§. 42.
Die psychischen Symptome körperlicher Störungen.

487. Dass alle Geisteskrankheiten von körperlichen Ursachen herrühren, ist eine theoretische Ansicht der medizinischen Bildung; die gewöhnliche Meinung hegt die andere Voraussetzung, dass sie von einer Störung in der innern Organisation der Seele selbst abhängen. Sie unterscheidet deshalb von ihnen jene psychischen Alienationen, die in flagranti einer leiblichen Krankheit sich einfinden, und die, obgleich ihren wesentlichen Symptomen nach den vollendeten Geistesstörungen gänzlich analog, doch von ihnen um ihrer abweichenden Ursachen willen zu trennen scheinen. Auch diese Unterscheidung ist nicht ohne Wert, obgleich nicht eigentlich vollkommen triftig. Indem sie nur diejenigen Störungen des Seelenlebens als Konsequenzen körperlicher Leiden faßt, welche die akuten Krankheiten zu begleiten pflegen, übersieht sie, dass ohne Zweifel auch körperliche Störungen von chronischem Verlauf, in denen eine Art des Gleichgewichts zwischen den leiblichen Funktionen anscheinend wiederhergestellt ist, doch immer noch häufig die unterhaltenden Ursachen der geistigen Zerrüttung sind. Indessen folgt diese Ansicht hierbei doch einem richtigen Gefühle; sie rechnet darauf, dass in akuten Krankheiten eine zurückwirkende Heilkraft der Natur tätig sei, und dass in ihnen eine Quelle möglicher Wiederherstellung liege, mit der auch die geistige Störung verschwinden werde; nicht dieselbe Hoffnung ist bei eingewurzelten chronischen Übeln zu hegen; in diesen scheint daher nicht allein die Anwendung geistiger Fähigkeiten momentan gehemmt, sondern sie selbst zerrüttet. Und gibt man selbst die Möglichkeit einer Heilung zu, so erwartet man sie doch von äußerlichen günstigen Bedingungen, nicht aber so, dass der eigne Entwicklungsgang des Übels das frühere Gleichgewicht herstellen werde. Derselbe Gesichtspunkt pflegt auch der Betrachtung der Störungen zu Grunde zu liegen, die allgemein von psychischen Ursachen unmittelbar abgeleitet werden. Die Fassungslosigkeit der Affekte rechnet man nicht zu den Geisteskrankheiten; Störungen dagegen, die nach der Beschwichtigung der akuten Krankheit oder des Sturmes der Gemütsbewegungen zurückbleiben, scheinen überall uns auf ein Ergriffensein der geistigen Funktionen selbst zu deuten. Wir folgen dieser Auffassung und führen hier einige jener Mittelzustände abgesondert auf, da ihre Betrachtung. für die Genesis der ausgebildeten Geisteskrankheiten einige Vorteile verspricht.

488. Im Schlafe ist die Empfänglichkeit des Gesichtssinnes allein erloschen, die der übrigen Sinne dagegen nicht so weit vermindert, dass nicht einzelne Reize sie erreichen und Wahrnehmungen erzeugen könnten, obgleich schwerlich je von der Feinheit qualitativer Auffassung, die dem Wachen eigentümlich ist. Die Wirkung der Eindrücke beschränkt sich im tiefen Schlafe auf die bewußtlose Hervorrufung einiger unwillkürlichen Bewegungen; in vielen Fällen dagegen erregt sie Nebenvorstellungen, welche den wahrgenommenen Reiz mit einer seiner Beschaffenheit entsprechenden erklärenden Szenerie umgeben und das einfache Empfundene zu einem zusammengesetzten Traumbilde vergrößern. Da eine Menge innerer Eindrücke, von den Teilen des eignen Körpers ausgehend, häufiger als äußere zufällige Reize vorzukommen pflegt, so finden wir Traumbestandteile, die den meisten Individuen gemeinsam sind und noch öfter bei krankhaften Anlagen wiederkehren, welche jene körperlichen Zustände unterhalten. Nichts ist gewöhnlicher als mannigfache Träume von Bewegungen, vom Fliegen, Schwimmen, vom Herabstürzen aus großen Höhen, dem mühseligen Erklimmen von Bergen, angenehmem Lustwandeln oder Gefesseltsein an eine bestimmte Stelle. Sie mögen von den wechselnden Impressionen herrühren, welche den motorischen Zentralorganen durch mancherlei Unregelmäßigkeiten der Zirkulation oder andere Reize verursacht werden. Ihnen schließen sich Eindrücke der Haut an, die auf gleiche Weise durch eine Reibe miterweckter Vorstellungen gedeutet werden; Druck der Nervenstämme erweckt die Phantasien von Fesseln, welche die Glieder umschlingen, von Grausamkeiten, deren Opfer man ist; Kältegefühle, die Haut überlaufend, spiegeln uns ein Schwimmen im Wasser vor, fieberhafte Hitze erregt Vorstellungen von Feuerqualen; Atemnot und Druck der Präcordien, in der liegenden Stellung des Schlafenden leicht herbeigeführt, bedingen die Träume der Erstickung durch den Alp. Zu ähnlichen Bildern erweitern sich die von außen undeutlich aufgenommenen Eindrücke; der Pendelschlag einer Uhr wird zu periodischem Hundegebell, zu Axtschlägen; einzelne musikalische Töne gestalten sich weiter zu Melodien; Gerüche scheinen häufig durch Stimmungen, die sie erwecken, mittelbar die Produktion eines angemessenen Vorstellungskreises, oft sehr entlegener Perioden der Lebenserinnerung zu begünstigen. Der gewöhnliche Inhalt des wachen Lebens äußert seinen Einfluß auf die Wahl der Vorstellungen, die zu dem Keime des Traums hinzutreten; lebhaftes Andenken an geliebte Personen deutet jeden entstehenden Eindruck auf ihre Schicksale; die herrschende körperliche und geistige Stimmung bedingt die Heiterkeit oder den ängstlichen Charakter der Traumgefühle und mit ihnen weiterwirkend die Entwicklung der Vorstellungswelt. Und so, indem die entstandenen Bilder auf die Zentralorgane zurück ihren Einfluß äußern, gestaltet sich der Traum zu immer ausgedehnteren Vorstellungsreihen, die in gleichem Maße an Intensität entweder abnehmen und im ruhigen Schlafe untergehen, oder zum völligen Erwachen führen.

489. Ohne diese Entstehungsweise der Träume, für die es Keinem an selbsterlebten Beispielen fehlt, weiter zu verfolgen, haben wir vielmehr einige besondere Eigentümlichkeiten derselben hervorzuheben, die für die Bildungsart geistiger Störungen von Interesse sind. Die Traumvorstellungen sind vor Allem sehr häufig so lebhaft und intensiv, wie die Erinnerungen des Wachens äußerst selten. Nicht allein sehen wir in Träumen einen blendenden Lichtglanz und hören Töne mit einer Deutlichkeit, die wir in der wachen Erinnerung nie willkürlich erzeugen können, sondern auch zusammengesetzte Formen und Ereignisse, die wir nicht mehr als unmittelbare subjektive Empfindungen betrachten können, entwickeln sich vor uns mit der vollen Klarheit der wirklichen Wahrnehmung. Man kann diese Wirkung auf die Beschränktheit des träumenden Gedankenganges rechnen, der ununterbrochen von der Mannigfaltigkeit äußerer Wahrnehmungen, die das Wachen herbeiführt, nur einen einzigen Anstoß verarbeitet, und durch ihn nur wenige Vorstellungen erwecken läßt, die dem Interesse der Seele oder der Eigentümlichkeit jenes Eindruckes am nächsten entsprechen, und die deshalb auch in ungehemmter Klarheit sich entwickeln können. Ich glaube jedoch, dass eine größere Erregbarkeit der Zentralorgane für die Einflüsse des Vorstellungsverlaufs hier noch außerdem stattfindet, so dass eine einmal entstandene Bewegung der Seele sich leichter zu Visionen gestaltet, als im Wachen. Nicht immer kommt deshalb diese Deutlichkeit der Bilder vor; sie fehlt, wo Ermüdung der Zentralorgane vorhanden ist, ohne doch zur Aufregung der Erschöpfung gesteigert zu sein. Eine andere Eigentümlichkeit des Traums ist die wesentliche Veränderung unseres Gefühls. Für den Schmerz stumpft der Schlaf ab, und selbst ein heftiges Weh, das uns aufweckt, erscheint nach dem Erwachen weit intensiver, als im Traume, obgleich es in diesem eine lebhafte und ängstliche Flucht der Phantasiebilder erregte. Dagegen kommen uns häufig im Traume Zustände unbeschreiblichen Wohlseins vor, die von keiner Euphorie des Wachens erreicht werden. Sie mögen von Reizen abhängen, deren nächster Eindruck unmittelbar die Funktion der Nerven harmonisch anregt, deren Ursachen jedoch keineswegs in besonderer Güte der Gesundheit, sondern häufig in körperlichen Zerrüttungen ernstlicher Art liegen; wenigstens kommen die süßen Träume unbeschreiblicher Seligkeit oft bei Inanition und gefahrvollen Erschöpfungskrankheiten vor. Man kennt ferner die Neigung des Träumenden, Gedanken, Einfälle, Poesien, die ihm vorschweben, als das Höchste zu bewundern, was der menschliche Genius leisten kann; nach dem Erwachen beschämt uns die Trivialität dieser Dinge, falls die Erinnerung sie uns aufbewahrt hat. Diese Erscheinungen beweisen weniger einen Mangel der Urteilskraft an sich, deren Abnahme freilich im Traume sehr erklärlich, ist, sie deuten vielmehr auf eine leichte und intensive Erregung des Gefühls hin, das im Bedürfnis eines Anknüpfungspunktes seine Seligkeit auf die erste beste von dem Bewußtsein produzierte Vorstellungsreihe überträgt. Man wird eine ähnliche Bemerkung in Bezug auf Affekte machen können. Auch sie erscheinen im Traume oft in großer Intensität, allein häufig so, dass dem Bewußtsein nicht zugleich die deutliche Vorstellung einer Situation vorschwebt, welche sie rechtfertigt. Namenlose Angst, objektloser Grimm bewegt uns häufig, und wo der Traum wirklich Veranlassungen dieser Gemütszustände abbildet, sind sie oft so unbedeutend, dass sie im wachen Leben keine merkliche Erschütterung unsers Innern veranlassen würden. So scheint es, als wenn im Schlafe andere Anregungen sich den gewöhnlichen Ursachen der Affekte substituieren und erst die Bewegung des Gemüts hervorbringen könnten, der später die erklärende Nachproduktion eines leidenschaftlichen Motives folgt. Wir haben endlich früher schon erwähnt, wie leicht zusammengesetzte Träume sich nach Intervallen des Wachens, die mit andern Gedanken angefüllt waren, wieder erzeugen, indem bei gleichförmig fortbestehender körperlicher Anlage das wiederkehrende Gemeingefühl des Schlafes auch die begleitenden Seelenzustände zurückruft. Übersieht man diese Eigentümlichkeiten der Träume, so werden manche Züge der Geistesstörung weniger befremdlich. Man begreift die überredende Klarheit, mit der sich einzelne Gedankenzüge wie Visionen aufdrängen, wo die vielseitige Anregbarkeit des Bewußtseins, wie im Schlafe, obgleich aus andern Ursachen fehlt; man versteht den Wert, den ein gesteigertes Gefühl auf seine Wahnideen legt, die blinde Heftigkeit objektloser Aufregung, die Konsequenz endlich, mit der die Störungen des Bewußtseins, die zuerst in einzelnen Intervallen auftraten, sich zu einem zusammenhängenden Ganzen vereinigen.

490. Die Traumvorstellungen erregen nicht allein automatische Zuckungen; häufig veranlassen sie auch zu Handlungen, die mit all der Biegsamkeit der Accommodation vorgenommen werden, welche die Bewegungen unter dem Einflusse des Gedankenlaufs auszeichnet. Indessen sind sie, wenn schon zweckmäßig in dem Sinne des Traumes, doch nicht mit Berücksichtigung der wirklichen Umstände berechnet, deren Wahrnehmung fehlt. Von Wassergefahr träumend führt der Schlummernde Schwimmbewegungen auf dem Bett aus, Jagdhunde regen ihre Beine zum Lauf, ohne aufzustehen, der Sehnsüchtige umarmt sein Kopfkissen; Höhere Grade der Erregung kommen indessen vor, welche den Schlafenden zum Aufstehen bringen, ihm Wahrnehmungen der Umgebung zuerst unvollständig, bald den völligen Gebrauch der Sinne möglich machen, dennoch aber ihn unter der Herrschaft eines Traumgedankens lassen. Aller andere Inhalt, alle Erinnerung an die eigene Persönlichkeit und ihre Geschichte ist momentan verschwunden. Und die allgemeinen sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten werden im Dienste Jener dominierenden Traumidee oft zur Durchführung vielfach komplizierter Handlungen benutzt. Allmählich erst erweckt die unterdessen steigende Anzahl der äußern Wahrnehmungen das Andenken an den Zusammenhang des Lebens, in welchem die begonnene Handlung töricht und unmotiviert keinen Platz findet und mit dem zurückkehrenden Selbstbewußtsein befreit sich der Geist von dem beherrschenden Wahne. Obgleich am häufigsten bei plötzlichem Erwachen vorkommend, finden sich doch diese Zustände der Schlaftrunkenheit auch da gar oft, wo weder Überraschung noch leidenschaftliche Gemütsbewegungen die Sammlung des Bewußtseins hindern, und sie gewähren ein anschauliches Bild jener Seelenverfassung, die wir den Instinkten der Tiere unterzuschieben pflegen: völlige Entleerung des Bewußtseins bis auf jenen einen Vorstellungskreis, der mit ungehemmter Kraft alle psychischen Fähigkeiten zu seinem Dienste zwingt. Nicht überall enden diese Zufälle mit voller Ermunterung; reicht eine kurze Zeit zur Ausführung der träumerischen Handlung hin, so legt sich der Wandelnde wieder zur Ruhe und der zurückkehrende Schlaf nimmt die Erinnerung an das Vorgefallene ebenso mit sich hinweg, wie wir häufig das vergessen, was wir in der Schlaftrunkenheit vor dem Eintritt des Schlummers getan haben.

491. Besondere krankhafte Dispositionen des Nervensystems, wie sie am allerhäufigsten in der Zeit der Pubertät vorkommen, scheinen den Übergang in diese letztere Form, die des Nachtwandelns zu begünstigen. Sie zeichnet sich durch längere Dauer der Anfälle aus, und enthält manche noch rätselhafte Punkte, die der Volksglaube zu Mysterien ausgebeutet hat. Nicht überall, ja vielmehr verhältnismäßig selten scheinen die Kranken von einer Traumidee erweckt, die einen Antrieb zu bestimmten Handlungen enthielt; eine gestaltlose Unruhe, vielfach mit der Wirkung des Mondlichts zusammengestellt, dessen begünstigender Einfluß kaum in Abrede gezogen werden kann, treibt die Kranken zum Aufstehen, zum Hin und Herwandeln in bekannten Räumen, zu gefahrvollem Klettern und Hinaufklimmen auf Höhen, welche Versuche alle meist langsam und bedächtig aber mit merkwürdiger Sicherheit ausgeführt werden. Sehr oft beschränkt sich der Anfall auf diese Bewegungen, in deren Ausführung dem Kranken ein besonderer Genuß zu liegen scheint, ohne dass sie erhebliche objektive Zwecke verfolgen. In so weit schiene das Nachtwandeln eine besondere Affektion der motorischen Zentralorgane zu verraten, ähnlich den Phänomenen des Veitstanzes; doch haben die Bewegungen manches Eigentümliche, sie geschehen mit einer gewissen langsamen Stetigkeit und schließen Sprünge und gewaltsame Wendungen meistens aus; im Ganzen sind sie krampfhaften Zufällen durch die geschmeidige Accommodation an die äußern Umstände sehr unähnlich. Worauf diese Behendigkeit und Sicherheit der Bewegungen beruht, ist nicht ganz deutlich; viele Kranke allerdings haben die Augen offen, obgleich träumerisch starr, von ihnen ist nicht zu bezweifeln, dass sie sehen, und dass nur der mangelnde Gedanke der Gefahr, den ihr unvollkommnes Selbstbewußtsein ausschließt, ihre Bewegungen sicherer macht, als die des Wachenden. Andere halten die Augen geschlossen; ihre Bewegungsversuche sind oft nicht minder geschickt; sie geschehen durch Hilfe des Tastsinns, der überall Unterstützungen und Anhaltspunkte für die Glieder sucht, aber mit dürftigeren zufrieden ist, als die prüfende Bedenklichkeit des Wachenden. Wunderbare Krampfformen unterbrechen allerdings oft dies reine Bild des Schlafwandelns, aber wunderbare physische Effekte, welche den natürlichen Gesetzen der Wechselwirkung überlegen wären, oder zur Annahme eines neuen vicarirenden Sinnes anstatt des unempfänglichen Auges nötigten, scheinen wir den bisherigen beglaubigten Erzählungen nicht zugestehen zu dürfen.

492. Selten ist mit diesem Drange zu mannigfachen Bewegungen der Anfall des Nachtwandelns ganz abgeschlossen. Teils zufällige äußere Wahrnehmungen, teils Ideen, die aus dem Traume des Schlafes und selbst durch ihn hindurch aus dem wachen Leben nachwirken, veranlassen zur Aufnahme von mancherlei Geschäften. Nicht ungewöhnlich ist in ihrer Durchführung eine große Fertigkeit der geistigen Verrichtungen zu bemerken, als sie dem Wachenden zu Gebot steht; zahlreich sind die Erzählungen von Gelehrten, Komponisten, Dichtern, die im Schlafwandel Aufgaben lösten, Melodien und poetische Gedanken fanden, die ihnen im Wachen noch der Aufbewahrung würdig oder ihre gewohnten Kräfte zu übersteigen schienen. Wir haben der wahrscheinlichen Erklärung dieser Eigentümlichkeit schon gedacht. Hat der Schlaf wirksamer als jede willkürliche Abstraktion alle fremdartigen Nebengedanken beschwichtigt, so vermag ein Gedankenkreis, den er nicht überwältigt hat, sich um so ungestörter auszubreiten, und Aufgaben, an die unser waches Denken bereits seine Anstrengungen gewandt hat, können in der traumhaften Konzentration der Gedanken vielleicht eine Lösung finden, von der uns die Zerstreuung im Wachen abhielt. Doch wollen wir die Möglichkeit nicht leugnen, dass jene lebendige Steigerung des Gefühls, deren wir oben schon gedachten, verbunden mit einer Umstimmung des Gemeingefühls, wie sie in Reizungszuständen des Nervensystems auch dem Wachenden in so unglaublichen Formen widerfahrt, Anlässe zu poetischen Stimmungen, zu musikalischen Kompositionen mit sich führen können, zu denen das wachende Bewußtsein niemals Zugang findet. So mögen allerdings die Wirkungen des Traumes auch in unsere bewußten Lebenszustände und unsere Tendenzen hinüberspielen, ohne dass wir die größere Intelligenz im Allgemeinen in Zuständen suchen müßten, die an sich eben sowohl als für uns unklar sind. Nur das, was unsrer bewußten Willkür überhaupt unzugänglicher ist, Schwung, Mannigfaltigkeit und ästhetische Form unsers Gedanken- und Gefühlslaufs pflegt in diesen Krankheiten eine erhöhte und doch meist nur eine krankhaft erhöhte Lebendigkeit zu erlangen.

493. Das Schlafwandeln ist einer Wechselwirkung mit der äußern Welt nicht verschlossen, wie wir sahen, doch beschränkt sie sich meist auf die unbelebte Umgebung, deren Eindrücke nicht durch eigene Entwicklung den Gedankenlauf des Kranken durchkreuzen. Anreden wecken ihn meistens auf, am sichersten und gefährlichsten, je überraschender sie ihn aus seiner Ideenreihe in den Zusammenhang des empirischen Lebens zurückrufen. Bei Schlafenden, die im Traume reden, findet sich indessen häufig schon die Fähigkeit, auf Fragen eines Andern zu antworten; dieser lebendigere Verkehr steigert sich zu besonderer Höhe in den Zufällen des magnetischen Somnambulismus. Man sieht ihn nicht selten aus hysterischer Anlage und aus Krampfformen kataleptischer und epileptischer Art sich entwickeln. In dem Schlafe, der häufig in anderer Periodizität als der gesunde eintritt, sich übrigens jedoch von diesem nur durch oft vorangehende krampfhafte Symptome unterscheidet, entwickelt sich ein Zustand des Traumwachens, analog dem geschilderten des Schlafwandels, aber weit reicher noch an unbewiesenen Wundern. Zu ihnen gehört die vorgebliche Entwicklung einer eignen unmittelbaren Wahrnehmung, die sinnlicher Organe unbedürftig, nicht nur räumlich Entferntes, verschlossene und verborgene Gegenstände, sondern auch die zeitliche Zukunft durchblickt. Vicarirende Empfindungen aller Art, Lesen mit den Fingerspitzen, der Herzgrube stellen sich ein, nur mit verbundenen Augen und in Gegenwart wissenschaftlich prüfender Kommissionen fällt das Sehen durch diese andern Teile unmöglich. Die eigenen inneren Organe werden Objekt einer undefinierbaren Anschauung; ihre Krankheiten, die Heilmittel gegen sie, der Verlauf der Genesung ist den Seherinnen offenbar, und nicht nur auf eigne Leiden, auch auf die Fremder dehnt sich diese Gabe des Schauens aus. In höheren Graden der Ekstase verlassen die Gedanken die irdische Welt, jene namenlosen Entzückungen und Verklärungen treten ein, die großen Zerrüttungen des Nervensystems so seltsam eigentümlich sind; in unendlich vielfachen und doch am Ende äußerst monotonen Phantasien bewegt sich der Traum durch die entlegenen Himmel, ohne bisher je eine Aufklärung gebracht zu haben, welche die Fähigkeiten eines vernünftig Wachenden überschritte oder nur erreichte. Alle diese Erzählungen lassen wir notgedrungen auf sich beruhen; nur ausgedehnte eigene Erfahrungen könnten hier befähigen, einiges sehr interessante Wahre, das wir in ihnen vermuten, von der Trivialität vieler Fiktionen zu trennen. Doch können wir nicht umhin, einen Punkt noch zu erwähnen, die Theorien nämlich, die man zur Erklärung des künstlich erzeugten Somnambulismus ausgebildet hat.

494. Nur wenige Individuen sind überhaupt disponiert, unter dem Einflusse gewisser Manipulationen in den Zustand des Magnetisiertseins zu geraten; diese Unmöglichkeit, alle diese Verhältnisse zum Objekte sicher wiederholbarer Experimente zu machen, hindert ihre Beurteilung sehr. Zweifelhaft kann es indessen nicht sein, dass bei dem Vorhandensein jener Disposition die künstliche Herbeiführung des Schlafes gelingt, und dass die mehrmalige Wiederholung dieses Versuches die Disposition selbst steigert. Schon das gesunde Leben bietet in einer Menge einschläfernder monotoner Eindrücke Analogien zu diesen Wirkungen, und manche Nervenkrankheiten zeigen eine Reizbarkeit und Schwäche der Zentralorgane, die schon unter starrem Anblicken und ähnlichen wenig energischen Einflüssen ohnmachtähnliche Betäubung der Sinne entstehn läßt. Wie sehr endlich Störungen des Bewußtseins und der willkürlichen Bewegungen von der rückwirkenden Gewalt der Vorstellungen abhängen, welche die Seele überwältigen, beweisen uns am meisten jene epidemischen Krankheiten, die meist aus religiöser Exaltation entstanden oder von ihr begleitet, im Mittelalter so häufig, und in einzelnen Beispielen auch in neuerer Zeit ganze Länder überzogen und durch unwillkürliche Nachahmung ausgedehnte Bevölkerungen in dieselben Formen des Wahnsinns und instinktiver Bewegungstriebe hineinrissen. Der ansteckende Einfluß des Gähnens, die Contagiosität manchen Krämpfe, selbst die Zufälle des Schwindels, in denen wir einer gesehenen Bewegung unaufhaltsam nachgeben, bieten uns ähnliche Erscheinungen. Unter dem Zusammenfluß solcher Bedingungen dürfte denn auch jene künstliche Herbeiführung des Schlafes erfolgen. Aber Vieles, was sich weiter daran knüpft, der ausschließliche Rapport, in welchem die Schlafenden zu dem Magnetiseur stehen, die Sympathie, mit der sie seine körperlichen Schmerzen und seine Intentionen mitfühlen, die Gewalt endlich, mit der der letztere sie zu Gemütszuständen, Vorstellungen und Bewegungen nötigen soll, die in dem Zusammenhange ihres eignen Gedankenganges kein Motiv haben, dies Alles, obwohl noch in den letzten Tagen von mehreren Seiten her und von glaubwürdig scheinenden Beobachtern wiederholt, übersteigt die Grenzen dessen, was wir nach Analogien unzweifelhafter Zustände noch möglich finden können. Zur Erklärung aller dieser Phänomene hat man bekanntlich die Annahme eines magnetischen Fluidum gewählt, das identisch mit dem wirksamen Nervenprinzip von einem Individuum auf das andere, ja selbst auf leblose Objekte übertragbar sei, und über die Grenzen des einen Körpers hinauswirkend die Lebenskräfte und durch sie die psychischen Regungen eines andern Organismus beherrsche. Die neuern Untersuchungen, welche das Vorhandensein elektrischer Prozesse während der Tätigkeit der Nerven außer Zweifel setzen, geben diesen Phantasien anscheinend einen Anhaltpunkt, der ihnen selbst sehr willkommen sein mag, sehr unwillkommen vielleicht dem Urheber dieser ernsten und wissenschaftlichen Untersuchungen, deren letzte Folgerungen zu ziehen wir noch nicht im Stande sind.

495. An diese rätselhaften Zustände schließen sich die psychischen Störungen, die in den Anfällen mancher Krampfkrankheiten vorkommen. Sie bestehen teils in vollkommner Bewußtlosigkeit, wie sie während ausgebildeter epileptischer Anfälle beobachtet wird, teils in einer eigentümlichen Stockung des Lebens, wie sie die Katalepsie darbietet, teils endlich in einem beschränkten aufgedrungenen Vorstellungsverlauf, der sich in hysterischen Zufällen, in denen des Veitstanzes, sowohl aus einzelnen Äußerungen der Kranken, als aus ihren Handlungen schließen läßt. Hauptsächlich die beiden letzten Formen erwecken unsere Aufmerksamkeit, obgleich es unmöglich ist, irgend eine genügende Erklärung derselben zu geben. In der rein ausgebildeten Katalepsie bemerkt man jenen merkwürdigen Zustand des Muskelsystems und der motorischen Zentralorgane, in welchem jeder Impuls zu bestimmten Handlungen erloschen scheint, ohne dass eine Verminderung der bewegenden Kräfte vorhanden wäre. Die Stellung, selbst zuweilen die Bewegung, die im Augenblicke ausgeführt wurde, wird im Anfalle selbst unverändert beibehalten, die Glieder geraten nicht in Krampf, sondern bewahren eine Biegsamkeit, die erlaubt, ihnen beliebige Stellungen zu geben, welche sie dann ebenso wie die vorhergegangene festhalten. Empfindung und Bewusstsein ist oft völlig aufgehoben, zuweilen die Empfindlichkeit für Schmerz zurückgeblieben; ein Verlauf der Gedanken zeigt sich selten in einzelnen irren Worten; meist deutet der starre Ausdruck des schweigenden Kranken auf eine völlige Stockung der Vorstellungen hin, und der Erwachende behält keine Erinnerung an seinen Zustand zurück. In dem Veitstanz findet sich eine oft ganz einförmige, oft äußerst mannigfach wechselnde Reihe von Bewegungen, die zwar auf eine Affektion der motorischen Zentralorgane deuten, aber kaum auf eine solche, welche unmittelbar und lokal durch körperliche Störungen hervorgerufen wäre. Vielmehr scheint die Form der Bewegungen, die oft nicht den Charakter des Krampfes, sondern nur den der Hast, der Unruhe und des unwillkürlichen Dranges hat, auf einer einseitigen Richtung des Vorstellungsverlaufs zu beruhen, in welchem die körperlichen Reizungen Bilder auszuführender Bewegungen erzeugen. Von diesen erst rückwärts scheinen die Handlungen selbst auszugehn, und obgleich ihr erster Anlaß in nervösen Reizungen bestehen mag, ist doch die wirkliche Äußerung des Dranges überladen von Mitbewegungen, durch welche nur der Vorstellungsverlauf nach psychischen Gesetzen den ursprünglich einfacheren körperlichen Impuls, ebenso wie der Traum einen unscheinbaren Kern wirklicher Empfindung, zu diesem Ganzen mannigfaltiger Handlungen ausspinnt. Die verschiedenartigen Ursachen, von denen überhaupt auch im gesunden Zustande unsere Bewegungen ausgehen, scheinen sich hier also zu durchkreuzen; einige Elemente sind unmittelbare Zuckungen vom Reiz der motorischen, andere automatische Reflexe von der Erregung sensibler Nerven; noch andere sind Mitbewegungen, die sich an die unmittelbar veranlaßten Wirkungen nach physiologischen Regeln oder nach dem Einfluße vorhergegangner Übung und Gewohnheit knüpfen; endlich gestaltet sich Form und Zusammenhang dieser Äußerungen noch weiter nach den Vorstellungen, die sie erwecken, und von denen neue Bewegungstriebe und Kombinationen derselben entspringen.

496. Eine andere Gruppe psychischer Störungen geht aus dem chemischen Einflusse hervor, den viele in das Blut übergeführte Substanzen auf die Zentralorgane ausüben; die mannigfachen Formen des Rausches, der Ätherisation, der Narkose. Sie hier in den Einzelheiten ihrer Erscheinungen aufzuführen würde unmöglich sein; sie haben alle das Gemeinsame, von einer allgemeinen Erregung der Nerventätigkeit zu beginnen, mit einzige, Ausschluß vielleicht der Sinnesorgane, deren Wahrnehmungen schon von Anfang an weniger scharf und sicher als gewöhnlich scheinen. Vielleicht ist selbst das größere Kraftgefühl, das die ersten Augenblicke dieser Vergiftungen begleitet, nur die Folge einer beginnenden Analgie, die zuerst die Fähigkeit des Gefühls mindert, um später auch die Funktionen der Empfindung zu stören. Dem lebhafteren Gedankengange folgt indessen bald allgemeine Fassungslosigkeit; die willkürliche Lenkung der Aufmerksamkeit erlischt; die Vorstellungen verengen sich entweder zu einer geringen Anfüllung des Bewußtseins, oder sie breiten sich in eine ungeordnete Mannigfaltigkeit und flüchtigen Wechsel aus; das Gleichgewicht der motorischen Funktionen geht zu Grunde; Unbeholfenheit der Glieder und störende Mitbewegungen treten ein; in allen Formen endet ein schwerer Schlaf diese Aufregung, sobald nicht das Übermaß der Einwirkung anders geartete Krankheiten nach sich zieht. Einer namhaften Veränderung unterliegt hauptsächlich die Stimmung des Gemüts; nicht nur von der Weintrunkenheit ist bekannt, dass sie oft einen verborgenen Charakter offenbar werden läßt, oder einen aufrichtigen zur Unkenntlichkeit verändert, sondern auch die Ätherinhalationen haben zuweilen anstatt der Beruhigung eine wütende Aufreizung der Gefühle zur Folge. Die spezifische Beziehung, welche einzelne dieser Reizmittel zu bestimmten Organen und Funktionen des Körpers haben, läßt in dem nachfolgenden veränderten Gedankengange häufig gewisse Vorstellungskreise als beständige Erscheinungen wiederkehren. Nicht nur der formelle Charakter der entstehenden Phantasien, ihr träger Wechsel oder ihre rasche lebendige Flucht, sondern auch ihr Inhalt ist verschieden, je nach dem Beitrage, den das hauptsächlich von ihnen ergriffene Organ durch seine Zustände zu dem Gemeingefühle der Seele liefert. Die Träume des Weinrausches sind andere, als die das Opium, das Hachich, der Stechapfel und das Bilsenkraut erzeugt, beide letztere als Aphrodisiaca Bestandteile der Salben und der Tränke, die jene wilden Traumbilder des Hexenlebens herbeizuführen bestimmt waren.

497. Die Delirien fieberhafter und chronischer Krankheiten erfordern keine andere Erklärung, als die bisher angeführten Zustände. Ihre Form entspricht bis in kleine Einzelheiten dem Erregungstypus der Krankheit; wilder bei stürmischer Kongestion oder heftigem Orgasmus werden sie stiller bei Erschöpfung der Nervenkräfte, ungleichförmig wechselnd mit dem Wechsel der körperlichen Erregung. Selbst die Traumvisionen des Fieberfrostes sind andere, dunkler, drückender, dumpfer als die lebendigen, scharfen, hellen des Hitzestadium. Ohne Zweifel sind ihre Inhaltsbestandteile namentlich am Anfange längerer Krankheiten Bruchstücke der Erinnerung oder einzelne Sinneswahrnehmungen, an die sich oft ein seltsames Interesse knüpft. Ein Flecken an der Wand kann den Kranken zu vielfachen Ausdeutungen und zu unablässigen Versuchen seiner Abänderung bewegen und so den Mittelpunkt seines Delirium bilden; Ereignisse, die ihre Analogien auch in träumerischen und zerstreuten Stimmungen des gesunden Lebens haben. Der größte Zorn, der nagendste Kummer hat oft ein unbegreifliches Interesse, Kleinigkeiten zu beachten und zu ordnen, an denen man sonst, obgleich man sie bemerkte, teilnahmlos vorbeiging. Dass aber außerdem besonders die Natur des vorzüglich leidenden Organs und die Empfindungen, die seiner Funktion entsprechen, einen wesentlichen Einfluß auf die Richtung der Phantasie äußern, ist nur kurz zu erinnern und später weiter zu bedenken. Frühere Zeiten hatten auf eine ähnliche Bedeutung der Träume eine eigene Semiotik, Diagnostik und Prognose der Krankheiten gegründet, die oft selbst delirierend, doch von uns etwas zu sehr vernachlässigt wird.