ohne den Zusammenhang mit jenen Elementen der Bildung
zu verlieren, die außer der Physiologie das menschliche Nachdenken
bewegen, und deren Einflüsse der Naturforscher sich weder im Leben
noch in der Wissenschaft zu entziehen vermag oder versuchen soll.