§. 44.
Von der Zurechnung.

518. Die Rechtspflege knüpft ihre Strafen nicht gleich einer Naturordnung als selbstverständliche Folgen an die Ereignisse, die den Inhalt eines Verbrechens bilden; sie verlangt zur Straffälligkeit, dass die Ereignisse die Tat eines ungehemmten persönlichen Willens sind. Weder der Mensch erscheint ihr als Automat, noch ihr eignes Tun als automatisches Verteilen von Gegengewichten gegen die Verschiebungen, welche die Verbrechen in das Gebäude der Gesellschaft bringen. Indem sie die Tat auf die Gesinnung und die Möglichkeit freier Entschließung zurückverfolgt, denkt sie die Würde des Menschen zu ehren, obwohl sie ihn dadurch zugleich der veränderlichen und ungleichförmigen Beurteilung Anderer Preis gibt. Hätte die Jurisprudenz die Bedingungen, welche sie zur Begründung der Zurechnungsfähigkeit erfüllt verlangt, in einen scharfen allgemeinen Begriff formuliert, so wäre das Geschäft der forensischen Medizin, deren Beistand sie fordert, sehr einfach, obgleich noch immer sehr schwierig; es würde darin bestehen, zu beurteilen, ob in dem einzelnen konkreten Falle die vorhandenen Indizien die Erfüllung jener ein für alle Mal festgestellten Bedingungen verbürgen. Aber diese Bedingungen stehen nicht hinlänglich fest; indem vielmehr der Gerichtsarzt über den einzelnen Fall zu entscheiden hat, bleibt ihm zugleich überlassen, den Begriff der Zurechnungsfähigkeit, über dessen Anwendbarkeit er urteilen soll, innerhalb ziemlich weiter Grenzen sich selbst zu konstruieren. Hierdurch ist die Frage nach der Imputation einer doppelten Ungewißheit ausgesetzt; sie unterliegt zuerst aller Verschiedenheit der Ansichten, welche über das Verhältnis der Taten zum Willen ganz im Allgemeinen gefaßt werden können; sie ist außerdem allen Schwierigkeiten ausgesetzt, die der Erhebung eines psychologischen Tatbestandes im einzelnen Falle entgegenstehn. Die letztern werden nie zu entfernen sein; allgemeine Maximen dagegen zu finden, die der unvollkommnen Beurteilung wenigstens als unbestrittene Obersätze der Subsumption dienen können, liegt allerdings im Interesse der Wissenschaft.

519. Aber nicht minder liegt es in ihrem Interesse, diese Obersätze nicht auf Gebieten zu suchen, die einer beständigen Verschiedenheit der Überzeugungen wohl ohne Ende unterworfen sein werden. Der Begriff der menschlichen Willensfreiheit gehört einem solchen Gebiete, und wenn es dem philosophischen Rechtslehrer allerdings angelegen sein muß, über das allgemeine Verhältnis des Willens zur Tat sich eine prinzipielle Überzeugung zu bilden, so scheint es für die praktische Beurteilung der Zurechnung ungleich notwendiger und vorteilhafter, diese Frage möglichst zu eliminieren. Die verschiedensten Ansichten von materialistischem oder spiritualistischem Determinismus, von Prädestination, von Freiheit des Geistes im Ganzen oder der beschränkten Wahlfähigkeit eines seiner Vermögen beherrschen Richter und Ärzte; soll ein Ausspruch über Zurechnung irgend allgemeine und befriedigende Geltung haben, so muß er sich weniger auf die metaphysischen Prämissen, in denen alle diese Ansichten auseinanderweichen, und viel mehr auf einen anschaulichen Punkt beziehen, indem sie zusammentreffen. Im gewöhnlichen Leben nun leitet uns alle die Überzeugung, dass die gesunde geistige Organisation für die Richtung ihres Willens verantwortlich sei. Worauf auch dieser allgemeine Glaube beruhen und welche theoretischen Substruktionen man ihm immer unterzuziehen suchen möge: er ist vorhanden und bildet die Grundlage für die ganze sittliche Ordnung unsers Lebens. Der Anmutung, die wir an den Menschen stellen, für seine Handlungen einzustehen, sich im wirklichen Leben entziehen zu wollen, ist selbst der eifrigste Determinist selten geschmacklos genug, wie unerschütterlich er auch in seiner theoretischen Überzeugung sein mag. Auf diesem allgemeinen Glauben kann auch die Rechtspflege vollkommen sicher beruhen. Kann sie ja doch niemals die Geltendmachung der letzten absoluten Prinzipien des Seins und Sollens im Laufe der Welt anstreben, immer ist sie vielmehr nur die Form, in der sich das sittliche Bewußtsein des menschlichen Geschlechts, unbekümmert um seine eigne spekulative Begründung, gesetzgebend und vergeltend ausspricht.

520. Die Frage nach der Zurechnung wird hierdurch, mit völliger Eleminierung der schwankenden Begriffe über die Freiheit, auf die andere zurückgeführt, ob jener Zustand geistiger Gesundheit vorhanden gewesen sei, dem das allgemeine menschliche Urteil, dessen einer Ausdruck auch die Rechtspflege ist, jene Verantwortlichkeit, aus welchem spekulativ triftigen oder untriftigen Gründe es auch immer geschehn mag, faktisch nun einmal zuschreibt. Fast unvermeidlich wird daher die medizinische Begutachtung die Form einer Analyse annehmen, in welcher alle wesentlichen Punkte des gegenwärtigen und des früheren Lebens zur Herstellung eines Seelenbildes verbunden werden, aus dem im Grunde dem Richter selbst überlassen bleibt, das Maß der vorhandenen Zurechnungsfähigkeit zu bestimmen. Dem Arzte als Naturforscher liegt nur die Erklärung dieses Tatbestandes ob, die gewöhnlich gestellte Frage dagegen, ob Jemand im Augenblicke einer Handlung in ungehemmtem Besitze seiner Willensfreiheit gewesen sei, liegt ihm an sich sehr fern; denn ihre Beantwortung ist nicht durch einfache Folgerung aus den Tatsachen möglich, sondern nur durch Voraussetzungen über die Deutbarkeit derselben. Das Rechte scheint mir daher nur, dass der Arzt in Bezug auf den einzelnen Fall diese Frage ablehne, die für den allgemeinen weder von der Jurisprudenz authentisch interpretiert, noch von der Philosophie zu allgemeiner Anerkennung prinzipiell beantwortet wird. So lange die Jurisprudenz selbst den Begriff der Zurechnung nur aus dem intensiven, aber doch immer seiner Begründung unkundigen menschlichen Gefühle entlehnt, ohne seinen Inhalt durch eine scharfe Formel exakt zu begrenzen, so lange kann sie sich auch begnügen, aus der psychologischen Schilderung eines Seelenzustandes Motive zu menschlicher Temperierung ihrer Urteile zu entlehnen, ohne auf der an sich kontroversen Frage zu bestehen, ob die Freiheit des Willens eine absolute Hemmung erfahren habe, deren spezifischen Charakter sie doch selbst nicht anzugeben versteht. Verlangte sie eine scharfe Grenze dennoch, wo keine zu finden, so könnte sie für sich selbst gewisse Zustände der Seele legislativ als Begründungen der Unzurechnung ebenso feststellen, wie sie etwa den Zeitpunkt der Majorennität bestimmt, und Rechtswohltaten und Nachteile an Tage und Stunden knüpft, die vor den vorhergehenden auch Nichts voraus haben.

521. Die gewöhnliche Meinung wie die juristische Auffassung finden nun Motive der Unzurechnung in manchen Zuständen, die wir nicht dem Gebiete geistiger Krankheiten zurechnen; umgekehrt wird gezweifelt, ob jede geistige Krankheit zugleich die Verantwortlichkeit aufhebe. Man hat daher die näheren Fragen zu stellen, ob alle jene begünstigenden Elemente, die in dem Gesunden eine vernünftige Lenkung des Willens bedingen, auch in dem gegebenen Falle der Untersuchung vorhanden und wirksam gewesen sind, und ob die Hindernisse, die jener Lenkung entgegenstanden, innerhalb der Größengrenzen geblieben sind, in denen sie auch dem Gesunden nur als überwindbare Hemmungen angerechnet werden. Die Schätzung der Wichtigkeit, die den hierüber beigebrachten Tatsachen zuerkannt werden darf, wird stets von dem gesunden Sinne der Beurteilenden abhängen müssen, und von Motiven, welche dasselbe allgemein menschliche Gefühl, auf dem der Glaube an alle Zurechnung überhaupt ruht, zwar keineswegs willkürlich, aber ohne Zurückführung auf die letzten Prinzipien der Sache, anerkannt hat. Diese Motive sind leicht zu finden, und kaum ist es nötig nach allem Vorangegangenen sie hier besonders zu entwickeln. Jede vernünftige Lenkung des Willens, sei er selbst nun frei oder determiniert, bedarf einer richtigen Auffassung der Außenwelt und der Ziele, die in ihr liegen, bedarf ferner eines vollständigen Selbstbewußtseins, welches den einzelnen Zweck des Handelns in seinem Zusammenhange mit den Aufgaben des Lebens faßt, bedarf endlich des gesunden Gefühles, welches die theoretische Beurteilung der Werte durch seine unmittelbare Evidenz unterstützt. Wo diese Vorbedingungen fehlen, fehlt auch die Verantwortlichkeit; wo sie in geringerem Maße vorbanden sind, als wir sie bei dem Gesunden voraussetzen, mindert sich auch das Maß der Zurechnung.

522. Da die Auffassung der Welt wenig auf unserer Willkür, viel mehr auf dem psychologischen Mechanismus und der Gesundheit der körperlichen Organe beruht, so treten zahlreiche Störungen des Bewußtseins völlig unabhängig von persönlicher Verschuldung ein und heben die weitere Verantwortlichkeit für Handlungen auf. Halluzinationen, welche dem Kranken unvermeidlich eine täuschende Scheinwelt vorspiegeln, auf die allein nun sein Wille sich richten kann, entfernen natürlich jede Zurechnung für das, was an seinen Handlungen verbrecherisch sein würde, sobald man sie mit Absicht gegen die wirkliche Welt gerichtet dächte. Zwar hat man behauptet, dass hiermit nicht immer auch die Gesinnung straflos werde, viele Handlungen Wahnsinniger seien auch noch verbrecherisch in ihrer Beziehung auf die illusorischen Objekte der Wahnwelt. Verlangt man jedoch vom Kranken diese Konsequenz, selbst in der Mitte ausgedehnter Halluzinationen noch gegen die Objekte seines Traumes gerecht zu sein, so vergißt man, dass diese Störungen der Erkenntnis meist nur sekundäre Symptome eines tieferen Leidens sind. Einzelne unbedeutende Sinnestäuschungen stören den sonst Gesunden freilich wenig, aber auch von ihnen schon erzeugen manche eine Erschütterung des Gemüts, die ihr Inhalt nicht erwecken würde, wenn nicht ihr Zustandekommen selbst schon auf einer krankhaften Tätigkeit der Zentralorgane beruhte. Jene mannigfachen und zusammenhängenden Halluzinationen der Irren sind überall mit so tiefer Störung des Gemüts verbunden, dass das zweite nötige Element vernünftiger Willenslenkung, die adäquate Schätzung der Werte in der Welt, ihnen allerdings abgeht. So wenig wir in der Pathogenie der Geisteskrankheiten primitive Störungen der Intelligenz für sehr häufig hielten, so wenig legen wir in der Frage nach der Zurechnung übermäßigen Wert auf die Freiheit des Verstandesgebrauchs. Mag die theoretische Beurteilung der Sachlagen wenig alterirt scheinen, so kann doch die Verstimmung der Gefühle, die überall vom Erkennen zum Handeln leiten, um so größer sein; auch der Gesunde erinnert sich wohl verzweifelter Momente, in denen ihm der Unterschied von Recht und Unrecht vollkommen klar, aber zugleich völlig gleichgültig und mesquin erschien. Am wenigsten können wir jene Meinung billigen, die einen Kranken für zurechnungsfähig hält, sobald er nur über andere, aber nicht über die mit seiner Handlung zusammenhängenden Gegenstände irr ist. Diese scheinbar nur partielle Verkehrtheit ist das Symptom eines ausgedehnteren Leidens, das hier nur als theoretischer Irrtum, dort aber eben als Handlung hervortritt.

523. Die Zurechnung kann ferner nur stattfinden, wo keine unübersteiglichen Hindernisse der Entfaltung des Selbstbewußtseins im Momente der Tat entgegenstanden. Die meisten unserer Handlungen gehn aber von einem partiellen Selbstbewußtsein aus. Ließe sich jenes unvollständige Ich, das in der Schlaftrunkenheit, im Nachtwandeln, in der Höhe des Entsetzens das wahre Subjekt des Handelns ist, von der ganzen Persönlichkeit lösen, so möchte es die Folgen seines Tuns tragen; aber der ganze Geist kann nicht für die Handlungen leiden, die einzelne seiner Tätigkeiten nach mechanischen Gesetzen ausführten. Denn mechanische Gesetze sind es in der Tat, die hier den Erfolg hervorbringen, der gänzlich von der unwillkürlichen Geschwindigkeit abhängt, mit welcher der Vorstellungsverlauf und die äußern Wahrnehmungen die Sammlung des zerstreuten Selbstbewußtseins möglich machen. Phrenesis, Manie, Blödsinn, die alle aus verschiedenen Gründen jenen zusammenfassenden, klaren, ruhigen Reichtum der Gedanken aufheben, tilgen dadurch auch die Zurechnung; in leidenschaftlichen Affekten hört die Verantwortlichkeit für die einzelne Tat auf, und verwandelt sich in eine Verantwortung für die allgemeine üble Leitung des Charakters, welche die Möglichkeit so übermäßiger Gemütserschütterungen nicht verhinderte.

524. Den Verstimmungen der Gefühle halten wir im täglichen Leben viele Unarten und Ungerechtigkeiten zu Gut; aber obgleich wir sie für die Quelle der weiteren Geistesstörungen halten, sind wir doch nicht geneigt, sie unmittelbar eben so sehr wie die Störungen der Intelligenz als Motive der Unzurechnung zu betrachten. Wir begreifen die düstern Taten der Melancholie und der ingrimmigen Verbissenheit, aber wir fühlen, dass diese Zustände doch einer willkürlichen Beförderung ihrer Heilung zugänglich sind, so lange sie nicht sekundäre Störungen des Verstandes erzeugten, die nun selbst ein darnach strebendes Gemüt am Heraustreten aus dem Kreise seiner ängstlichen Träume hindern. Auch da, wo die Verstimmung des Gemüts von aller Willkür entzogenen Körperleiden ausgeht, erscheint sie uns doch als ein Hindernis, das bei sonst unverletzter Intelligenz wohl durch eine willkürliche Lenkung der Gedanken zu überwinden wäre; wo sie aber von intellektuellen Gründen entspringt, schiebt sich um so mehr die Zurechnung für die einzelnen Taten auf die mangelnde Energie der Selbsthilfe zurück, die der Stimmung, von der sie ausgehn, hätte widerstehen sollen. Ohne daher die außerordentliche Gewalt zu verkennen, welche die Verstörung des Gemüts auf unsere Handlungen naturgemäß ausübt, wird doch die Beurteilung der Grenze, von welcher ab die Unzurechnung beginnt, gerade bei ihr die schwierigste sein und es liegt ebenso nahe, in einem Falle eine schwere Tat durch unverantwortliche Launen zu entschuldigen, als im andern, eine Beherrschung der Handlungen zu verlangen, wo sie menschlichen Kräften unmöglich ist.

525. Den eigentlichen kontroversen Punkt der forensischen Medizin bilden nun endlich jene Handlungen, die nach der Angabe der Täter durch einen unwiderstehlichen Trieb ohne andere Störung des Bewußtseins oder der Gefühle ausgeführt werden, die Maniae sine delirio. Wie leicht einzelne Vorstellungen eine dämonische Gewalt über das ganze Bewußtsein erlangen, sahen wir früher; aber ihre unwiderstehliche Kraft beruht im einzelnen Falle stets auf der Aussage der Angeschuldigten allein, und es ist nicht abzusehn, wie die gewissenhafteste Exploration des Arztes je einen andern Ausspruch begründen könne, als den, dass dem Triebe nicht widerstanden worden ist. Die begleitenden Symptome mögen die Größe der drängenden Kraft, die er ausübte, wohl hoch anschlagen lassen, aber über das Faktum des nicht geleisteten Widerstandes führt keine logische Folgerung zu der Annahme seiner Unmöglichkeit. Gleichwohl kann die Denkbarkeit der letztern nicht so kurz abgewiesen werden. Die Freiheit des Willens zwar ist ein gebräuchlicher Gedanke, eine unendliche Kraft des Willens dagegen, die überall zur Bewältigung der Hindernisse hinreichte, eine neue und zweifelhaftere Bereicherung desselben Gedankens. Die gewöhnliche Meinung des Lebens und die juristische Auffassung lassen Kinder straflos, die einem mächtigen Gelüste nachgaben; sie setzen voraus, dass die Kraft des Willens sich allmählich bilden muß, und dass die Größe des Widerstandes, den er zu leisten vermag, von dem wachsenden Verständnis der Welt und der Werte in ihr herrührt. Ließe sich wirklich nachweisen, dass in einem Falle solcher Monomanie weder irgend eine Trübung der Erkenntnis, noch eine Verstimmung des Gemütes, noch eine Störung in der Tätigkeit körperlicher Organe vorhanden gewesen sei, so würde kein Grund einer Unzurechnung irgend bestehen. Alle Bedingungen wären vorhanden, die den Gesunden befähigen, um die auch in ihm aufsteigenden Gelüste zu bekämpfen; ganz unwahrscheinlich wäre es anderseits, dass diesem Reichtum von Hilfsmitteln gegenüber die zufällig erweckte Vorstellung einer Handlung jemals zu einer schlechthin überwältigenden Dringlichkeit des Triebes wüchse. Entweder die genauere Untersuchung weist allgemeine Störungen nach, welche die Tat unter andere Gesichtspunkte der Unzurechnung bringen, oder sie bleibt der Verantwortlichkeit unterworfen, die jeder seiner Sinne Mächtige für den Ausgang unwillkürlich in ihm aufsteigender Begierden zu übernehmen hat.