§. 36.
Vom Verlaufe der Vorstellungen.

399. Schon mehrfach haben wir uns gegen die Annahme ausgesprochen, dass der Verlauf unserer Gedanken nur die Folge eines ähnlichen Verlaufes der physischen Erregungen sei, die durch die Sinneswerkzeuge den Zentralorganen zugeführt, in diesen als bleibende Eindrücke einen beständigen Wechsel der Verdunkelung und Erhellung erführen, und in den mannigfachsten Kombinationen einander reproduzierten. Eine innere Zusammenhanglosigkeit des Seelenlebens würde die Folge dieser unwürdigen Hingabe des Geistigen an die Veränderungen der materiellen Substrate sein, und wir tragen aus diesem Grunde kein Bedenken, jener Ansicht die entgegengesetzte von einer eigenen Fähigkeit der Seele gegenüberzustellen, gewonnene Eindrücke unabhängig von der Fortdauer ihrer physischen Veranlassungen zu bewahren und sie nach Gesetzen zu verknüpfen, die nichts notwendig mit den Verfahrungsweisen der physischen Nervenkräfte gemein haben. Wo zwei Hypothesen gleich möglich sind, die eine übereinstimmend mit moralischen Bedürfnissen, die andere mit ihnen streitend, kann Nichts die Wahl zu Gunsten der letztern lenken. Jenes Gesetz der Beharrung aber, nach welchem man so gern in den Zentralorganen eine dauernde Welt von Nachbildern früherer Eindrücke annimmt, erlaubt eine gleiche Anwendung auch auf die Seele selbst; und keine der Schwierigkeiten, die man darin finden könnte, dass in einer Substanz unzählige Eindrücke fortdauern sollten, würde durch eine Übertragung dieser Festhaltung an die materiellen Organe vermieden werden. Wir legen deshalb unsern weitern Betrachtungen die Annahme zu Grunde, dass sowohl das Gedächtnis, als die wechselnde Wiedererinnerung und der Lauf der Vorstellungen überhaupt ohne Mitwirkung der Zentralorgane denkbar sei, und dass in dem Augenblicke, in welchem man den Einfluß der letztern unterbrochen dächte, kein Grund für die Unterbrechung, kein Hindernis für die unbeschränkte Fortdauer des Erinnerungslaufes eintreten würde, obgleich die Empfänglichkeit für alle äußern Eindrücke verloren wäre. Dieser allgemeinen Ansicht jedoch haben wir einige nähere Beschränkungen hinzuzufügen.

400. Es kann vor Allem natürlich nicht der Sinn unserer Behauptung sein, dass der Lauf der Vorstellungen wirklich unabhängig von den wechselnden Zuständen der Zentralorgane erfolge. Schon der Einfluß der neuen Eindrücke, die uns die Sinne von außen beständig zuführen, ist nicht abzuhalten und übt über die Richtung unserer Gedanken seine bekannte Gewalt aus. Aber auch wo diese Quelle der Ablenkung nicht in Betracht käme, gäbe es doch innere Zustände in uns selbst genug, die durch das Nervensystem hindurch beständig auf unsere Seele wirken, und ohne überall deutliche Vorstellungen zu erzeugen, doch auf Richtung, Geschwindigkeit und Reichtum des Gedankenlaufs lebhafte Einflüsse äußern. Manche kleine Störung des Gemeingefühls, manche kaum bemerkliche subjektive Empfindung, die plötzlich zwischen die Glieder einer Vorstellungsreihe sich eindrängt, kann ihren Verlauf unterbrechen und unsere Erinnerung weit in andere Gegenden verschlagen. Und gäbe uns die Betrachtung unsers gesunden Lebens keine Veranlassung zu dieser Beobachtung, so würde uns die Analyse geistiger Krankheiten von der großen Ausdehnung überzeugen, in welcher die Bewegungen unserer Vorstellungen diesen zufälligen Mitwirkungen körperlicher Einflüsse unterliegen. Doch wir sind geneigt, noch mehr zuzugeben und neben der zufälligen eine beständige, ja selbst eine notwendige Mitwirkung anzunehmen, durch welche die Zentralorgane zu der Klarheit und Lebhaftigkeit unsers Gedankenganges beitragen. Schon mechanisch dürfen wir glauben, dass die einmal angeordnete Wechselwirkung zwischen Körper und Seele nicht einseitig auf die Augenblicke äußerer Reizung beschränkt sei. Nicht allein die nervöse Erregung wird eine bestimmte Vorstellung bedingen, sondern auch die Vorstellung, im Verlaufe der Erinnerung wieder auftauchend, wird zurückwirkend jenen Nervenzustand zu reproduzieren streben, von dem sie selbst in der sinnlichen Wahrnehmung erregt wurde. Und so mögen allerdings, wie wir früher bereits andeuteten, schwache Mitoszillationen der Zentralorgane den psychischen Vorstellungslauf überall begleiten, doch nicht als seine Ursachen, sondern als seine Folgen, als eine Art von Resonanz, welche die Tätigkeit der Seele zur Verstärkung der Lebhaftigkeit ihrer Vorstellungen sekundär in den materiellen Substraten hervorruft. In wiefern nun diese Ereignisse, die uns mechanisch wahrscheinlich vorkommen, zugleich eine Ideologische Bedeutung haben dürften, wollen wir jetzt zu erläutern versuchen, doch können wir, was wir hierüber glauben, nur als zweifelhafte und unbewiesene Vermutung hinstellen, zu deren Begründung nur eine philosophische Psychologie vielleicht einiges beitragen könnte.

401. Eine sehr bekannte Ansicht hat in der Summe dessen, was unser Bewußtsein füllt, allgemeine Anschauungen, die unser Geist a priori zu eigen besitze, von andern unterschieden, die er nur der Belehrung durch Erfahrung verdanke. Diese Meinungen irren gewiß, wenn sie jene ersten als angeborne Vorstellungen betrachten, die vor allen äußern Eindrücken Gegenstände des Bewußtseins wären; auch sie haben vielmehr ihre Entwicklungsgeschichte und bilden sich allmählich unter den Anregungen der Erfahrung aus. Aber sie stehen insofern doch dem Wesen der Seele näher, als sie nur den Sinn gewisser allgemeiner Verfahrungsweisen ausdrücken, die wir in der Verbindung und gegenseitigen Beziehung aller Eindrücke, welches auch ihr spezieller Inhalt sein mag, zu befolgen durch die Natur unsers Geistes genötigt sind. Was dagegen die Erfahrung uns an Wahrnehmungen erweckt, auch das ist zwar alles ein Miterzeugnis des Wesens unserer Seele und ihr keineswegs von außen fremd und fertig mitgeteilt, aber doch nur durch ganz bestimmte spezielle Eindrücke ihr abgewonnen und mit dem Wechsel dieser veränderlich. Beschäftigt mit jenen allgemeinen Formen der Auffassung würde daher die Seele vergleichungsweise mehr bei sich zu Hause sein, als wenn sie einzelne konkrete Anschauungen verfolgt, zu denen ihr nur die spezifische Natur eines ihr äußerlichen Gegenstandes Veranlassung gibt. Denken wir uns nun, eine Wechselwirkung mit der äußern Welt, aus der sich neben einem Reichtume einzelner Anschauungen auch das Bewußtsein jener allgemeinen Formen und Inhalte der Erkenntnis bereits entwickelt hat, breche plötzlich so ab, dass die Seele ohne Empfänglichkeit für neue Wahrnehmungen nur auf die Fortentwicklung ihrer schon erworbenen Vorstellungen beschränkt würde, so ist wenig Gefahr vorhanden, dass jene allgemeinen Grundsätze ihres Vorstellens und die allgemeinen Ergebnisse, die sie aus den erhaltenen Anregungen gezogen hat, ihr jemals abhanden kommen und unwiederbringlich aus ihrem Bewußtsein verschwinden sollten. Unabhängig, wie sie sind, von der speziellen Gestalt des Inhalts, auf den sie bezogen werden, allgemein gültig dagegen für jeden, oder doch in eine außerordentliche Anzahl einzelner Gedanken mitverflochten, würden sie durch die verschiedensten Wechsel des Vorstellungslaufes doch immer aufs neue entstehen und in die Erinnerung zurückgeführt, oder wenigstens unablässig in übender Anwendung erhalten werden. Vielleicht verhält es sich anders mit jenen speziellen Anschauungen, in denen die Seele gewissermaßen auf eine ihr fremdartige Natur der Gegenstände einzugehen genötigt ist. Indem sie zur Erzeugung der allgemeinen Vorstellungen beitragen, stören sie zugleich stets einander selbst, und diese fortwährende Abschwächung ihrer Deutlichkeit erfordert vielleicht als Gegengewicht eine Mitwirkung der körperlichen Organe, durch die ihr Inhalt stets von Neuem in analoger Weise wie in dem Augenblicke der wirklichen Empfindung, der Seele vergegenwärtigt wird.

402. Man kann zweifeln, ob nicht noch andere Gründe eine allmähliche Verdunkelung der sinnlichen Vorstellungen herbeiführen. Mag immerhin das Gesetz der Beharrung auch für die Seele gültig sein, so bedeutet es doch nicht, dass die einmal erlangten sinnlichen Eindrücke nicht nur überhaupt, sondern auch in einer Form und Stärke in ihr andauern müßten, vermöge deren sie beständig dem Bewußtsein und der Erinnerung auch ohne erneute äußere Anregung zugänglich blieben. Ein Körper allerdings ist vollkommen gleichgültig gegen einen ihm mitgeteilten Bewegungszustand, der nichts in seinem Innern, sondern nur seine Relationen nach außen ändert; die Seele kann nicht so gleichgültig gegen eine Erregung sein, die sinnliche Reize ihr verursachen, denn sie erfährt durch sie in der Tat eine Veränderung ihres eignen Wesens. Auch ohne auf spätere zufällige Ursachen zu warten, welche die beständige Fortdauer dieser Eindrücke bekämpfen könnten, dürfen wir daher in der Seele selbst ein stets vorhandenes Bestreben vermuten, jeden ihr fremdartigen und einseitigen, von außen ihr aufgedrängten Erregungszustand zu beseitigen. Sie wird damit nie so zu Stande kommen, dass in ihr gar keine Spur der aufgenommenen Impressionen zurückbliebe, aber sie kann dahin gelangen, diese Eindrücke in innere Zustände umzuwandeln, die ohne erneute Einwirkung des äußern Reizes, der sie erzeugte, oder einer ihr analogen Nervenerregung dem Bewußtsein allmählich entschwinden, oder ihm doch nur in wesentlich veränderter Gestalt wieder zugeführt werden. So bedarf es vielleicht auch aus diesem Grunde einer verstärkenden Mitwirkung der Zentralorgane, damit diese sinnlichen Elemente unsers Gedankenlaufs eine für die Zwecke des Lebens hinlängliche Klarheit bewahren.

403. Nach dem Aufhören des äußern Sinnenreizes geschieht es zuweilen, dass andauernde Erregungen der Nerven der Seele ein lebhaftes Nachbild des Empfundenen vorhalten; wo dies jedoch nicht der Fall ist, ändert sich die Art unserer Erregung stets sehr schnell und das Nachbild, welches die Erinnerung aufbewahrt, unterscheidet sich wesentlich von dem Inhalte, den uns die wirkliche Empfindung darbot. Am wenigsten finden wir es möglich, einfache sinnliche Gefühle als das, was sie sind, als Grade der Lust und Unlust, festzuhalten oder zu erneuern. Die Erinnerung der unaussprechlichsten Qual ist nichts gegen den reellen Schmerz eines Nadelstichs; nur die nicht ausbleibenden Rückwirkungen, jene leisen Beugungen, Drehungen und Spannungen des Körpers, durch die wir im Gedanken an eine sinnliche Pein unwillkürlich ihrem Angriff zu entgehen suchen, beleben einigermaßen ihre Erinnerung, ohne doch je den großen Unterschied zwischen vorgestellten und empfundenen Schmerzen aufzuheben.

404. Nicht darin besteht dieser Unterschied, dass derselbe Zustand, den uns die Empfindung verursacht, nur in unendlich abgeschwächterem Grade in der Erinnerung wiederkehrte, sondern darin, dass der letztern das Gefühl lebendigen Ergriffenseins mangelt, das alle Wahrnehmungen der ersteren begleitet. Wir unterscheiden die größeren Schmerzen früherer Vergangenheit von den gelinderen einer spätern; wir wissen wohl, dass die heftige Qual, die wir vorstellen, eine unendlich größere Beeinträchtigung unsers Wesens sein würde, als der Nadelstich, den wir empfinden, falls sie ebenso wirklich stattfände, wie dieser. Sollte daher der Unterschied zwischen Vorstellung und Empfindung auf graduellen Differenzen beruhen, so müßte man vorher in dem Gesamteffekt eines sinnlichen Reizes den Inhalt, den er dem Bewußtsein zuführt, samt allen seinen mannigfachen Größenbestimmungen, von der Form und Größe der perzipierenden Tätigkeit trennen, welche die Seele auf ihn verwendet. Nicht der erste an sich ist es, sondern die letztere, die in der Erinnerung verändert wird, und dieselben Inhalte, welche die Seele in der Empfindung mit einer mächtigen Erschütterung ihres eignen Wesens aufnahm, wiederholt sie in der Erinnerung in einer äußerlichen Weise, ohne auf die Zustände der Erregung, die sie ihr dort verursachten, sich von Neuem einzulassen. Indem wir vergangener Schmerzen gedenken, wiederholen wir nicht die Schmerzen selbst; indem wir vergleichen, ob eine früher oder eine jetzt getragene Last schwerer sei, wiederholen wir nicht das Druckgefühl der früheren, dessen wirkliches Eintreten die Schätzung des jetzigen nur stören würde; alle Möglichkeit, Beziehungen zwischen den Eindrücken vergangener Reize und den Einwirkungen eben gegenwärtiger festzustellen, beruht auf dieser einen Bedingung, dass zwar Gestalt und Größe jener reproduziert werden kann, aber in einer Form der Perzeption, welche sie als unwirkliche, erregungslose Gebilde der Erinnerung auf das Entschiedenste von der Empfindung wirklicher Reizungen unterscheidet. So notwendig diese Bedingung jedoch zur Vermeidung einer trüben Vermischung der Eindrücke ist, so hängt mit ihr doch eine wirkliche Unvollkommenheit aller Erinnerung zusammen. Sie ist am deutlichsten bei den sinnlichen Gefühlen; denn was ist die Vorstellung eines Schmerzes, die Vorstellung eines Wehes, der doch gerade dieses Element der Unlust fehlt, ohne welches der Begriff des Schmerzes undenkbar scheint? In der Tat ist der Name des Schmerzes in unserer Erinnerung nur ein Wort, eine Bezeichnung für ein Ereignis, von dem wir wissen, nach welcher Richtung hin es liegt, dem wir uns wohl annähern, das wir aber nie in unserm Gedankenlauf als das, was wir eigentlich unter ihm meinen, reproduzieren können. Für den Arzt, der am Krankenbette nach dem Vorhandensein und der genaueren Form von Schmerzen forscht, sind alle diese Ausdrücke nur Worte, mit denen die Erinnerung äußerlich um die Sache herumgeht, ohne sich ihr innerliches Wesen wirklich zu erneuern. Sowie wir verletzende Gegenstände wohl anfassen, aber eingehüllt in schützende Umgebungen, so berührt die Erinnerung ihre Objekte mittelbar, ohne jene letzte Schranke niederzureißen, welche die Vorstellung eines Zustandes von seinem wirklichen Wiedereintritte trennt.

405. Nicht allein an Gefühlen, sondern auch an gleichgültigen sinnlichen Wahrnehmungen beobachten wir das Nämliche. Mit dem Erlöschen des Lichtes, dem Verklingen des Schalles geht die Empfindung plötzlich in eine licht- und lautlose Vorstellung der Farben und der Töne über. Nach dem Gesetze der Beharrung würden wir erwarten dürfen, dass der Eindruck, so wie er sich im letzten Augenblicke der Reizung gestaltet hatte, auch nach dem Aufhören derselben in der Seele fortdauern werde. Allerdings müssen nun die unzähligen Vorstellungen, die in jedem Momente sich teils im Bewußtsein schon vorfinden, teils in ihm aufzutauchen streben, eine hemmende und störende Gewalt gegen den neuen Eindruck ausüben, der jetzt nicht mehr durch die überwiegende Kraft einer äußern Einwirkung aufrecht erhalten wird; dennoch scheint mir hierdurch der schnelle Übergang der Empfindung in die Vorstellung nicht völlig erklärt. Wir sind sonst im Stande, durch willkürliche Hervorhebung einen Gedanken von an sich geringem Inhalte lange und deutlich im Bewußtsein festzuhalten; aber die größte Anstrengung der Aufmerksamkeit vermag nicht, die Empfindung nach dem Schwinden ihrer Ursache so zu fesseln, wie sie noch eben war, den Ton also länger zu hören, als er erklingt, die Farbe länger zu sehen, als sie leuchtet. Und ebenso wenig ist die Erinnerung im Stande, ihre Vorstellungen sinnlicher Eindrücke bis zu jener wachen Lebhaftigkeit zu steigern, mit der sie wohl in krankhaften Zuständen erhöhter Nervenreizbarkeit als subjektive Empfindungen wiederkehren. Dieses Unvermögen der Einbildungskraft bemerken wir am meisten in Bezug auf die Stärke der Eindrücke; nur solche von mittlerer Größe scheinen sich einigermaßen entsprechend reproduzieren zu lassen; versuchen wir dagegen einen Empfindungsinhalt von außerordentlicher Stärke vorzustellen, so werden wir finden, dass das, was die Einbildungskraft hier wirklich leistet, weit hinter dem zurückbleibt, was wir von ihr erwarten. Einen blendenden Lichtglanz, den überwältigenden Knall einer Explosion bringt unsere Erinnerung nie so wieder, dass die Intensität des Vorgestellten in richtigem Verhältnisse zu der jener mäßigeren Eindrücke stände, die wir mit größerer Deutlichkeit uns wieder vergegenwärtigen können. Die Voraussetzung, dass auch hier die Klarheit der Reproduktion von einer rückwärts geschehenden Mitanregung der Zentralorgane abhänge, würde diese Erscheinung einigermaßen zu erklären dienen.

406. Obgleich nun die Vorstellungen der Farbe durch das Fehlen des Leuchtenden, die der Töne durch den Mangel des Lauten wesentlich von den entsprechenden Empfindungen abweichen, so hindert uns dies doch nicht, in der Erinnerung die vielfältigsten Beziehungen zwischen einzelnen Gliedern dieser Empfindungsklassen festzuhalten. Gleichwohl geschieht dies nicht überall mit gleicher Leichtigkeit. Schon für die einfache Qualität der Farben besitzt unsere Erinnerung keine große Schärfe. Wir glauben freilich alle zu wissen, was Rot und Blau ist, auch ohne dass eine neue Empfindung desselben uns seinen Inhalt vergegenwärtigt; geben wir uns jedoch Rechenschaft darüber, wie weit es unsere Einbildungskraft bei dem Vorsuche bringt, beide Farben möglichst lebhaft vorzustellen, so scheint es mir, als bliebe ihre Leistung merklich hinter unserer Erwartung zurück. Es geht uns wie Jemandem, der seine heisere Stimme nicht zum hellen Durchbruch eines Lautes bringen kann; die vorgestellten Farben blicken uns nie so entschieden an, wie wir es erzwingen möchten. Günstiger stellt sich dies für die Töne, deren melodiöses Aufeinanderfolgen mit allen Feinheiten harmonischer Intervalle unsere Erinnerung ohne Schwierigkeit reproduziert. Man kann hiervon die Ursache darin suchen, dass keine Erinnerung von Tönen und Tonreihen vor sch geht, ohne von einem stillen intendierten Sprechen oder Singen begleitet zu werden. Dadurch wird jedes Tonbild mit einem schwachen Erinnerungsbilde nicht allein, sondern mit einer leisen wirklichen Erregung jenes Muskelgefühls assoziiert, das wir bei der Hervorbringung des Tones empfinden würden. Leicht ist uns daher durch die Verstärkung, welche diese körperliche Resonanz unsern Vorstellungen erteilt, selbst die Erinnerung an die Verschiedenheit der Vokale, schwer dagegen die deutliche Reproduktion höchster und tiefster Töne, deren Erzeugung die Kräfte unsers Stimmorgans übersteigt. Eine Melodie können wir deshalb auch in Gedanken nicht in schnellerem Tempo durchlaufen, als in welchem wir im Stande sein würden, sie zu singen. Für den Menschen, der an den Ausdruck seiner Gedanken durch die Sprache gewöhnt ist, entsteht hieraus eine gewisse Schranke für die Schnelligkeit seines Vorstellungsvorlaufs. Zwar sind wir weit entfernt von der Behauptung, dass die Sprache überhaupt dem Denken unentbehrlich sei; und wir geben gern zu, dass sehr viele Vorstellungen sich in wenige Momente zusammendrängen, und ohne deutlich gesondert und durchgedacht zu werden, Motive für unsere Handlungen und die weitere Richtung unserer Erinnerung enthalten können. Wo es jedoch, wie bei einer musikalischen Melodie oder bei einem wissenschaftlichen Gedankengange, auf eine bestimmte sukzessive Anordnung deutlicher Vorstellungen ankommt, da sind wir an die Gewohnheit des sprachlichen Ausdruckes gebunden, und ihre Entwicklung kann nicht schneller geschehen, als die Erinnerungsbilder der Sprachlaute in uns aufeinander folgen. Sind nun diese in der Schnelligkeit ihrer Sukzession von der Fähigkeit der wirklichen Aussprache abhängig so wird dem, dessen Sprachorgane gewandter sind, auch eine raschere Entwicklung seiner Gedanken möglich sein, als dem, dessen träger wechselnde Erinnerungen an Muskelgefühle sich hemmend an die Lautbilder der Vorstellungen hängen, mit denen sie sich assoziieren.

407. Diese Mithilfe, deren sich das Gehör bei der Reproduktion seiner Empfindungen erfreut, während der Gesichtsinn sie vermissen läßt, erinnert uns an die ganz allgemeine Gewohnheit der Einbildungskraft, nie den Inhalt einer Wahrnehmung allein, sondern stets zugleich das Bild der körperlicher Lage und der Bewegungen, durch die wir sie erlangten, dem Bewußtsein wieder vorzuführen. An keinen Geschmack erinnern wir uns ohne zugleich der Bewegungen der Zunge zu gedenken, durch die wir ihn prüften, keine Gestalt steht vor unserer Phantasie, ohne dass wir auch jetzt, wieder an die Bewegungen der Augen dächten, durch die wir ihre Umrisse zuerst verfolgten; keine Landschaft tritt in unserm Gedächtnis wieder auf, ohne dass wir zugleich uns einen bestimmten Standpunkt in ihr zuschrieben, von dem aus unsere Blicke sie überliefen und nach und nach ihre einzelnen Teile zusammenfügten. Sukzessiv aufbauend, wie die Wahrnehmung war, ist auch die Erinnerung; wiederholt sie nun schon in Fällen, in denen das Resultat der Empfindungstätigkeit eine einfache Qualität, ein Geschmack, ein Wärmegefühl war, das Verfahren der perzipierenden Sinnesorgane, so ist sie noch mehr bei der Erinnerung an räumlichen Inhalt an diese gleichzeitige Erinnerung ihrer konstruierenden Bewegungen gebunden. So sehr ist endlich die Anschauung des Raumes für uns das umfassende Schema aller Anordnung geworden, dass wir auch jeder systematischen Zusammenstellung abstrakter Gedanken, jeder Klassifikation eine symbolisch räumliche Verbildlichung geben. Und auch hierin sind wir an die Bewegungen, durch die uns alle räumlichen Anschauungen erst zu völliger Klarheit kamen, so gewöhnt, dass wir nicht unsern Besitz an Kenntnissen oder Erinnerungen des Lebens wie ein ruhendes Gemälde vor uns sehen, sondern überall erscheinen wir uns selbst als hin- und hergehend in unserem Innern, als beweglich unsere Vorstellungen durchwandelnd, bald die eine beobachtend, bald die andere. Selbst das, was von aller körperlichen Einwirkung am weitesten abliegt, unsere sittlichen Begriffe, treten doch in unser Bewußtsein kaum anders, als indem sie zugleich die anschauliche Vorstellung irgend einer Handlung, eines feierlichen oder strengen Begehens erwecken, in dessen mitempfundenen Bewegungsgefühlen der eigentümliche Wert der sittlichen Verhältnisse sich für unsere Erinnerung verkörpert. Und so lebhaft ist diese Rückwirkung, dass von selbst auch die wirkliche Haltung unserer Glieder, ihre hastigere oder gemessenere Bewegung sich jenen Gefühlen anschmiegt und in äußerlicher Erscheinung den Charakter unserer Gedanken hervortreten läßt. Diese weit ausgebreitete Benutzung der räumlichen Anschauungen nun scheint ein neues Bedürfnis der Mitwirkung körperlicher Organe für die Klarheit unsers Gedankenlaufs herbeizuführen. Obgleich wir die Fähigkeit, Raum überhaupt vorzustellen, gewiß nicht ihrer Struktur und ihren Kräften verdanken, so beruht doch die wirkliche Benutzung dieses Vermögens in der Tat auf den Funktionsäußerungen der nervösen Substrate. Wir sind deshalb geneigt anzunehmen, dass nicht nur jede Erinnerung an räumliche Gegenstände, sondern auch jede symbolische Anordnung abstrakter Gedanken in einem vorgestellten Raume nur durch eine Mitanregung der Zentralorgane gelingt, von denen überhaupt in der früher geschilderten Weise die Kombination der Eindrücke abhängt. In krankhaften Zuständen sehen wir daher keinen Teil der geistigen Verrichtungen so leicht gestört, als diese Fähigkeit kombinatorischer Übersicht vieler Einzelheiten. Ein leichter Katarrh macht uns ungeschickt zum Rechnen, gewiß nicht, weil uns die Kenntnis der allgemeinen Regeln des Kalküls abhanden käme, an die wir uns vielmehr völlig klar erinnern können; aber die Fertigkeit, diesen Regeln eine verwickelte Mannigfaltigkeil unterzuordnen, leidet unter der Affektion der Zentralorgane, die alle schematischen Vorstellungen uns durch lebendige Erinnerung an die verschiedenen Erregungen erleichtern sollen, welche wir bei einer optischen Konstruktion des Raumes, oder bei unsern Bewegungen in ihm zu empfinden pflegen.

408. Aus der Übersicht aller dieser Erscheinungen wird man zunächst zwei Folgerungen ziehen. Man wird zuerst behaupten, dass die Seele überhaupt nur durch die Gewalt äußerer Reize zu einer so starken einseitigen Erregung gezwungen werden könne, wie sie der wirklichen Empfindung zu Grunde liegt; nach dem Aufhören jener dagegen seien die inneren Hemmungen, welche das psychische Nachbild des Empfundenen erfährt, viel zu bedeutend, als dass je die Erinnerung es aus sich selbst wieder zu der ursprünglichen Energie der Empfindung steigern könnte. Man wird zweitens zugeben, dass der Lauf der Erinnerungsbilder die motorischen Nerven anregt, und in ihnen teils Bewegungsgefühle, teils wirkliche Bewegungen veranlaßt, die beide zur Verdeutlichung jener zurückwirkend beitragen. Ich bin geneigt, beide Folgerungen dahin auszudehnen, dass eine gleiche Anregung von dem Vorstellungslauf auch auf die sensiblen Zentralorgane ausgeht, und dass wir selbst denjenigen Grad lebendiger Erinnerung an sinnliche Eindrücke, den wir wirklich besitzen, entbehren würden, wenn diese Anregung uns fehlte. Auch ohne sie freilich dürfte die Seele Zustände in sich reproduzieren können, die ihren früheren Reizungen durch äußere Sinneseindrücke entsprächen, aber sie würden allmählich jene eindringliche Lebhaftigkeit verlieren, die sie besitzen, wo eine ausreichende Reizbarkeit der Zentralorgane jede dieser Vorstellungen mit einer Andeutung der Affektion verknüpft, welche die Seele von dem Reize erfuhr, dem sie entsprungen ist. Und so dürften wir jene einzelnen Fälle, in denen Erinnerungsbilder sich zu wirklichen subjektiven Empfindungen steigern, nicht als völlige Ausnahmen, sondern nur als ungewöhnliche Begünstigungen einer Wechselwirkung zwischen Seele und Zentralorganen fassen, die in geringerem Grade zu den natürlichen Bedingungen unseres gesunden Vorstellungslaufes gehört. Man wird daran keinen mechanischen Anstoß nehmen, dass eine Erregung der Zentralorgane, die selbst nur von der eintretenden Vorstellung herbeigeführt wird, auf diese verstärkend zurückwirken soll. Denn derselbe Fall findet bei der Irradiation der psychischen Eindrücke auf die motorischen Substrate wirklich statt, und jede undeutliche Erinnerung an eine Bewegung wird dadurch, dass wir diese von Neuem ausführen und die Muskelgefühle wieder erwecken, die sie begleiten, ein Gegenstand klarerer Wahrnehmung. Die Betrachtung der Gemütszustände wird uns ferner noch zeigen, wie leicht auch sie durch die willkürliche Wiedererzeugung der Bewegungen, in die sie gewöhnlich übergehen, künstlich in uns nachgebildet werden können.

409. Indem wir nun, freilich nur als eine Vermutung, die strengem Beweise unzugänglich ist, diese Annahme einer Mitbeteiligung der Zentralorgane an dem Laufe der Gedanken hinstellen, begegnen wir uns mit einer Ansicht über das Verhältnis zwischen Leib und Seele, die von einem ganz andern Standpunkte ausgegangen, zu ähnlichen Ergebnissen gelangt ist. Reflexionen über die Unsterblichkeit und die Art des geistigen Lebens, das der Seele nach der Trennung von dem Körper noch möglich schiene, haben schon oft zu einer Unterscheidung zweier Bestandteile ihrer Erkenntnis und des Gewinnes geführt, den sie aus der Erfahrung dieses irdischen Daseins zieht. Man hat gemeint, dass zwar das reine Ergebnis allgemeiner Einsicht, sittlichen Bewußtseins und ästhetischer Stimmung dem Geiste unverlierbar bleiben und einen beständigen Anteil an jedem künftigen Leben desselben bilden müsse, dass dagegen die Erinnerung an die einzelnen Erfahrungen, aus welchen diese Frucht entwickelt worden ist, ihm durch seine Trennung vom Körper ebenso entzogen werde, wie sie ihm nur durch die Verbindung mit diesem zu Teil werden konnte. Wir können nicht wagen, diese Phantasie, welche so weil die Grenzen unserer sicheren Beurteilung überfliegt, für mehr auszugeben als sie ist; und obgleich wir im Allgemeinen in der Vermutung, die wir äußerten, einige Motive finden, die zu ähnlichen Annahmen hinleiten könnten, so würde doch selbst unsere Meinung zu jenem völligen Vergessen der konkreten Einzelheiten des irdischen Lebens nicht führen. Ohne daher diese Ansicht zu der unserigen zu machen, wollten wir doch an diesem Orte erwähnen, welche Anknüpfungspunkte für derartige Betrachtungen der Zusammenhang unserer Gedanken darbietet, indem wir ihre weitere Verfolgung den Überzeugungen anheim stellen, die Jeder über diese schwierigen und menschlicher Erkenntnis niemals sicher beantwortbaren Fragen aus andern Quellen sich bilden wird.

410. Wir haben bisher nur der Hilfe gedacht, welche die Zentralorgane, selbst erst durch den Verlauf der Vorstellungen angeregt, diesem zurückwirkend leisten; aber auch auf den weiteren Verfolg unserer Erinnerungen mögen die seitlichen Verbreitungen von Einfluß sein, welche die Erregungen dieser Organe, auf welche Weise sie auch entstanden sein mögen, nach physiologischen Gesetzen ihrer Funktion erfahren. Hat eine Vorstellung in dem Gehirn einen ihr entsprechenden Zustand hervorgebracht, so wird dieser, nachdem er einmal entstanden ist, auch für sich alle die Nachwirkungen herbeiführen müssen, die er nach seinem mechanischen und funktionellen Zusammenhange mit den übrigen Bestandteilen der Zentralorgane zu erzeugen fähig ist. Je nachdem lang dauernde frühere Gewohnheiten diesem ursprünglich erregten Teile die Mitteilung seiner Wirkungen auf andere erleichtert haben, wird er auch jetzt durch diese assoziierten Elemente auf die Seele zurückwirken und ihr bald Motive zur Unterbrechung und Ablenkung, bald zur lebhafteren Fortsetzung ihres Gedankenlaufs zuführen. Neue Vorstellungen, Gefühle, die sich an sie knüpfen, Bestrebungen und Triebe, die in leisen Andeutungen von ihnen erregt werden, reihen sich daher an jenen ersten Impuls, den der Lauf der Erinnerung den Zentralorganen gab, und tragen nun nicht mehr als bloß begleitende Resonanz zur Verstärkung, sondern als weiterführende Antriebe zur Umgestaltung des Bewußtseins bei. Die Richtung, welche die freie Phantasie in Augenblicken des Träumens und des Dichtens nimmt, mag am meisten unter allen geistigen Erlebnissen von der Reizbarkeit abhängen, mit der diese Erregungen der körperlichen Organe einander hervorrufen, und die Seele mit bald monotonen, bald lebendig wechselnden Antrieben weiter führen. Manche Erscheinungen endlich der psychischen Krankheiten werden wir von den Motiven ableiten müssen, welche die Stimmung der Zentralorgane bald für eine rasche, wilde und zusammenhanglose Flucht der Ideen, bald für eine Armut des auf wenige Vorstellungen verengten Laufes der Gedanken enthält.

411. Eine noch weiter gehende Abhängigkeit dagegen, welche den Inhalt des Bewußtseins durchaus als sekundäres Ereignis an die vorangehenden Zustände der Nerven knüpfte, können wir nicht zugestehen. Wie sehr auch alle angeführten Verhältnisse als Mitbedingungen des Vorstellungsverlaufs in Betracht kommen, so gehört doch die allgemeine und prinzipielle Erklärung des Gedächtnisses, der Assoziationen, der Wiedererinnerung und der allmählichen Umformung der Eindrücke zu den Bestandteilen der höheren Erkenntnis nicht der Physiologie, sondern einer metaphysischen Psychologie eigentümlich an. Ihr überlassen wir denn auch die Darstellung dieser Gegenstände, indem wir hier nur die übermäßige Beteiligung zurückzuweisen suchen, die man auch an ihnen den körperlichen Funktionen zugeschrieben hat. Dass die Ansicht, welche von einer Aufbewahrung der unzähligen Sinneseindrücke in der Substanz der Zentralorgane spricht, eine entschiedene Unmöglichkeit nicht einschließt, haben wir früher zugegeben; dass sie in hohem Grade unwahrscheinlich ist und bei speziellerer Durchführung zu unentwirrbaren Schwierigkeiten führen würde, brauchen wir kaum hinzufügen. Nur Beobachtungen pathologischer Erscheinungen, die man durch sie allein erklären zu können meint, veranlassen uns, einen Augenblick zu ihr zurückzukehren. In manchen akuten Krankheiten sehen wir das Verständnis für Wahrnehmungen schwinden, für welche die Empfänglichkeit der Sinne fortbesteht; bekannte Personen werden gesehen, aber nicht wiedererkannt; die Reconvalescenz führt häufig nicht nur ein Vergessen der Ereignisse mit sich, welche die Zeit der Krankheit füllten, sondern selbst rückwärts liegende Lebensperioden, einzelne Gedankenkreise sind dem Gedächtnis entschwunden, und treten nur langsam und mit Mühe in der Erinnerung wieder hervor. Seltsame Beobachtungen haben wir namentlich aus früherer Zeit von Kranken, die einzelne Sprachen, oder die Substantiva vergessen, für alles Andere ihr Gedächtnis bewahrt haben sollen, ebenso wunderbar sehen wir zuweilen durch eine plötzliche körperliche oder geistige Erschütterung die Erinnerung wiederkehren.

412. In allen diesen Erscheinungen, von denen manche noch zu apokryphisch sind, um überhaupt einen Erklärungsversuch zuzulassen, kann ich doch nichts finden, dessen Erläuterung die Mittel der Psychologie überschritte, obgleich wir wenig im Stande sind, den Gebrauch speziell anzugeben, den wir von ihnen machen müßten. So wie die positiven Eindrücke, die der ermüdete Körper der Seele zuführt, die Bewußtlosigkeit des Schlafes erzeugen, so können ohne Zweifel die viel heftigeren Störungen, welche die erkrankten Zentralorgane der Seele verursachen, die mannigfaltigsten Irrungen ihres Vorstellungsverlaufs herbeiführen, ohne dass sie diese Wirkung notwendig durch den Wegfall einer physiologischen Gedächtnisfunktion erzeugen müssten. Eine Seele, erfüllt von den Wahnvorstellungen, die ein krankes Gehirn ihr veranlaßt, kann für die Gestalt einer Person wohl sinnliches Auffassungsvermögen besitzen, ohne ihr doch überhaupt Aufmerksamkeit zuwenden zu können. Und geschähe selbst dies, so würde das Wiedererkennen davon abhängen, dass die Vorstellung, die sie jetzt von jene Person erhält, als identisch gefühlt würde mit jener, die sie in der Erinnerung aufbewahrt. Die Erfüllung dieser Bedingung kam in doppelter Weise vereitelt werden. Zuerst können wir leicht annehmen, dass die gegenwärtige Wahrnehmung dem Kranken andere Gesichtszüge, ein anderes Kolorit derselben zeigt, als seine Erinnerung aufbewahrt; wir wissen, wie seltsamen Täuschungen in Nervenkrankheiten der Gesichtssinn unterliegt, und wie ihm die Objekte bald allgemein, bald in einzelnen Dimensionen größer, kleiner, bald heller und dünner, bald dunkler und dicker erscheinen. Aber wäre zweitens auch die jetzige Wahrnehmung getreu, so würde doch die lebhafte Reproduktion des Erinnerungsbildes, mit dem sie verglichen werden müßte, von der Integrität jener Zentralorgane abhängen, welche unsere räumlichen Vorstellungen durch ihre Mittätigkeit aufzuhellen bestimmt sind. Fiele diese Mitwirkung gänzlich aus, so würde vielleicht das Wiedererkennen weniger Schwierigkeit finden; aber erkrankte Zentral-organe leisten vielleicht diese Beihilfe in verkehrter Weise und stören dadurch die psychische Erinnerung. Die Wahrnehmungen ferner, welche die Zeit der Krankheit füllten, entschwinden der Seele auf natürliche Weise, da sie nie Gelegenheit hatten, mit der Gesamtheit der Erinnerungen, die unser persönliches Bewußtsein bilden, dauerhafte und vielfach gegliederte Assoziationen einzugehn, durch die später dem Gedächtnis ein Zugang zu ihrer Reproduktion gesichert bliebe. Sie sind meist nur mit krankhaften Verstimmungen des Gemeingefühls verknüpft worden, die der Genesende überwunden hat; häufig bemerken wir daher auch, dass in Rezidiven der ursprünglichen Krankheit, oder wo andere, Störungen ähnliche Gemeinge-fühle herbeiführen, der Kranke plötzlich eine Erinnerung jener vergessenen Vorstellungskrei-se dunkel aufdämmern fühlt, und bei wirklichem Wiederausbruche der Krankheit in dieselbe Reihe von Wahngedanken zurückfällt. Nicht selten beobachtet man eine gleiche Wiederkehr auch bei Träumen; und in Krankheiten, deren Paroxysmen ein auffallend anderes Gemeinge-fühl hervorrufen, als die Intervalle zwischen ihnen, wie dies z. B bei somnambulistischen Zuständen und den Zufällen des animalischen Magnetismus geschieht, entschwindet die Gedankenseite der erstem während der Andauer der letztern und umgekehrt, so dass eine Art des Doppellebens entsteht, in welchem ohne gegenseitigen Zusammenhang die Erinnerungs-reihen sich zusammensetzen, die durch ein gleiches Gemeingefühl unter einander verbunden werden. Das Vergessen der Zeit, welche unmittelbar dem Ausbruche einer heftigen Krankheit voranging, scheint auf dieselben Ursachen zurückzuführen. Allgemeine Unruhe und Verstimmung der Nerven hat in dieser Periode die Eindrücke bereits an der Eingehung fester Assoziationen gehindert, oder sie an Gemeingefühle gebunden, in welche wir später uns zurückzuversetzen außer Stand sind. Bei länger dauernden Seelenstörungen bemerkt man dagegen häufig, dass zugleich mit dem Vergessen des früheren Lebens sich eine deutliche Erinnerung an das erhält, was während des gleichförmigen Verlaufs der Krankheit sich ereignete. Auch die partiellen Störungen des Gedächtnisses lassen sich im Ganzen aus unsern Voraussetzungen einigermaßen erklären. Die Rückkehr unserer Erinnerung in gewisse Gedankenkreise hängt immer davon ab, dass die Erregung jener Vorstellungen, Gefühle und Bestrebungen, welche den Angriffspunkt ihrer Reproduktion bilden, nicht selbst schon verhindert oder erschwert ist. Dies letztere kann leicht in Bezug auf alles das eintreten, dessen klare Wiedererinnerung die von uns geschilderte Mithilfe körperlicher Organe bedarf. Es ist leicht möglich, dass die Zentralorgane der Kombination in einer Weise gestört sind, dass bald die Leichtigkeit, mathematische Figuren zu verstehen, bald die Fähigkeit, sich in den Tonfall einer Sprache einzudenken, namhaft vermindert ist, doch pflegt in allen diesen Fällen das Wiedererkennen des Vergessenen sehr schnell von Statten zu gehn. Mehr Schwierigkeit allerdings würde die Erklärung des Ausfallens einzelner Abschnitte der eigenen Lebensgeschichte bieten; allein die vorhandenen Erfahrungen scheinen so wie sie beobachtet sind, überhaupt noch nicht das geeignete Material für einen Versuch der Erläuterung darzubieten.

413. Diese Mängel des Vorstellungsverlaufs erinnern uns an ihren Gegensatz, an die ungewöhnliche Steigerung geistiger Tätigkeiten, die man bei körperlichen Leiden der Zentralorgane nicht selten bemerkt. Ihre Erklärung ist einfacher und beruht keineswegs darauf, dass die Organe es sind, welche die Intelligenz erzeugen, sondern darauf, dass krankhafte Erregungen zuweilen die Hemmungen beseitigen, welche eine an sich meist mangelhafte oder doch nicht allzu günstige Bildung dieser Organe einzelnen Fähigkeiten der Intelligenz entgegenstellt. Was man hierüber beobachtet hat, beschränkt sich gänzlich auf eine Begünstigung jener formellen Eigentümlichkeiten des Gedankenlaufs, die auch wir in den vorigen Betrachtungen von einer Mitwirkung der Zentralorgane abhängig machten. Eine beachtenswerte neue Weisheit ist noch nie aus dem Munde der Somnambülen gekommen oder aus den Träumen der Ekstatischen und der Visionäre; aber der Schwung ihrer Vorstellungen und manche Fertigkeit der Intelligenz kann in ihren Paroxysmen gesteigert sein. Schon der Rausch läßt gleichgültige und phlegmatische Seelen pathetisch und sentimental werden; die größere Erregung des Gehirns führt ihrem Vorstellungsverlauf Antriebe zu, die ihm sonst fremd sind und überladet ihre Reden mit einem ungewohnten Bilderreichtum; die Anfangs größere Belebung des Muskelgefühls verleitet zu theatralischen Geberden und bald findet sich auch eine Erhöhung des Gefühls für alles Rhythmische ein. Nichts ist häufiger als die Erzählung, dass Kranke im Anfall des Nachtwandelns Verse gemacht, zu denen sie im Wachen unfähig waren; teils die Konzentration der Gedanken auf eine bestimmte Vorstellungsreihe, teils die fehlende Erwägung aller Nebenumstände, die uns während des Wachens der üblichen Lebensart folgen und jedes Wagnis, jede Schaustellung vermeiden läßt, erklären diese Erfolge. Sie sind analog den bedenklichen Bewegungen, die der Mondsüchtige sicher ausführt, weil ihm der störende Gedanke der Gefahr fehlt. Es mag sein, dass für manche Seelen ein ungünstig organisierter Körper eine Schranke ihrer Tätigkeit ist, nach deren Überwindung ihre Fähigkeiten glänzender hervortreten; und so mag sich immerhin an diese Erfahrungen die Hoffnung größerer Vollendung nach dem Tode knüpfen; die entgegengesetzte Ansicht, dass psychisches Leben nur das Resultat körperlicher Substrate sei, rechtfertigen sie nicht.

414. Eben so wenige Vorteile wie für das Gedächtnis, können wir von einer Vorarbeit der Zentralorgane für die weitere Verarbeitung unserer Eindrücke erwarten. Man schmeichelt sich wohl damit, dass die Wechselwirkung, welche zwischen den Erregungsresten in den Zentralorganen stattfinde, von selbst die Entstehung allgemeiner Vorstellungen aus den speziellen herbeiführe. Man verweist, um die lange Nachdauer jener Reste zu beglaubigen, auf das umgekehrte Verhältnis, in welchem angeblich die Schärfe des Gedächtnisses für Spezialitäten und die Fähigkeit, allgemeine Gesichtspunkte zu finden, zu einander stehen sollen. Beide Behauptungen scheinen mir gleich irrig. Wir besitzen allerdings manche Erzählungen von Blödsinnigen, die mit großer Stärke des Gedächtnisses begabt waren, und unter ihnen ist eine der beglaubigtesten die, welche Drobisch aus eigner Beobachtung erzählt hat. (Empirische Psychologie S. 95.) "Ein vierzehnjähriger Knabe, der seines Sprachorgans nur sehr unvollkommen mächtig war, hatte mit Mühe lesen gelernt, so dass sein stockendes und stotterndes Vorlesen mehr ein Buchstabieren genannt werden konnte. Gleichwohl besaß er eine so erstaunliche Fertigkeit, sich die Folge der Buchstaben und Worte anzueignen, und sie dann, wie in eine innere Anschauung versunken, an sich vorübergehen zu lassen, dass, wenn man ihm zwei bis drei Minuten gönnte, um ein gedrucktes Oktavblatt zu durchlaufen, er dann fähig war, aus dem bloßen Gedächtnis die einzelnen Worte ebenso herauszubuchstabieren, als ob das Buch aufgeschlagen vor ihm läge. Selbst wenn man einige Zeilen übersprang und ihm die Anfangsworte der neuen Zeile vorsagte, las er dann, sich in seinem innern Bilde bald zurechtfindend, ungestört fort, und das Alles ohne sichtbare Anstrengung unter kindischem Lachen. Dass hier durchaus keine Täuschung stattfinden konnte, hatte ich Gelegenheit an einer damals eben in meine Hände gekommenen neuen lateinischen Dissertation über einen juristischen Gegenstand zu erproben, die er also nie gesehen haben konnte, und wo Gegenstand und Sprache ihm gleich fremd waren." Diese merkwürdige Erfahrung ist allerdings ganz geeignet, uns an die Existenz eines Nachbildes der Empfindung glauben zu lassen, das für die Erinnerung ebenso einen ruhenden Gegenstand darbietet, wie das wirkliche Objekt der Wahrnehmung bot. Allein sie enthält nichts, was uns bewegen könnte, dies Nachbild als einen permanenten physischen Erregungszustand der Zentralorgane zu fassen. Vielmehr würde die Notwendigkeit unvermeidlich sein, dass bei dem ersten Durchlesen verschiedene Bilder nach und nach auf dieselbe Stelle der Netzhaut und folgweise auf dieselben Punkte der Zentralorgane fielen. Setzten wir nun selbst voraus, dass diese vielen Erregungen desselben Gehirnteiles sich unvermischt erhielten, so würden sie doch nicht mehr als simultanes, sondern nur als sukzessives Erinnerungsbild in ihm leben können; in dieser Gestalt aber ist die Nachdauer des Eindruckes nichts, was nicht ganz ebensowohl oder vielmehr viel leichter in der Seele selbst statthaben könnte. Dieselbe Fähigkeit, die für den Gesichtssinn so selten ist, findet sich im Gehör sehr häufig und viele Personen sind im Stande, nach einmaligem Anhören eine ziemlich lange Melodie fehlerlos zu reproduzieren.

415. Was nun ferner die Entwicklung allgemeiner Vorstellungen insbesondere betrifft, so ist hier das Verfahren der Intelligenz ein ganz anderes, als das der physischen Substrate bei der Mischung ihrer Eindrücke. In der letztern geht das Einzelne zu Grunde, indem das mittlere Resultierende entsteht; die Seele dagegen hält die einzelnen Vorstellungen noch neben dem Allgemeinen fest, das sie aus ihnen bildet. Sollte ferner etwa unsere allgemeine Vorstellung der Farbe auf einer physischen Verschmelzung der Nervenerregungen beruhen, die den einzelnen Farben entsprechen, warum sollte sie dann nicht der Vorstellung des Grauen gleich sein, mit der sie doch keine Ähnlichkeit hat? Unsere allgemeine Anschauung des Tones ferner ist nicht gleichbedeutend mit der Vorstellung des Geräusches, zu der sich die wirklichen akustischen Nervenerregungen zusammensetzen. Unser allgemeines Bild eines Dreiecks endlich besteht nur in der Erinnerung, dass unsere Augenbewegungen, indem sie es zu beschreiben suchen, an drei Punkten eine plötzliche Unterbrechung ihres geradlinigen Verlaufs erfahren und nach der dritten derselben den Anfangspunkt wieder erreichen. Sollte dagegen das Bild des Dreiecks wirklich die Resultante der Muskelgefühle sein, welche die Beschreibung einzelner Dreiecke erzeugte, so würde bei der außerordentlichen Verschiedenheit, deren diese Figuren fähig sind, nur eine verworrene, verzogene Gestalt das Ergebnis der Kombination dieser wesentlich abweichenden Bewegungsgefühle sein. Die Anzahl jener Wendungspunkte aber, wäre sie auch auf irgend eine Weise durch eine Funktion der Zentralorgane repräsentiert, würde doch noch einmal vom Bewußtsein als eine Dreiheit anerkannt werden müssen, eine Aufgabe, die es auch ohne Unterstützung körperlicher Organe erfüllen kann. Dagegen schließen diese Betrachtungen nicht aus, dass wie wir früher erwähnten, die Vorstellung des Dreiecks stets auch eine entsprechende Konstruktionstätigkeit der Zentralorgane mit anrege. Sind wir doch überhaupt nicht im Stande, ein allgemeines Dreieck zu denken; jeder Versuch dazu führt uns das Bild eines entweder rechtwinkligen oder schiefwinkligen herbei, und wir verallgemeinern hier nur dadurch, dass wir diese für die Klarheit unserer Vorstellung notwendige Besonderheit der Anschauung als ungültig abstrahieren.

416. Gleich ungläubig endlich sind wir in Bezug auf die Wirksamkeit, die man den Erregungen der Zentralorgane bei der Stiftung von Assoziationen zugeschrieben hat. Sie mag stattfinden für sehr häufig wiederholte Verknüpfungen sensibler Eindrücke teils unter einander, teils mit motorischen Funktionen und leicht mag auf Grund solcher Gewohnheit hin eine Wahrnehmung, indem sie in dem Gehirn andere Erregungen hervorruft, dadurch auch ohne psychische Veranlassung eine bestimmte Erinnerung erwecken. Allein wie sehr dies alles im Einzelnen vorkommen dürfte, so können wir doch nicht bezweifeln, dass die Kraft, durch welche die Vorstellungen einander im Bewußtsein verdrängen, hervorrufen, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und von andern ableiten, weit weniger in der Stärke der ihnen vorangehenden und sie begleitenden nervösen Zustände zu suchen ist, als vielmehr in dem Grade der Affektion, welche sie der Seele verursachen. Auf diese Gegenstände, deren Erledigung allmählich die Betrachtung der Phänomene des Vorstellungsverlaufes vervollständigt, führt uns die Erörterung des Selbstbewußtseins, zu der wir jetzt überzugehen haben, in Kurzem zurück.