§. 43.
Entstehung und Formen der Seelenstörungen.

498. Drei Ansichten scheinen sich im Allgemeinen über die Pathogenese der psychischen Krankheiten darzubieten. Man könnte zuerst an eine Veränderung in der Substanz der Seele und ihren primitiven Fähigkeiten denken. Wüßte indessen diese Ansicht auch jedes metaphysische Bedenken zu beseitigen, so würde sie doch stets nur den Wert einer ganz allgemeinen theoretischen Formel, aber keine Anwendbarkeit für die wirkliche Erklärung der Erscheinungen besitzen. Denn weder die ursprüngliche Natur der Seele noch ihre mutmaßlichen Veränderungen würden wir in einen kurzen und bestimmten Ausdruck fassen können, der uns eine Einsicht in die Entstehung ihrer krankhaft umgestalteten Äußerungen gestattete. Eine zweite Ansicht würde Natur und elementare Fähigkeiten der Seele für unverändert halten, aber eine unglückliche Führung des geistigen Lebens habe die verschiedenen Ausübungen der letztern und ihre Produkte in so ungünstigen Kombinationen verwickelt, dass sie nicht nur einander selbst widerstreben, sondern auch die Möglichkeit einer weiteren unbefangenen und vernünftigen Anwendung jener Fähigkeiten aufheben. Eine dritte Ansicht würde diese Definition des Tatbestandes geistiger Krankheit vielleicht mit der zweiten teilen, aber sie würde die Behauptung hinzufügen, dass jene unglückliche Verirrung der geistigen Tätigkeiten überall nur die Folge einer Störung körperlicher Organe und ihrer Verrichtungen sei, mögen diese nun unmittelbar in materialistischer Weise als erzeugende Ursachen der psychischen Vermögen, oder nur als mithelfende aber unentbehrliche Bedingungen ihrer Ausübung gelten.

499. Es kann nicht zweifelhaft sein, in welcher Weise unsere stets festgehaltenen Grundsätze uns eine Verschmelzung der letzten beiden Ansichten gestatten und gebieten. Wie sehr die Äußerung der geistigen Fähigkeiten von körperlichen Bedingungen abhängt, wissen wir, und geben deshalb bereitwillig zu, dass in sehr großer Ausdehnung somatische Leiden die Ausgangspunkte psychischer sind. Dies freilich würden wir nicht zugestehen können, dass überall die Störung einer körperlichen Funktion die erste, vom geistigen Leben selbst unabhängige Ursache seiner spätern Verwirrung sei; vielmehr sind unleugbar intellektuelle Erschütterungen im Stande, den ersten Keim zu einer Zerrüttung der Seele zu legen. Dennoch machen wir jener prinzipiell zu bestreitenden Ansicht ein wichtiges Zugeständnis. Die Elastizität des Seelenlebens ist so groß, dass auch der heftigste Sturm der Gemütsbewegungen und akuter Störung, sich in ihm vielleicht wieder beruhigen würde, wenn es sich selbst überlassen bleiben könnte. Aber indem seine Schwankungen auf die körperlichen Substrate zurückwirken, erzeugen sie in diesen sekundäre Veränderungen, die nicht überall mit gleicher Leichtigkeit überwunden werden, sondern oft unheilbar nachdauernd die unterhaltenden Ursachen psychischer Krankheit bilden. Geht aus dem plötzlichen Anfalle eines überwältigenden Affektes Wahnsinn hervor, so dürfte dieser wenigstens nicht notwendig von den inneren Veränderungen der Seele allein, sondern ebenso möglich und wahrscheinlicher von dem Übermaß körperlicher Erregung herrühren, das, den Affekt begleitend, einzelne Funktionen der Zentralorgane unheilbar überreizte. In dieser Meinung glaube ich mit Jacobi zusammenzutreffen, wenn ich seine Worte recht deute, nach denen ein leidenschaftlicher und sündhafter Zustand nur dann zur Seelenstörung wird, wenn er vorher ein anthropologisch krankhafter geworden ist. Ob der Moment dieses Überganges geistiger Verkehrtheit in physiologisch krankhafte Seelenzustände überall für den Kundigen bemerklich sei, wage ich zu bezweifeln. Denn an sich ist jene Hypothese, der wir hier beipflichten, doch nicht mehr als Hypothese; suchen wir sie aber durch die allgemeinere Vermutung einer beständigen Rückwirkung der psychischen Zustände auf die Zentralorgane zu stützen, so wird es dadurch nur um so weniger wahrscheinlich, dass der Beginn einer krankhaften Ausartung dieser Wechselwirkung sich als ein scharf beobachtbarer Abschnitt in der Entwicklung der ganzen Störung darstellen werde. (Jacobi, die Hauptformen der Seelenstörung. I. S. 522.)

500. Ohne Sympathien für systematische Klassifikationen, versuchen wir auch hier eine solche nicht. Die geistigen Krankheiten so wenig als die körperlichen, sind feststehenden Gattungstypen der Tierwelt vergleichbar, und nicht das unendlich mannigfache Detail der Krankheitsbilder, zu deren Gestaltung unzählige zufällige Umstände mitwirken, verdient eine Klassifikation, sondern nur die allgemeinen Wege ihrer Entstehung erfordern eine zusammenstellende Übersicht. Kehren wir nun zuerst, die intellektuellen Ursprünge der psychischen Krankheiten verfolgend, zu jenem Reichtume harmonischer Bildung zurück, welchen wir als das Ideal menschlichen Geisteslebens zu betrachten hatten, so zeigen sich zwei allgemeine Wege der Abirrung von ihm, deren kurze Andeutung wir dem Folgenden vorausschicken müssen; wir meinen die Verengung des Bewußtseins und seine Zerstreuung.

501. Einseitige Erziehung, die niedere Kulturstufe eines Volkes, die Versunkenheit eines Zeitalters und die herrschenden Formen seines Aberglaubens, die Spezialität eines gewählten Berufes oder die Monotonie einer Beschäftigung, die beständig nur einen unendlich kleinen Abschnitt menschlicher Interessen berührt, endlich die enge Umgrenzung der äußerlichen Lebensverhältnisse sind ebenso viele Ursachen, welche das Bewußtsein auf geringen Inhalt beschränken und das Gemüt für viele wesentliche Seiten des menschlichen Berufes abstumpfen. Der Kreis der Vorstellungen, welche den Vorrat der allgemeinen Beurteilungsgründe der Welt und des Lebens bilden sollen, verengt sich, und die oft so widerliche Gewohnheit, die verschiedenartigsten Gegenstände in der Terminologie eines angelernten Handwerks oder einer Fachwissenschaft zu betrachten, zeigt uns, wie einseitige und oft wie rohe Gesichtspunkte eine so verkümmerte Intelligenz beherrschen. Mit der Verkleinerung des Gebietes, in dem der Geist sich bewegt, nimmt zugleich die Möglichkeit der Entsagung ab, und Gefühle wie Bestrebungen erscheinen um so hartnäckiger an einzelne Objekte gefesselt, je geringer Empfänglichkeit und Verständnis für die übrige Welt sind. Diesem Bilde einer einseitigen Verengung des geistigen Lebens steht sehr abweichend das andere seiner Zerstreuung gegenüber. Inkonsequente Erziehung in Entwicklungsperioden, die den geistigen Kräften Ihre Richtung zu geben bestimmt sind, abgebrochene Studien, häufiger Übergang von einem Berufe zum andern, gesellige Verhältnisse, die zu frühzeitig die widerstreitende Vielseitigkeit menschlicher Interessen und Ansichten kennen lehren, neben diesem geistigen Nomadisieren endlich selbst die Unstetigkeit äußerlichen Verweilens mit ihrer prinziplosen Mannigfaltigkeit der Eindrücke: das Alles sind Ursachen, welche diese Zerstreuung des geistigen Lebens herbeiführen. Eine Überfülle halb aufgefaßter Gesichtspunkte lehrt alle Verhältnisse sophistisch mannigfach beurteilen und steigert die Gleichgültigkeit der Gefühle und die Unstetigkeit der Strebungen, die für keinen bestimmten Kreis von Objekten und Zielen ein dauerndes und tiefes Interesse besitzen, und während die Verengung des Bewußtseins zu einer hartnäckigen aber armen Persönlichkeit führte, geht in seiner blasierten Zerstreuung das Selbstgefühl in Zerfahrenheit unter. Berücksichtigt man die Verschiedenheit angeborner Temperamente, die sich alle in jeder von beiden Richtungen geistiger Verbildung geltend machen können, so sieht man eine Fülle eigentümlicher Kombinationen vor sich, welche die Mannigfaltigkeit menschlicher Entwicklungen ziemlich zu erschöpfen scheinen. Alle diese Zustände indes, obgleich keineswegs so harmlos, dass nicht die Erörterung der Zurechnungsfähigkeit auf sie als mitbedingende Ursachen verbrecherischer Handlungen Rücksicht zu nehmen hätte, rechnen wir doch noch nicht zu dem Gebiete der eigentlichen Seelenstörungen. So lange die äußern Umstände des Lebens sich diesen verkehrten oder einseitigen Charakteren fügen, benehmen sie sich alle noch mit einer gewissen Unbefangenheit und einem erträglichen Gleichgewicht ihrer innern Zustände, und selbst wo ein unerwarteter Widerstand sie plötzlich in haltlose Schwankung versetzt, scheinen doch auch dann noch die außerordentlichen Erschütterungen des Gemüts, die hier erfolgen können, eines letzten besonderen Anstoßes zu bedürfen, um in volle Seelenstörung auszubrechen.

502. Diesen letzten Anstoß nun suchen wir in Veränderungen des Nervensystems, welche jene geistigen Erschütterungen entweder schon vorfinden, oder rückwirkend erzeugen. Weder anatomisch noch physiologisch läßt sich ihre Natur bis jetzt angeben, denn wie mannigfaltige Destruktionen auch die Sektionen Geisteskranker in den Zentralorganen nachgewiesen haben, so wenig läßt sich doch die Art ihrer Wirksamkeit zur Begründung der Seelenstörung im Einzelnen erklären. Aber ein Mittelglied glauben wir doch bestimmt anführen zu können, durch welches hindurch jede körperliche Krankheit ihren Einfluß zur Erzeugung einer psychischen äußert. So lange es sich nicht um eine Unterdrückung der Seelentätigkeiten überhaupt, sondern um eine Abänderung des fortdauernden Verlaufs ihrer Äußerungen handelt, können wir jenes Mittelglied nur in einer allgemeinen Verstimmung der Gefühle finden, die ebenso leicht unmittelbar von körperlicher Veränderung der Zentralorgane und ihrer Tätigkeit erregt wird, als sie aus intellektuellen Ursachen entstanden auf diese zurückwirkt und in ihnen einen Zustand eigentümlich veränderter Erregung unterhält. Dem üblichen Namen der Geisteskrankheiten würden wir daher geneigt sein den nicht minder üblichen der Gemütskrankheiten überall zu substituieren; Alles, was im Verlaufe einer Seelenstörung sich an Verkehrtheiten der Intelligenz oder der Strebungen vorfindet, das ist teils nur Ausfluß einer Rückwirkung, welche das veränderte Gemeingefühl auf Gedanken und Triebe ausübt, teils würde es wenigstens für sich allein nicht die tiefe Zerrüttung erzeugen, die wir mit dem Namen der psychischen Krankheit meinen. Ginge die Störung der Intelligenz unmittelbar von einem Leiden der ihrem Dienste gewidmeten Organe hervor, so müßten die Tiere den psychischen Krankheiten nicht minder als die Menschen ausgesetzt sein. Vielleicht kommen nun in der Tat auch bei ihnen Seelenstörungen vor, die uns entgehen; der positive Inhalt unserer Erfahrung spricht jedoch dafür, dass eine außerordentliche und leidenschaftliche Höhe organisch bedingter Triebe und Affekte zwar auch bei ihnen möglich ist, dass dagegen etwas der geistigen Verwirrung Ähnliches sich nur selten, und nur bei Tieren höherer Klassen findet, deren Gefühlsreichtum und Gelehrigkeit ihnen mannigfaltige Stimmungen und Lebensgefühle möglich zu machen scheint. Sollen die unsinnigen und wütenden Handlungen Geisteskranker nicht nur Krämpfe sein, so müssen sie von einem Gefühlswert ausgehen, den ein verstimmtes Gemüt unpassend auf ihre Ausübung legt; sollen Wahnvorstellungen, welches auch die erste Veranlassung ihrer Entstehung gewesen sein mag, nicht nur Irrtümer des Wissens sein, so muß auch ihrer das Gemüt sich bemächtigt, und mit verkehrter Wertverteilung, ihrem Inhalte eine überwiegende Wichtigkeit für das eigne persönliche Bewußtsein beigelegt haben. Es gibt einige Formen psychischer Störung, in denen dasselbe Gemeingefühl, dessen erregtere und verschobene Stimmung uns bei dem eben Geäußerten vorschwebte, vielmehr unter die normale Größe der Reizbarkeit und Lebendigkeit gesunken ist, wir meinen den Blödsinn und die apathische, geschwätzige Narrheit, der kein Zeichen eines erheblichen Interesses für irgend einen Gegenstand abzugewinnen ist. Als Nullgrade des psychischen Gemeingefühls oder des Gemütes, was sie jedoch niemals vollkommen sind, gehören sie unter unsern Gesichtspunkt und bestätigen ihn. Die geschwätzige Narrheit zeigt uns annähernd, wie ein Vorstellungsverlauf beschaffen sein würde, der zwar völlig nach mechanischen Gesetzen der Assoziation und Reproduktion erfolgte, aber ohne zugleich von der Mitwirkung des Gemüts abzuhängen, dessen Einfluß, ebenfalls in seinen Äußerungen mechanisch faßbar, den einzelnen Vorstellungen sehr verschiedene Werte erteilt, und den Gedankenlauf bald fesselt, bald zu beschleunigter Bewegung antreibt. Könnten wir diese Narrheit eine Analgie des Gemütes bei lebhaft erregtem Vorstellungslaufe nennen, so ist der Blödsinn derselbe Gemütsmangel, verbunden jedoch mit einer Reizlosigkeit der Zentralorgane, die den Wechsel der Gedanken verlangsamt. Welche Störungen nun auch einem so gemütlosen Vorstellungsverlaufe widerführen, sie würden immer den Charakter harmloser Irrtümer haben. Denn hier, wo keine andern Gewalten auf den Wechsel der Gedanken einwirken, würden sie entweder aus einer ganz gesetzlichen Reproduktion von Eindrücken entstehen, die zufällig eine frühere Wahrnehmung, dem Sinne ihres Inhalts widerstreitend, assoziiert hat; oder es fehlte dem Gedankenlauf an lebhafter Reproduktion anderer Erfahrungen, welche dem einzelnen Irrtum ein Gegengewicht leisteten, oder endlich körperliche Impulse führten in dem Bewußtsein zwei Vorstellungen zusammen, deren Inhalt durch nichts objektiv zusammengehört. Aber alle diese Fälle gehören auch dem gesunden Leben des Geistes zu; und sie würden die eigentlichen Störungen auf keine strenge Weise von den Zuständen der Beschränktheit und der Vorbildung scheiden.

503. Wir müssen nun versuchen, unsere Ansicht etwas in das Einzelne zu verfolgen und sehr nahe liegende Einwürfe abzuwehren. Wenn wir von Verstimmungen der Gefühle als dem Mittelpunkte der psychischen Krankheiten sprachen, so meinten wir damit ausdrücklich nicht die intellektuellen Stimmungen allein, die entsprungen aus Schicksalen des Lebens oder aus der Betrachtung seiner Eindrücke, die Seele ergreifen, sondern wir verstanden unter ihnen zugleich die Abänderungen des körperlichen Gemeingefühls, die mit jenen das Ganze des Gemüts zusammensetzen und auf Form und Inhalt des Gedankenlaufes von nicht geringerem Einflusse sind. Krankheiten des Nervensystems, deren rein somatischen Ursprung Niemand bezweifelt, geben uns ausreichende Beispiele der Gewalt, mit der die Größe und Eigentümlichkeit nervöser Erregung auf das Gemüt zurückwirkt. Zustände unbestimmter Angst und Beklemmung bemächtigen sich häufig der Seele in Augenblicken, in welchen die ganze Lage des Lebens durchaus befriedigend scheint; sie steigern sich zu peinlicher Rastlosigkeit, die in keinem Gedankenkreise, keiner Beschäftigung Ruhe findet; jeder kleinste Eindruck belastet die Seele mit unverhältnismäßigem Gewicht und ruft Befürchtungen bald unbestimmter Art hervor, bald erlangen die ausschweifendsten Erwartungen des Unwahrscheinlichsten eine drohende Wahrscheinlichkeit für uns; einzelne Vorstellungen, einmal hervorgerufen, haften mit ungewöhnlicher Zähigkeit in dem Bewußtsein und wohin wir uns wenden, führt die Erinnerung sie uns zurück. Die Schilderung abscheulicher Verbrechen erweckt auch dem Gesunden jenen widrigen Nachhall der Stimmung, in dem wir unser eignes Wesen durch die Vorstellung fremder Greuel vergiftet fühlen, deren sich wiederaufdrängende Erinnerung nur durch ausdrückliche Anstrengung des Gedankenganges beseitigt wird; dem Kranken gestalten sich selbst gleichgütigere Vorstellungsreihen zu unablässiger Anfüllung des Bewußtseins um; wissenschaftliche Probleme, gehörte Melodien, lang gehegte Lieblingspläne bilden sich zu beunruhigenden Alles überwuchernden Gedanken aus. Nicht immer hat die Verstimmung des Gemeingefühls diesen Charakter melancholischer Aufregung; ungewöhnliche Zustände der Heiterkeit zeigen sich ebenfalls, und ihren krankhaften Charakter kennt schon der Volksglaube, der sie als Vorbedeutung nahenden Unglückes ansieht; in andern Fällen tritt eine Apathie des Gemüts ein, die uns alle Lebhaftigkeit der Farben verblassen läßt, mit denen uns sonst die verschiedenen Werte der Verhältnisse in der Welt entgegentreten; Stimmungen des Indifferentismus überkommen uns, in denen überhaupt jeder Ernst, alle der Mühe würdigen Ziele in der Welt zu fehlen, alle ethischen Gesichtspunkte nur relative Geltung neben andern zu haben scheinen. Die wechselnde Empfänglichkeit, die wir den Ereignissen des Lebens wie den Produktionen der Kunst entgegenbringen, zeigt uns diese weitgreifende Verschiebung des Gemüts, durch die ohne Zweifel der wesentliche Gewinn unserer Intelligenz außerordentlich verändert wird, obgleich die allgemeinen Formen, nach denen sie in der Auffassung und Kombination der Eindrücke verfährt, dieselben geblieben sind. Auch auf Strebungen und Triebe äußert diese Verstimmung lebhafte Einflüsse, deren erste Analogien schon das geistig noch vollkommen gesunde und körperlich kaum bemerklich gestörte Leben zeigt. Zu ihnen gehört die Neigung der Jugend zu oft gewaltsamen Neckereien; wer hätte ferner nicht zuweilen, mit einem Freunde am Abhange eines Grabens dahingehend, eine Anwandlung verspürt, ihn in aller Güte hinabzustoßen? Die krankhafte Reizbarkeit der Zentralorgane läßt diese Triebe zu ungewöhnlicher Höhe steigen; man kann nicht sagen, dass eine blinde Gewalt die Seele zu ihrer Befriedigung dränge, vielmehr entsteht mit ihrem Anwachsen die Angst vor der unwillkürlichen Ausübung der Handlungen, die doch eine momentane kritische Beruhigung der psychischen Aufregung herbeiführen würde. Schon die Versagung gewohnter Genüsse, z. B. des Rauchens, verursacht uns innere Unruhe; es fehlen allerhand undefinierbare Elemente in unserm Gemeingefühl, die der gleichförmigen Ausübung unserer Tätigkeiten notwendig oder förderlich sein würden. Krankhafte Erregung läßt nicht nur Gewohntes vermissen, sondern selbst neu auftauchende Vorstellungen wandeln sich schnell zu Gelüsten um, deren Nichtbefriedigung eine quälende Unruhe unterhält. Lange haben wir vielleicht im Finstern verweilt, ohne davon zu leiden; ist aber einmal die Erinnerung an das unheimliche des Dunkels entstanden, so steigert sie sich rasch zur größten Beunruhigung, und ein Lichthunger bemächtigt sich der Seele, an Unabweisbarkeit dem Bedürfnis der Respiration vergleichbar. An Hysterischen, Hypochondrischen, Schwangern sind alle diese gefährlichen Verstimmungen des physischen und psychischen Gemeingefühls oft zu beobachten, und ohne die Frage nach der Zurechnung hier zu berühren, müssen wir doch zugeben, dass in allen diesen Fällen somatische Dispositionen vorhanden sind, welche der Lenkung des Willens erheblich größere Widerstände als im gesunden Leben entgegenstellen.

504. Auch fehlt es nicht an anderweitigen Symptomen, welche den Zusammenhang dieser geistigen Verstimmungen mit Störungen leiblicher Funktionen bezeugen. Als eines der häufigsten Anzeichen gelht den Exaltationsformen der Seelenstörungen anhaltender Schlafmangel und Rastlosigkeit während des Wachens voraus; periodische Kongestionen befallen das Gehirn, während unter Herzklopfen Hände und Füße erkalten; häufige Kopfschmerzen, Gefühle von Aura einzelne Muskelzuckungen, bei anderer körperlicher Disposition Krämpfe und Ohnmachten stellen sich ein; die Verdauung und Ernährung leidet nicht selten, Neigungen zu gewohnten Genüssen ändern sich; bald entsteht allgemeine Hyperästhesie der Sinnesnerven, bald wechselnde und ungleiche Empfindlichkeit gegen einzelne Eindrücke. Ungewohnte Stille und Apathie eines sonst lebhaften Charakters, lautes Benehmen eines ruhigen, auffallender Wechsel der Gesinnungen zeigen in dem ganzen Betragen des Kranken die Nachwirkung der inneren Verstimmung. Diese Symptome treten nicht allein da auf, wo ursprünglich körperliche Leiden allmählich die geistige Störung herbeiführen; auch Intellektuelle Veranlassungen, unablässige Anstrengung der Erkenntnis, beständige Sorge und wachgehaltene Leidenschaften lassen neben der geistigen Verstimmung dieselben Symptome der Rückwirkung auf den Körper bemerkbar werden.

505. Die Formen, welche der weitere Fortschritt des Leidens annimmt, sind unberechenbar verschieden je nach den äußern Einflüssen, deren Einwirkung das geistige Leben in viel höherem Maße als das körperliche umgestaltet. Bald beschränkt sich die Krankheit auf diese Verstimmung des Gefühls und behält die Form einer einfachen Gemütsstörung, bald gruppieren sich um diesen erzeugenden Mittelpunkt lebhaftere Rückwirkungen auf den Vorstellungslauf, und die Krankheit erscheint als Verstandesstörung, ohne doch je von dieser Wurzel eines veränderten Gefühlszustandes sich abzulösen, bald sind es Verwirrungen der Strebungen und Triebe, die in ihrer Gewaltsamkeit oder Seltsamkeit hervortretend, die ihnen zu Grunde liegende Trübung des Gemütes übersehen lassen. Häufig scheint es endlich, als wenn, unabhängig von aller Verschiebung des ganzen, nur einzelne Seiten des psychischen Lebens für sich allein gestört wären, Zufälle, deren gewiß unrichtig aufgefaßte Pathogenese zu verhängnisvollen Irrtümern der therapeutischen Praxis und der gerichtlichen Beurteilung führen kann. Versuchen wir nun, aus unserer Voraussetzung die Reihe dieser Zustände abzuleiten, die bald als einzelne Symptome zusammengesetzterer Störungen, bald für sich als der ganze Inhalt einer geistigen Krankheit auftreten, so werden wir formell eine Exaltation, eine spezifische Verschiebung und eine Depression der Gefühlstätigkeiten unterscheiden dürfen und jede dieser Störungen wird sich überwiegend bald in dem Gebiete der Intelligenz, bald in dem des Gemüts, bald in einer Verkehrtheit der Strebungen äußern.

506. Der gewöhnliche Bausch, die Erstwirkungen mancher narkotischen Gifte, die Affekte geben uns Analogien jener Exaltation des Gemütes, die in ihren höheren Graden sich zu dem Krankheitsbilde der Phrenesis steigert. Körperliche und geistige Überraschungen können ihr plötzliches Hervortreten verursachen, sehr häufig kündigt sie sich jedoch durch allmählich wachsende Vorboten an. Ungleichförmigkeit und Leichtbeweglichkeit der Gemütsstimmung, die durch komische und traurige Ereignisse bis zum Krampfhaften lachend und weinend erschüttert wird, Zerstreutheit und Versunkenheit in sich selbst, ein inneres Lauschen auf die unklaren bedrückenden Schwankungen des Gemüts, Unruhe und Hast der Bewegungen gehen der Ausbildung des Übels voran. Mit unangemessener Feierlichkeit und nutzlosem Tiefsinn werden Kleinigkeiten der geringfügigsten Art behandelt, während die ernstesten Ereignisse kaum einige Teilnahme erwecken, Erscheinungen, welche an die erzwungene Geschäftigkeit erinnern, mit der wir einer inneren Beunruhigung zu entgehen suchen, oder an die Handlungen der Verlegenheit, die oft einen gesteigerten Scharfsinn für die Wahrnehmung von Verhältnissen verraten, welche uns im Augenblick doch nicht im Mindesten interessieren. Mit dieser Stimmung des Gemütes, die weniger eine konkrete Färbung, als vielmehr den formellen Charakter der Unruhe besitzt, und nur als solche im Allgemeinen den Gefühlen der Unlust zuzurechnen ist, verbindet sich nun jene Erregbarkeit des Gedankenlaufs, deren wir schon früher mehrmals als einer Folge körperlicher Zustände gedenken mußten. Eine große Mannigfaltigkeit der Vorstellungen drängt sich im Bewußtsein, jede lebhaft aufgefaßt, zuweilen zu Visionen gesteigert, von kräftigen Gefühlen begleitet, deren Wirkung indessen die allgemeine Unruhe vereitelt. So bildet sich kein zusammenhängender Gedankengang, sondern ein geschwätziges Hin- und Herreden oft über sehr mannigfachen Inhalt; den äußern Wahrnehmungen wird wenig Interesse zugewandt, sie werden höchstens als neue Anknüpfungspunkte für abschweifende Gedankenreihen benutzt und in die exaltierten Reden verflochten. Jener Hang zum Pathetischen, Rhythmischen, Theatralischen, den wir früher bereits als die einzige Steigerung geistiger Funktionen durch körperliche Leiden erwähnten, macht sich auch hier geltend, und ohne notwendig mit heftigeren Trieben verbunden zu sein, als aus dem Bestreben nach Ausdruck der inneren Zustände folgen, verläuft die Phrenesis in beständiger Flucht der Gedanken, heftigen Gebärden, verkehrter Auffassung des Wichtigen und Unwichtigen. Sie gleicht hierin den Affekten, in denen auch ein sonst gesundes Gemüt einseitige Gesichtspunkte in der Beurteilung der Verhältnisse oft mit einer treffenderen Phantasie als sonst, und ungestört durch die berichtigende Überlegung der übrigen Welt, bis in ihre unwahrscheinlichsten Extreme verfolgt. Körperliche Zufälle, am häufigsten die der Gehirnkongestionen, begleiten diese Form der psychischen Störung am deutlichsten.

507. Die Lebhaftigkeit der Äußerungen, die der Phrenesis eigentümlich ist, verdeckt einigermaßen den Gefühlszustand, der ihr zu Grunde liegt, der aber doch häufig in einem Ausdrucke der Angst und der Schreckhaftigkeit hervortritt. Eine größere Konzentration der Erregung auf dem Boden des Gemüts tritt in der Melancholie ein, die wir uns hüten müssen, zu den Depressionsformen der Seelenstörungen zu zählen. Allerdings erscheint der ruhige Trübsinn, da der Inhalt seiner Stimmung ihm keine Aufforderung zu äußerm Handeln gibt, ja selbst die Elastizität und Größe der Beweglichkeit schmälert, als eine Abspannung des ganzen geistigen Lebens, aber doch mit demselben Unrecht, mit welchem man den stürmischen Puls der Entzündung sonst für ein Zeichen gesteigerter Lebenskraft ansah. Jene Fähigkeit der Seele, den Gefühlswert der wahrgenommenen Verhältnisse oder in der Erinnerung wiederauftauchender Ereignisse aufzufinden, hat hier vielmehr eine große und gefährliche Steigerung erfahren, die nicht minder Exaltation bleibt, wenn gleich ihre Rückwirkung in den meisten Fällen die Mannigfaltigkeit äußerer Strebungen unterdrückt. Auch der Gedankenlauf des Melancholischen hat seinen Reichtum und seine Raschheit; aber anstatt wie bei dem Phrenetischen sich durch eine Mannigfaltigkeit entlegener Vorstellungen zu bewegen, kehrt er hier vielmehr mit großer Geschwindigkeit von jeder Ablenkung zu dem Inhalte der traurigen Stimmung zurück; große Abwechslung der Vorstellungen kann auch hier stattfinden, aber jede wird nur einseitig betrachtet und aus ihr hervorgehoben, was zu dem quälenden Traume des Gemüts paßt, während alle andern Bestandteile der Erfahrung ungeordnet und zerstreut in geringeren Höhen durch das Bewußtsein ziehen. Nicht minder groß kann die Mannigfaltigkeit beginnender Strebungen sein, aber jede wird im Keime durch die Übermacht des Gefühls erstickt, das ihre allgemeine Vergeblichkeit hervorhebt; und so bricht diese Stimmung nur zuweilen als Melancholia errabunda in plötzliche Bewegungen der Verzweiflung aus. Auch hier sind die körperlichen Funktionen meist in Unordnung, aber ihre Störungen tragen das passivere Gepräge langdauernder Nervenkrankheiten.

508. Sowohl Phrenesis als Melancholie sieht man nicht selten in eine dritte Form übergehn oder mit ihr vermischt auftreten, die wir mit dem Namen der Manie oder Tobsucht bezeichnen. Auch sie ist nichts, als eine etwas veränderte Ausdrucksweise der inneren Unruhe, welche die exaltierte Stimmung des Gemüts begleitet. Wie die Erregung sensibler Nerven sich oft durch Übertragung des Reizes an motorische besänftigt, wie wir heftige körperliche Schmerzen durch willkürlich verstärkte Kontraktionen von Muskeln zu mildern suchen, wie endlich intellektuelle Erschütterungen des Gemüts im höchsten Affekte sich durch zwecklose Heftigkeit der Gebärden, durch zerstörende Triebe äußern, die wir ohne vernünftiges Ziel gegen die Außenwelt wenden; das alles sind bekannte Ereignisse, und ihrem letzten und ausgebildetsten Extrem begegnen wir in der Form der Manie. Die Tobsucht geht nicht überall, vielmehr seltner aus einer bestimmten Gedankenreihe hervor, welche ihre Raserei motivieren könnte; in den meisten Fällen scheint das Gemüt sich nahe an jenem Zustande stockenden Bewußtseins zu befinden, welcher die Höhe des Affekts bezeichnet. Eine Überfülle heftig angeregter Vorstellungen strömt zusammen, so einander störend, das nur ihr Totaleffekt, die Erschütterung des Gemüts übrig bleibt, um sich in gewaltsamen Bewegungen und überspanntester Anstrengung der Muskelkräfte zu erschöpfen. Die körperlichen Symptome, welche diese Form der Störung begleiten, sind sehr ausgesprochen und gleichen denen der Hirnentzündung, in deren Gefolge Delirium mit dem Charakter der Tobsucht natürlich ist. Auch die häufige Erscheinung, dass die Kranken die Annäherung eines Anfalls fühlen, ihm ängstlich entgegensehen und Andere vor sich warnen, zeigt die bedeutende Beteiligung des Körperleidens an der Hervorbringung der Gemütsstörung, von welcher die Raserei, die nirgends ein bloß krampfhaftes Zucken ist, notwendig abgeleitet werden muß.

509. Sehr selten und meist nur da, wo schnell anwachsende somatische Krankheiten oder plötzliche Affekte ihre Ursache sind, kommen die geschilderten Zustände in der Reinheit vor, in welcher wir sie hier als formelle Unruhe des Gemüts darstellten. Wo sie von intellektuellen Störungen oder von langsam sich ausbildenden Körperkrankheiten ausgehn, pflegt das geistige Leben nicht nur im Ganzen erschüttert zu werden, sondern die spezifische Natur der Ursachen übt auch auf die Richtung der entstehenden Verwirrungen ihren Einfluß aus. Auf diese Weise entstehen jene Formen, die man als partielle Seelenstörungen betrachtet hat, sowie die allgemeine Vesania, in der ohne besondere Aufregung die geistigen Tätigkeiten sämtlich einen verkehrten Lauf genommen zu haben scheinen. Die einfachsten Fälle bilden auf diesem Gebiete jene Monomanien, die Nichts als krankhafte Steigerungen einzelner körperlicher Triebe sind, wie die Erotomanie davon das bekannteste Beispiel gibt, an welches sich die Hungerwut z. B. der Schiffbrüchigen, die Tanzwut mancher epidemischen Exaltationskrankheiten anschließt. Manche andere Triebe Geisteskranker, ihre Neigung zum Wasser, die sehr häufige zur Grausamkeit gegen sich und Andere mögen mittelbar auf somatischen Antrieben beruhen, jene vielleicht auf congestiven Hitzegefühlen und einer veränderten Sensibilität der Haut, diese auf der Befriedigung, welche einem alterierten Nervensystem aus eignen Schmerzen oder der Vorstellung fremder ebenso erwächst, wie auch natürliche Wollustgefühle durch eine Erregung wirken, die stets an der Grenze der Schmerzen steht. Diese körperlich bedingten Triebe sehen wir bald so zum Affekt anwachsen, dass sie alles übrige Bewußtsein, wie in den Anfällen der Nymphomanie fast völlig verdrängen; in andern Fällen besteht neben ihnen ein mehr oder minder ruhiges Bewußtsein fort und die Kranken begreifen die Verkehrtheit ihrer Triebe ebensowohl als der Gesunde die Unstatthaftigkeit einzelner Regungen, die bei ihm nicht genug anwachsen, um allen übrigen Gedankenlauf zu verzehren. Andere Monomanien lassen weniger deutlich ihre körperliche Begründung hervortreten, und in vielen beruht wohl in der Tat der Gedankenkreis, der dem Triebe seine Richtung gibt, auf den Verwicklungen des Vorstellungslebens, zu welchen der Körper nur die begünstigende Mitbedingung einer gesteigerten nervösen Erregbarkeit hinzubringt. Einzelne bizarre Ideen, Sonderbarkeiten in der Form des Benehmens zeigt schon das gewöhnliche Leben genug; die sinnlose Gewöhnung, überall ironisch zu sprechen, die Salbungsmonomanie der Pädagogen, die Sucht der Geheimtuerei, die Befriedigung, die manche entschieden in der Entwicklung unnötiger Listen und Winkelzüge finden, die Gewohnheit verstohlener Näscherei, sind ebenso viele allgemeine Dispositionen, aus denen unter dem Hinzutritte jener nervösen Verstimmung, die jede gleichgültige Vorstellung schnell zum Gelüst anwachsen läßt, die mannigfachsten spezifischen Richtungen der Triebe hervorgehen können. Stehltrieb und der Trieb zum Feueranlegen sind nur wegen ihrer kriminalistischen Bedeutsamkeit einseitig aus dieser Menge hervorgehoben worden.

510. Wer in den Monomanien neue zwingende Instinkte sieht, die über den gewöhnlichen Etat der Geistesvermögen hier noch hinzukommen, oder wer sie von den leidenschaftlichen Neigungen des gesunden Zustandes dadurch zu trennen sucht, dass er meint, die Feder des Willens, die dort nur aufs Äußerste gedehnt war, sei hier gänzlich zersprungen: der wird sich in ihrer Betrachtung schwerlich orientieren. Jedes Streben verlangt Objekte und ist insofern abhängig von dem Gedankenlauf, der ihm die Vorstellungen derselben zuführt, und von dem augenblicklichen Zustände der Gefühle, welcher die Wertbestimmungen zwar nicht allein, da ihm die Erinnerung an früher anerkannte Werte der Handlungen entgegensteht, aber doch zu sehr überwiegendem Teile mitbestimmt. Wo der Gedankenlauf einseitig nur gewisse Vorstellungen reproduziert, und diese ebenso einseitig von einer verkehrten Intensität der Gefühle begleitet werden, liegt eine Vermehrung aller Motive vor, welche das Streben nach einer bestimmten Richtung ziehen, und eine Verminderung aller, die es nach anderer bewegen würden. Nichts Anderes können wir daher in der Monomanie sehen als eine einseitige Anregung des Strebens, nicht aber eine partielle Störung eines Willensvermögens. Die gleiche Ansicht müssen wir auch über die Monomorien, die fixen Ideen, fassen. Der Name einer partiellen Verstandesstörung muß auch hier vermieden werden; nicht die ursprüngliche Auffassungskraft ist verändert, sondern einzelne Wahrnehmungen, die ihr als Hypomochlien oder Ausgangspunkte zur Erlangung anderer dienen. Wir sehen im Blödsinn zwar alles Denken gänzlich zu Grunde gehn, aber nie finden wir im Wahnsinn, dass es andere allgemeine Formen annimmt, als die gesunden Gesetze der Logik verstatteten; der Irre schließt in denselben Syllogismen, spricht in denselben Urteilsformen, wie der Gesunde, aber er ordnet auf das Verkehrteste unter, indem ihm sein gestörter Gedankenlauf Vorstellungen assoziiert, die nicht durch ihren Inhalt, sondern durch eine gemeinschaftliche verborgene Beziehung zu dem krankhaften Zustande seines Gemütes unter einander verbunden sind. Würde dem Gesunden eine völlig zusammenhanglose Welt äußerer Objekte vorgeführt, so könnte der bewußte Ausdruck seiner normalen Perzeption derselben nur eine wahnsinnige Folge von Gedanken sein; für den Wahnsinnigen übernehmen die inneren körperlichen Erregungen, denen er beständig unterliegt, eine solche Verwirrung der äußern Wahrnehmungen durch Anknüpfung und Zwischenwerfen von Vorstellungen und Gefühlen, die nur aus seinem subjektiven Zustand, nicht aus dem Inhalt des Wahrgenommenen erklärlich sind. So leicht sich nun eine unstetige Erregung der Zentralorgane durch beständig wechselnde Impulse denken läßt, der jene versatile, von Wahn zu Wahn fortschweifende, alle äußern Wahrnehmungen schnell in diesen Strudel hineinziehende Form der allgemeinen Vesania entspricht, so leicht lassen sich auch somatische und intellektuelle Bedingungen angeben, die zu einseitigem Wahnsinn, zu Monomorien oder fixen Ideen führen.

511. Von dem größten Einfluß sind hier ohne Zweifel jene vielfachen subjektiven Empfindungen, welche namentlich der Verlauf nervöser Verstimmungen, die von Abdominalleiden abhängen, so häufig herbeiführt. Sie würden an sich vielleicht weniger schädlich wirken, wenn nicht eben diese Krankheiten, von denen sie veranlaßt werden, sie zugleich mit einer ängstlichen und argwöhnischen Aufregung des Gemüts begleiteten. Wir wissen, wie häufig und wie anhaltend Kranke dieser Art mit der Analyse und der mutmaßlichen Erklärung ihrer Empfindungen sich beschäftigen, wie sehr ihnen bald der aufheiternde Einfluß der Zerstreuung fehlt, der jede einseitige Richtung der Vorstellungen ebenso wie die exaltierten Verirrungen der Gefühle berichtigt. So kann es nicht fehlen, dass die subjektive Empfindung aus einer einfachen Gefühlswahrnehmung sich gleich den Traumbildern zu einer anschaulichen verkehrten Idee ausbreitet. Ihren Inhalt bietet häufig die Empfindung selbst dar; oft hören wir von Schwererkrankten, dass sie sich doppelköpfig, oder doppelleibig vorkommen, dass Arme und Beine ihnen fehlen, dass ihr Kopf ins Unendliche sich ausdehnt, ihre Füße durch die Wand des Hauses wachsen, Phantasien, deren direkter Ursprung aus Funktionsstörungen des Gehirns unverkennbar ist. In andern Fällen findet die geschäftige Phantasie bald den formulierten Ausdruck des Wahns; oft hören wir schon Hypochondrische klagen, dass sie ein Tier im Leibe haben dessen Druck, Nagen und Winden sie zu fühlen glauben; auf Strohhalmen statt der Füße zu stehen, von Glas zu sein, eine Urinblase zu besitzen, deren Entleerung die Welt unter Wasser setzen würde, alle diese Einbildungen deuten ihre körperliche Quelle leicht an, und in einzelnen Fällen haben in der Tat die Sektionen die Zusammengehörigkeit der fixen Idee mit bestimmten, ihrem Inhalte entsprechenden Destruktionen der Organe nachgewiesen. Dieser Einfluß physischer Anregungen scheint selbst in jenen im Mittelalter so häufigen Wahnformen der Verwandlung in Tiere sichtbar zu sein, obgleich das verstimmte Gemeingefühl kaum ohne die Anleitung traditionellen Aberglaubens auf die sonderbaren Phantasien vom Wehrwolf und ähnliche gekommen sein dürfte. Einmal auf diese Weise oder durch zufällige Ideenassoziationen entstanden, bilden sich dann diese Monomorien durch denselben Trieb der Nachahmung weiter aus, der auch Gesunde häufig hinreißt, Gesehenes zu wiederholen oder Erinnerungen an geschehene Handlungen plötzlich durch einen andern Ausdruck des Gesichts und veränderte Haltung des Körpers plastisch darzustellen. So ging vielleicht aus einer Verstimmung der sensiblen Hautnerven, unter dem gleichzeitigen Einflusse weit verbreiteter Aussatzkrankheiten und ebenso verbreiteten Aberglaubens der Wahn, ein Wehrwolf zu sein, und aus ihm durch jenen Instinkt der Nachahmung das entsprechende Leben in den Wäldern hervor, ebenso wie jener Engländer, der sich für einen Teekessel hielt, in Folge dessen die Arme unterstemmte, um die Henkel zu bilden, oder wie wir überhaupt jeden Kranken seine Lebensweise der fixen Idee anpassen sehen.

512. Man kennt die Mannigfaltigkeit der subjektiven Empfindungen, welche uns gereizte Zustände des Nervensystems mit peinlicher Überredungskraft zuführen; die Befürchtungen, dass im nächsten Augenblicke der Kopf zerspringen, dass er in zwei Hälften geteilt rechts und links herabfallen, dass das Herz bei dem nächsten Schlage zerreißen werde; die Anfälle von Angst und schwindelnder Unbesinnlichkeit, die subjektiven Bewegungsgefühle, die uns zu entführen scheinen, das momentane Versagen der Glieder, ihre vorübergehende Unempfindlichkeit. Man sieht daher, wie unendlich verschiedene Anlässe zu fixen Ideen körperliche Verstimmungen geben können. Auch jene andern Monomorien, die entweder von intellektuellen Störungen ausgehn, oder an denen diese wenigstens einen bedeutenderen Teil haben, sind noch mannigfach genug, dennoch lassen sie abgesehn von dem Detail, welches Lebensumstände und Erinnerung liefern, einige wenige sehr häufig vorkommende Hauptformen unterscheiden. Sie entstehen alle aus einer Verengung des Bewußtseins, aus einer Versenkung in Phantasien, Grübeleien, Leidenschaften, aus einer allzu nachgiebigen Verfolgung von Stimmungen, deren Ursache immerhin ursprünglich ein körperliches Leiden sein mag. Die romantische Schwärmerei für sentimentale Situationen, die Verliebtheit, die Reue und der melancholische Druck einer Nervenverstimmung führen alle den Kranken dazu, von der frischen und heilen Wahrnehmung der Außenwelt sich zu isolieren, die dem Inhalt seiner Träume nicht entspricht; da es ihm jedoch nie gelingt, diese Absonderung vollständig zu machen, wird er sich beständig in seinen Erwartungen und seinen Äußerungen contraiirt finden; die Berührung mit fremden Beurteilungen scheucht ihn so in sich zurück, dass ein tiefes Mißtrauen, jene argwöhnische Stimmung sich seiner bemächtigt, der wir als einem so außerordentlich häufigen Charakterzüge der Geisteskranken begegnen. Leicht bildet sich hieraus der Wahn, absichtlicher Verfolgung Opfer zu sein, und je zuvorkommender aufgeregte Sinne dem Kranken in ihren Halluzinationen, die im Zunehmen der Störung immer häufiger werden, eine seinen Träumen entsprechende Welt vorspiegeln, um so vollständiger wird seine Trennung von der Wirklichkeit, lebhafter die Vorstellung von seiner eignen verkannten Wichtigkeit, überzeugender der Wahn von Anfeindungen, die sich gegen sein Glück verschwören. So führt die Isolierung zu dem Hochmut, in dem so viele Irren enden, bald als heimliche Könige von imaginären Sklaven bedient, bald als Heilige und Märtyrer von Engelchören umsungen, bald als Schönheiten von unwirklichen Anbetern gefeiert. Nicht immer sind jedoch diese Bilder so heiter. Schwermütigere Verstimmungen der Nerven, nicht minder von krankhafter Konzentration des Bewußtseins in sich selbst begleitet, erwecken die unheimliche Angst der Verlassenheit, des Verworfenseins und der Sündhaftigkeit, Gefühle, aus denen die Tradition des Unterrichts und die Geschäftigkeit der grübelnden Phantasie bald eine bestimmte Form des Wahns entwickelt; Halluzinationen der Sinne gesellen sich hinzu, teils von Haus aus unfreundlicheren Inhalts, da sie von tiefer eingreifenden Leiden des Nervensystems herrühren, teils den Vorstellungen entsprechend, die das verstimmte Gefühl hervorgerufen hat. Zu religiösem Wahnsinn nimmt daher die Geistesverwirrung ebenso oft ihren Verlauf als zum Hochmut, und nicht selten geht das ursprüngliche Gefühl der Verworfenheit bei steigendem Erethismus der Nerven noch ferner in diese lebhaftere Form über; Träume des Auserwähltseins wechseln mit denen der Verdammtheit, beide fast stets von argwöhnischer Angst und oft von wollüstiger Grausamkeit durchzogen.

513. Die Gestalt der Traumwelt, welche die Kranken umgibt, wird ohne Zweifel sehr durch den Inhalt der Sinnestäuschungen bestimmt, denen sie oft in außerordentlichem Maße und in einer Mannigfaltigkeit der greulichsten Formen ausgesetzt sind. Abscheuliche Geschmäcke, unerträglicher Gestank verfolgt sie, und nur wenige subjektive Empfindungen des Auges und Ohres sind an sich gleichgültig, und können von der Phantasie, die sich ihrer, wie im Traume, bemächtigt, durch Hinzudichtung und schärfere Zeichnung zu anschaulichen Gebilden entwickelt werden. Ein großer Teil von ihnen scheint überdies nur auf Anregung des Gedankenlaufs als Vision zu entstehen. Teils die Überreizung der Zentralorgane begünstigt diese Rückwirkung, teils treibt die Kranken zur Objektivierung ihrer Eindrücke eine allgemeinere Neigung. Auch im gesunden Zustande erscheinen uns Einfälle, die der psychologische Mechanismus verschwiegen uns plötzlich zuführt, ohne dass wir ihre Motive in unserm Bewusstsein entdecken, beinahe wie fremde Eingebungen; im Traume kommt es uns oft vor, als wenn eine neue Person plötzlich hinzuträte, wenn den Lauf der Vorstellungen unvermutet ein neuer Einfall unterbricht. In dem Gedankenlaufe des Wahnsinnigen berühren sich ohne Zweifel sehr oft Vorstellungen, die nicht durch ihren Inhalt, sondern durch verborgene pathologische Beziehungen zu einander gebracht werden. So ist es nicht befremdlich, dass er diese plötzlichen Sprünge seiner Phantasie den Einflüsterungen Anderer zuschreibt, dass er von außen zu hören glaubt, was in ihm entstand, dass er jeden dunklen Druck des Gemüts aus einer fremden Gewalt zu erklären sucht, die ihn unbegreiflich beherrscht. Daher sind denn Gehörtäuschungen bei dem gespannten, argwöhnischen und lauschenden Charakter der Geisteskranken überaus häufig, und. ganz gewöhnlich der nach den Ideen des Zeitalters gemodelte Wahn, bald behext zu sein, bald durch einen boshaften magnetischen Einfluß aus der Ferne her sich Empfindungen, Gedanken, Triebe aufgedrängt zu sehen, deren Entstehung aus dem eignen Innern dem Kranken unbegreiflich ist. (Ein sehr anschauliches Beispiel davon gibt die Selbstschilderung eines Geisteskranken bei Ideler, der Wahnsinn I, S. 322.) Diesem Verkehr mit imaginären Personen, Dämonen, Engeln und Teufeln ist die eigentümliche Form der Verwirrung verwandt, in welcher die Kranken sich als ein Doppelwesen vorkommen, aus zwei fremden selbst mit einander in Streit liegenden Persönlichkeiten zusammengesetzt. Man hat diese Phantasie auf die Duplizität der Gehirnhemisphären bezogen, die nach Aufhebung ihres Zusammenwirkens jede ein Bewußtsein für eich erzeugten. Ohne Zweifel kann die einseitige Erkrankung des Gehirns alle jene Impulse, die es dem Gedankengange liefern soll, verändern, während die gesund gebliebene Hälfte dieselben Impulse normal leistet; beide Erregungsreihen, von der Einen Seele wahrgenommen, mögen leicht auch den Wahn einer doppelten und zwieträchtigen Persönlichkeit hervorbringen; nicht ein doppeltes Bewußtsein also, sondern eine widerstreitende Anfüllung desselben. (Beispiele bei Friedreich, allg. Pathol. der psychische Krankh. S. 61.) Dass diese Zwiespältigkeit der Gedanken auch ohne diese körperliche Ursache entstehen kann, bedarf keines Beweises; nicht jeder Kampf der Überlegung und des sittlichen Zweifels wird von den Hemisphären gegeneinander geführt.

514. Im Traume selbst erinnern wir uns nicht selten, dass wir träumen, und dass Alles, was wir sehen, im Wachen verschwinden werde; so ist es denn um Nichts auffälliger, dass auch Irre ihres Wahnes inne werden, indem die Mehrzahl ihrer Erinnerungen und ihrer Kenntnisse gegen die falschen aufstrebenden Gedanken ankämpft. Werden diese dagegen durch eine beständig fortdauernde Verstimmung des Gefühls in ihrem unrechtmäßigen Werte aufrecht erhalten, so ist es ebenso natürlich, dass alle jene Beweglichkeit des theoretisierenden Scharfsinns, die erst auf die Bestreitung des sich bildenden Wahns gerichtet wurde, jetzt zur Verteidigung und Erklärung des gebildeten verwandt wird. Diese Sophistik, Vorurteile und Bizarrien des Urteils zu rechtfertigen und zu beschönigen, ist auch dem gesunden Leben häufig genug und so finden wir denn oft, dass in Geisteskrankheiten die gesteigerte Erregung der Phantasie sogar mit mehr Witz und Dialektik, als dem Gesunden zu Gebote gewesen wäre, die Wahnideen systematisiert und alle neuen Wahrnehmungen der Außenwelt mit ihnen in Zusammenhang bringt. Dieses Aufgebot geistiger Kraft, um alle Anschauungen nach dem Inhalte des Wahnes umzumodeln, vermindert sich jedoch nach und nach, und eine allgemeine Beobachtung lehrt, dass der Gedankenkreis der Irren sich allmählich verengert; an die Stelle gewandter Verteidigung tritt eine bloße hartnäckige Wiederholung der verkehrten Vorstellungen und ein störriges Festbalten an ihnen trotz alles Widerspruchs der Wahrnehmung, der jetzt stumpfsinnig ignoriert wird. Die einseitige Verstimmung des Gemüts geht augenscheinlich in eine Entleerung desselben, die frühere Überreizung der Zentralorgane in die paralytische Reizlosigkeit über, die den letzten, den gewöhnlichen Endformen alles Wahnsinns, dem Blödsinn, der Gemütlosigkeit, dem völligen Willensmangel zu Grunde liegt.

515. Es kann befremdlich erscheinen, auch diese Depressionsformen des geistigen Lebens zu den Gemütskrankheiten zu zählen; auch leugnen wir nicht, dass manche Störungen körperlicher Organe vorkommen mögen, welche unmittelbar durch die Unvollkommenheiten der Zuführung von Eindrücken Intelligenz und Strebungen schwächen. Allein wir haben früher nachzuweisen versucht, wie sehr die Stärke, mit der die einzelnen Vorstellungen im psychischen Mechanismus sich geltend machen, von dem Grade des sinnlichen und geistigen Gefühlsinteresses abhängt, das sie erwecken, und wie sehr die Lebendigkeit des letztern von der Erregbarkeit der Zentralorgane bedingt ist. Weder in dem Blödsinn noch in der Narrheit glauben wir daher körperliche Werkzeuge beschädigt, welche die Intelligenz überhaupt zu erzeugen hätten; von der Unmöglichkeit solcher Organe überzeugt, sind wir es ebenso von der Unmöglichkeit ihrer Störungen, und müssen auch diese Krankheiten nur von der Mangelhaftigkeit der Impulse ableiten, welche die geistige Fähigkeit zu dem Reichtum, der Mannigfaltigkeit und Elastizität ihrer Ausübungen führen sollen. Nun sind es nicht sowohl die sinnlichen Funktionen, die hier unterdrückt sind; ebensowenig die richtige räumliche Kombination der Eindrücke; wohl aber fehlt dem Gedankenlaufe jedes Interesse, das ihn von einer Wahrnehmung erwartungsvoll und vorahnend zu einer andern übergehen, eine dritte festhalten, ihre gegenseitigen Verhältnisse in ihrem Werte schätzen ließe. Kein anderes Motiv der aufmerksamen Festhaltung oder des Übergangs von einem Eindrucke zum andern ist mehr vorhanden, als die physischen Veränderungstriebe der Zentralorgane. Sind diese geneigt, schnell aus einer Erregungslage in die andere überzugehn, so folgen ihnen auch Gedanken in gleichgültiger wilder Flucht; sind sie so wenig reizbar, dass sie träge in derselben Erregungslage verharren, so zieht sich auch der Gedankenlauf in träumerische Dumpfheit und Armut zusammen. Narrheit (Moria) und Blödsinn (Anoia) sind diese beiden Formen fast völliger Gemütlosigkeit. In hastiger Jagd ziehen in jener die Phantasiegebilde und Vorstellungsreihen vorüber; ohne Zusammenhang, ohne die Fähigkeit der Fixierung und Abstraktion verläuft das unaufhaltsame Geschwätz, oft den angefangenen Satz abbrechend, oft dasselbe Wort, unartikulierte Töne hundertfach wiederholend. Unverarbeitet verschwinden die äußern Wahrnehmungen in diesem Wirbel, dessen Unruhe sich in beständigen Bewegungen, Tanzen, Laufen, Fratzenschneiden äußert. Kein Gefühl scheint den Unglücklichen zurückgeblieben, als öde kindische Lustigkeit, einiger Sinn für Putz, glänzende Gegenstände, Gereiztheit bei Störung ihrer Spiele; so ohne Verständnis der Gefahr sieht man sie in den drohendsten Lagen lächeln, in brennenden Häusern ohne Versuch zur Flucht untergehen. Bei längerer Dauer des Übels läßt gewöhnlich auch diese Lebendigkeit des Vorstellungslaufes nach und geht in die Stumpfheit des völligen Blödsinns über, dessen Erscheinungen weitläufig zu schildern unnütz ist. Auch in ihm sehen wir häufig das geistige Leben in einzelnen Richtungen fortglimmen, am öftersten einzelne sinnliche Triebe, persönliche Gefühle der Anhänglichkeit oder der Rachsucht gesteigert; zuweilen finden sich manche mechanische Fähigkeiten instinktartig ausgebildet und deuten uns an, dass hier nicht sowohl die speziellen Organe für bestimmtgeformte Geistestätigkeiten fehlen, dass vielmehr eine durchdringende Veränderung jene nervösen Substrate von allgemeinerer Bedeutung ergriffen hat, von denen alle einzelnen Verrichtungen der Erkenntnis die Wärme und das Kolorit ihres menschlichen Temperamentes erwarten. Dass endlich völlige Willenlosigkeit zuletzt da eintritt, wo fast jedes Motiv des Willens und alle Vorstellung seiner Beziehungspunkte fehlt, ist eine natürliche Folge und darf nicht zu der Annahme einer Abulie als ursprünglich eigentümlicher Krankheit verleiten. Die zusammengekauerte Stellung, in der ein Blödsinniger bis zum Verwachsen der Glieder verweilt, ist dem Wesen der Sache nach kein anderer Mangel des Willens, als der, in welchen wir bei dem Scheitern unserer Unternehmungen und völliger Ratlosigkeit über unsere nächsten Schritte auch verfallen.

516. Es konnte nicht unsere Absicht sein, in dieser kurzen Darstellung den Inhalt der psychischen Pathologie, einer an Kontroversen noch so reichen Wissenschaft, zu erschöpfen. Indem wir uns mit dem Nachweis begnügen, wie die Pathogenese der Geistesstörungen im Zusammenhang mit unsern Betrachtungen über das gesunde geistige Leben steht, freuen wir uns, für die dargelegten Ansichten einen gleichartigen Ausspruch eines scharfsinnigen Forschers hinzufügen zu können. "Ohne Beteiligung des Gemütes kann eine psychische Erkrankung nicht existieren, oder nicht entstehen. Alle psychischen Prozesse werden durch die gemütliche Beteiligung des Menschen erst recht zu persönlichen. Wie die Warme eine der Grundbedingungen für das Zustandekommen eines chemischen Prozesses, so ist das Gemüt eine solche für die Verschmelzung jedes geistigen Vorgangs mit dem geistigen Organismus; die psychischen Prozesse huschen nicht wie Schattenbilder an dem Selbstbewußtsein vorüber; ein fortwährendes Aufnehmen und Abstoßen, je nach dem Zustande des Leidens des eignen Ich, ist die Grundbedingung des geistigen Lebens und ein wesentliches Moment der psychischen Krankheit, die treibende Veranlassung zu einer Menge von Erklärungsversuchen, zum Aufbauen künstlicher Systeme, die nur den Zweck haben, das Interesse des Kranken für ein Gefühl, für eine Vorstellung schützend zu decken. Erst bei dem längeren Bestehen des Wahnsinns, bei dem Übergang in die tiefern Formen, in Verwirrtheit, Blödsinn, erlischt allmählich diese Betheiligung des Gemüts." (Leubuscher, Grundzüge zur Pathologie d. psych. Kkhtn. S. 96.)

517. Geschlecht und angeborne Konstitution führen uns eine Menge Eindrücke zu, aus deren Mitte heraus wir kaum einen Blick in das Lebensgefühl eines Andern werfen können, um zu wissen, wie ihm die Welt erscheint, und wie ihm in ihr zu Mut ist. Ähnliche Schranken trennen Nationen und Menschenrassen. Aber wie die Natur durch diese Gefühlskreise die Individuen scheidet, so bedient sie sich derselben stillen und großartigen Psychagogie, um sie und die Generationen zu reifen und zu verwandeln. Wenn in der Entwicklung des Körpers allmählich Organe zur Tätigkeit erwachen, die früher schlummerten, so wird durch den Beitrag ihrer Empfindungen die Summe der Lebensgefühle um ein eigentümliches nun vorwaltendes Element vermehrt; die ausgebildetere Respiration der vollendeten Jugend, die Gefühle der nahenden Reife ziehen einen zugleich kräftigeren und sehnsüchtigeren Hintergrund den Assoziationen der Vorstellungen unter und ändern ihre Richtung; und ebenso wird bei dem allmählichen Sinken der Lebenskräfte und dem fortschreitenden Erlöschen der Funktionen im Alter sich jener farblosere und herbstliche Horizont des Gemütes bilden, an dem die unendlich bereicherten Erfahrungen doch nicht mehr die Fülle der jugendlichen Lust erzeugen, sondern sich ernsteren und ermüdeteren Gedanken unterordnen, die vielleicht nie auggesprochen, sich unbewußt mit dem wechselnden Lebensgefühle entwickelt haben. Die Kraft dieser Verhältnisse reicht gewiß über die Schicksale der Individuen hinaus. Dass in den verschiedenen Generationen andere Krankheitsanlagen und andere Reaktionsformen der Kräfte auftreten, darin hat gewiß die alte Lehre von dem Genius morborum Recht, und diese langsamen Revolutionen des physischen Lebens äußern ihren bedingenden Einfluß auch auf die Gestaltung des geistigen. Mit dem Wechsel der Krankheitsgenien entwickeln sich auch wechselnde allgemeine Gemütsstimmungen der Zeitalter; und neben dem Ideenkreise, den der fortlaufende Faden der Geschichte und der Tradition unterhält, würde der allgemeine Geist einer Zeitperiode, sowie er sich in ihrer künstlerischen Phantasie, ihren religiösen Anschauungen, in der Form der Lebenssitte und des Aberglaubens ausprägt, zum Teil von den Lebensgefühlen bedingt sein, welche in allen einzelnen Individuen die herrschende Konstitution des körperlichen Lebens hervorbringt.