§. 31.
Von der optischen Wahrnehmung der Größen, Formen und Bewegungen.

321. In der Organisation des Auges liegen zwei zuletzt freilich auf demselben Grunde beruhende Hilfsmittel, um zur Wahrnehmung der Größe, Form und gegenseitigen Entfernung farbiger Punkte zu gelangen. Einmal nämlich bietet uns diese Wahrnehmungen schon das ruhende Auge dar; man kann eine Mannigfaltigkeit von Elementen nicht in regelmäßiger räumlicher Anordnung anschauen, ohne damit implizite schon über die Größe dieser Elemente und die Entfernungen ihrer einzelnen Punkte von einander zu urteilen. Doch dürften diese Eindrücke bei der Verschiedenheit der Reizbarkeit in den verschiedenen Regionen der Netzhaut weder so deutlich sein, als nötig, um sie als bestimmte Maße zu erkennen, noch auch vielleicht so gleichförmig, dass nicht nach seiner verschiedenen Lage im Sehfelde ein Punkt bald größer bald kleiner erschiene. Die Feinheit unserer Beurteilung wird daher ohne Zweifel sehr durch das zweite Mittel, die wirklichen Bewegungen des Auges unterstützt. Indem wir durch das feine Muskelgefühl des Auges die Größe des Winkels schätzen, um den wir es drehten, und mit ihm die Anzahl der während der Drehung vorübergegangenen sichtbaren Punkte vergleichen, gelangen wir zu weit schärferen Beurteilungen ihrer Größe, Lage, Form und Entfernung. Doch ehe wir diese Mithilfe darstellen, müssen wir uns zu dem wenden, was die Netzhaut allein und ohne wirkliche Bewegungen leistet.

322. Es entsteht hier zuerst die Frage, wie groß überhaupt noch die kleinsten Bildpunkte sein müssen, die wahrgenommen, und wie groß ferner die, die noch von andern unterschieden werden sollen? Unter dem Einflusse eines früher erwähnten Vorurteils über den Sinn der isolierten Nervenfaserung hat man für beide Eindrücke als Minimum tauglicher Größe den Durchmesser angesehen, welchen das Ende einer Nervenprimitivfaser in der Netzhaut dem einfallenden Lichte zukehrt. Wir glauben jedoch beide Fragen anders entscheiden zu müssen. Was zunächst die bloße Wahrnehmbarkeit eines Punktes betrifft, so gibt es gar keinen Grund, sie an eine bestimmte Raumgröße desselben gebunden zu denken; sie hängt einzig von der intensiven Größe seiner Reizkraft, d. h. seiner Helligkeit ab. Besäße ein Punkt, zehnmal kleiner, als das feinste Nervenende, hinlängliche Lichtstärke, so würde er ohne Zweifel empfunden, obgleich es fraglich ist, als wie groß er empfunden würde, worauf wir später zurückkommen. Allerdings würden 0,9 dieses Nervenfaserendes von andersgefärbten Bildern occupirt sein, deren Wirkungen sich mit den seinigen mischen und daher die Intensität, vielleicht selbst die Qualität der Empfindung, durch die er wahrgenommen würde, sehr schmälern könnten. Aber wahrgenommen überhaupt würde er sicher, und bei hinreichender Lichtstärke und möglichster Entfernung anderer Reize aus der Nachbarschaft dieser Nervenfaser ohne Zweifel auch in seiner eignen Farbe. Eine andere Frage ist es freilich, ob zwei oder mehrere solche kleine Eindrücke, die ein und dasselbe Faserende treffen, auch noch als verschiedene wahrgenommen werden, und ob nicht hierzu es eine notwendige Bedingung sei, dass Jeder auf eine besondere Nervenfaser falle, um isoliert zum Gehirn geleitet zu werden. Diese letztere Meinung, welche früher allgemein angenommen war, hat vorzüglich Volkmann bestritten, indem er zeigte, dass zwei Linien noch unterschieden werden, deren Bilder auf der Netzhaut nur um 0,00014 Zoll von einander entfernt sind; Valentin unterschied selbst Linien, deren Bilder nur um 0,00009" von einander abstanden. Eine Vergleichung des Querschnitts des N. opticus, der Größe der Netzhaut und des gewöhnlichen Durchmessers der Nervenprimitivfasern ließ bezweifeln, dass die Enden der letztern in der Retina zahlreich genug wären, damit jeder dieser Eindrücke von einer einzigen aufgenommen werden könnte. Allerdings ist hiergegen mit Recht eingewandt worden, dass nur eine kleine Stelle der Netzhaut, die des deutlichsten Sehens, deren Durchmesser von E. H. Weber auf 1/3 bis 1/2'" bestimmt worden ist, mit so feinen Nervenenden besetzt zu sein brauche, während in den seitlichen Teilen eine einzige Faser größere Räume füllen könne. Überdies fand Weber in dem Stamme des Sehnerven Fasern von 0,0007 Linie Durchmesser, deren Enden, ohne Zweifel nicht dicker als ihr Verlauf, mithin noch beträchtlich feiner sein würden, als jene kleinste noch wahrnehmbare Distanz zweier Eindrücke. Gewiß würde nun die Ansicht, dass jede einzelne Erregung durch eine einzelne Faser aufgenommen wird, sowohl für die Nichtvermischung der Eindrücke, als für ihre Lokalisation die am meisten befriedigende sein; allein ich besorge, dass Versuche, die man mit schärferen Sinnesorganen machte, als sie uns meist zu Gebot stehn, die Minimalgröße des Unterscheidbaren noch sehr verringern dürften, so sehr vielleicht, dass doch auch die von Weber beobachtete Feinheit der Fasern nicht genügen würde, um jedem kleinsten Eindrucke ein isoliertes Nervenende darzubieten. Wir haben wenigstens keinen Grund, die außerordentliche Gesichtsschärfe zu bezweifeln, die uns von vielen Reisenden an Nomadenvölkern gerühmt wird, und ohne aus diesen Erzählungen ein bestimmtes Maß des noch Unterscheidbaren abzuleiten, müssen wir doch behaupten, dass über die letzten Grenzen der sinnlichen Auffassungskraft des Menschen schwerlich in physiologischen Instituten entschieden werden kann.

323. Gesetzt nun, Volkmann habe darin Recht, dass auch Eindrücke noch unterschieden werden, die auf dieselbe primitive Faser fallen, so lohnt es der Mühe, die dafür notwendig zu machenden Voraussetzungen kurz zu berühren. Es sind deren zwei; zuerst müssen die der Farbe nach verschiedenen Erregungen sich durch dieselbe Faser ohne Störung und Mischung verbreiten können; dann aber muß es jeder von ihnen möglich sein, auch ein besonderes Lokalzeichen je nach ihrer Lage auf dem Nervenende zu erwerben. Was die erste Voraussetzung betrifft, so ist sie nicht im Allgemeinen absolut unmöglich; die unendliche Durchkreuzung der Lichtwellen im äußern Raum zeigt uns, dass auch zwei von nächsten Punkten ausgehende Farbstrahlen sich nicht zu einem resultierenden mittleren Farbstrahl mischen; die simultane Wahrnehmung verschiedener Töne zeigt ferner, dass auch mehrere gleichzeitige Nervenprozesse in derselben Faser differente Eindrücke in der Seele vermitteln können. Erfahrungsmäßig wissen wir freilich wenig, ob diese Analogien gerade für das Auge gültig sind. Dass ein gedrehter Farbenkreisel grau erscheint, entscheidet nicht gegen sie; denn hier nimmt jeder Raumpunkt der Netzhaut alle Farbenerregungen in schneller Reihenfolge nacheinander auf; bei dem Sehen einer ruhenden Fläche dagegen werden differente Punkte beständig von differenten Farben gereizt. Nun wissen wir freilich, dass eine Zusammensetzung blauer und gelber Punkte uns grün erscheint, während bei mikroskopischer Ansicht die vergrößerten Punkte noch in ihren verschiedenen Farben auseinandertreten; aber auch dies ist, wie wir später sehen werden, nicht ganz beweisend; vielmehr müßten wir zeigen können, dass auch dann, wenn überhaupt nur zwei Farbenpunkte im Sehfeld vorhanden wären und diese auf dieselbe Faser fielen, ihre Qualitäten sich mischen würden. Dieser Versuch würde kaum anstellbar sein; warum er aber nötig wäre, wird sich ergeben, wenn wir zunächst den zweiten Punkt berücksichtigen. Setzen wir nämlich voraus, dass kein punktförmiger Farbenreiz seine Wirkung auf die einzelne Faser beschränke, auf die er fällt, sondern dass er auch in den umgebenden irgend eine Größe der Erregung mittelbar hervorbringe, was nicht unwahrscheinlich wird durch das Auftreten komplementärer Farben neben den gereizten Netzhautstellen, so würden dann zwei Punkte, welche dieselbe Faser an verschiedenen Seiten treffen, auch diese Irradiationen der Wirkung der eine mehr nach rechts, der andere mehr nach links ausüben. Sie würden deshalb, so wie die gereizten Hautpunkte, deren Gefühle vielleicht an sich identisch sind, zu differenten Empfindungen vermöge dieser verschiedenartigen assoziierten Nebenelemente sich umgestalten. Mit jeder solchen Nebenerregung der nachbarlichen Fasern würde aber auch gemäß unserer allgemeinen Ansicht ein Motiv gegeben sein, den einen Farbenpunkt desselben Faserendes nach rechts, den andern nach links zu versetzen. Sobald die Lichtstärke der Punkte groß genug ist, würde ferner nichts dem entgegenstehn, dass selbst zehn Punkte, wie Volkmann will, oder noch mehr, durch dieselbe Faser nicht bloß unterschieden, sondern auch lokalisiert wurden.

324. Es bleibt nun die Vermischung der Farben zu erklären, die allerdings auch so häufig eintritt. In der Seele bekanntlich mischen sich die einmal entstandenen Farbenempfindungen nicht; halten wir diese Erscheinung für eine primitive Folge aus der Natur der Seele, so müßte begreiflich jede Mischung der Farben kleiner Punkte auf einer Mischung der Nervenprozesse beruhen, und die Voraussetzung unserer eben gemachten Deduktion wäre falsch. Nehmen wir dagegen an, die Farbenempfindungen, die psychischen Erregungen also, würden sich neutralisieren, wenn sie nicht durch die an sie geknüpften Lokalzeichen auseinandergehalten würden, so ist eine Erklärung obiger Tatsachen möglich, denn die Voraussetzung bliebe dann denkbar, dass die Nervenprozesse an sich einander ungestört ließen. Sind uns nun zwei Punkte, ein blauer a, ein gelber b nebeneinander gegeben, so werden die Kreise, in denen jeder seine Wirkung auf die Nachbarn irradiirt, sich schneiden, und es wird der beiden Kreisen gemeinschaftliche Flächen teil ein Element Nervensubstanz enthalten, in welchem sowohl die Erregung für blau, als die für gelb gleichmäßig und auch beide mit demselben Lokalzeichen verbunden, vorkommen. Daneben wird nach rechts der Irradiationskreis von b, nach links der von a einen Anteil Nervensubstanz isoliert beherrschen, und jeder dieser beiden wird ein besonderes Lokalzeichen haben. Für die Seele entsteht daraus die Möglichkeit, blau und gelb nebeneinander zu sehn, zugleich aber die Notwendigkeit, dass beide Farben durch die gleichzeitige Wahrnehmung ihrer Mischfarbe getrübt erscheinen. Rücken die beiden Punkte a und b in derselben Faser näher zusammen, so wächst die Nötigung, Grün zu sehn, fallen sie zusammen, so kann dieses allein wahrgenommen werden. Diese Mutmaßungen, die den Tatsachen, wie mir scheint, nicht übel entsprechen, erklären uns nun, warum eine größere Fläche, die mit sehr kleinen blauen und gelben Punkten abwechselnd ganz besät ist, uns grün erscheint. Denn sind a, b, c, d abwechselnd blau und gelb, und denken wir uns dieselben Verhältnisse nicht bloß in einer Linie, sondern auch senkrecht auf jeden Punkt dieser Linie wiederholt, so verschwinden die Kreise, welche jeder Farbenpunkt für sich beherrscht, ganz; die Netzhautelemente werden von den sich schneidenden Irradiationskreisen der beiden Farben gleichmäßig überzogen, und nur an dem einen Rande der ganzen Fläche wäre ein Motiv dazu, blau, am andern eines, gelb vorherrschend wahrzunehmen. Ich bekenne jedoch aufrichtig, dass ich diese Deduktion mehr nur als ein Paradigma einer Konstruktionsweise, die man sonst vielleicht nützlich anwenden kann, hier beigefügt habe, als dass ich großes Vertrauen zu ihrer faktischen Gültigkeit hätte. Sie hängt von Voraussetzungen ab, die ich zwar nicht für unmöglich, aber noch weit weniger für gewiß halten kann; aber bei der Unzulänglichkeit unserer jetzigen Hilfsmittel zu wirklichen Erklärungen hat es vielleicht einigen formellen Vorteil, jede sich darbietende Möglichkeit bis zu ihren letzten selbst unwahrscheinlichen Konsequenzen zu verfolgen.

325. Eine ähnliche schwierige Frage bleibt uns nun noch in Bezug auf Gestalt und Größe der kleinsten Gesichtsempfindungen übrig, zu deren Erörterung wir die Annahme wieder zu Grund legen, dass nur die Eindrücke, die auf eine Faser allein fallen, unterscheidbar sind und also für die kleinsten Elemente des Empfindungsbildes gelten müssen, wenn es auch gleich noch kleinere Elemente des optischen Netzhautbildes gibt. Gemäß unsern bisherigen Grundsätzen müssen wir natürlich annehmen, dass die von einem punktförmigen Eindruck erregte Empfindung ein intensiver Zustand der Seele sei, gestaltlos, raumlos, nur qualitativ gefärbt, nicht unähnlich dem Tone. Nun glauben wir in unserer vorigen Entwicklung allerdings Prinzipien gefunden zu haben, nach denen die Seele, wenn sie überhaupt geneigt und genötigt ist, Farbenempfindungen räumlich anzuordnen, jeder einzelnen derselben ihre relative Lage zu ändern, und dem Komplexe aller die seinige in Beziehung zu der Stellung des ganzen Körpers anweisen kann. Aber es folgt aus dem Früheren weder, dass eine Tendenz zur räumlichen Lokalisierung durch jene Umstände in der Seele erweckt werden muß, noch dass die einzelne Empfindung aus einer intensiven und räumlich unbegrenzten, die sie war, sich zu der selbst schon räumlichen Vorstellung eines farbigen Punktes konzentrieren müsse. Was das erste anlangt, so muß man sich nicht darüber täuschen, dass alle Assoziationen der Netzhautbilder mit Bewegungstendenzen oder wirklichen Bewegungen, so wie alle hierdurch herbeigeführten Möglichkeiten abgestufter und auf das Vielfachste organisierter Verschmelzungen und Reihenbildungen zwar ganz geeignet sind, einer dazu schon willigen Seele bei der Anordnung der Empfindungen in einen Raum beizustehn, dass sie aber durchaus nicht im Stande sind, die Seele, die nicht schon aus andern Gründen geneigt wäre, dies ganze Material räumlich zu lokalisieren, hierzu zu nötigen. Denn wie reich und mannigfach und wundervoll auch alle diese fein abgestuften Beziehungen zwischen den einzelnen Vorstellungen oder Empfindungen sein mögen, warum sollen sie nicht für immer als ein reichgegliedertes System unräumlicher Beziehungen aufgefaßt werden, da sie doch ursprünglich in der Tat unräumliche Beziehungen sind, und zwischen unräumlichen intensiven Erregungszuständen der Seele stattfinden? Warum soll dies Alles plötzlich in extensive Formen des Raumes übersetzt werden, warum die abstrakte Nähe und Verwandtschaft zweier Elemente, hervorgebracht durch die Engigkeit einer intensiven Beziehung zwischen ihnen, sich jetzt als räumliche Nähe, das Entgegengesetzte als Ferne darstellen? Eine musikalische Aufführung bietet uns eine kaum geringere Mannigfaltigkeit qualitativer Verhältnisse zwischen den einzelnen Tönen dar, und für den Sänger wird zugleich jeder Ton mit ebenso feinen und genau abgemessenen Muskelgefühlen der Stimmorgane begleitet, wie sie nur irgend im Auge sich mit den Empfindungen farbiger Punkte assoziieren. Dennoch begreifen wir beständig diese Bewegungen nur als organische Hilfsmittel, um uns jene Tonempfindungen zu verschaffen, aber nirgends treten die Töne aus ihrem intensiven Zusammensein in ein extensives Nebeneinander heraus. Auch verhalten sich überhaupt Töne und Farben verschieden. Einen Zeitaugenblick muß natürlich jede Empfindung füllen, sofern sie überhaupt da sein soll; aber der Ton scheint uns noch außerdem so an eine wenn auch unendlich kleine Zeitstrecke gebunden, dass diese nicht nur als Bedingung für die Wirklichkeit seiner Perzeption, sondern zugleich als Bedingung für die Denkbarkeit seines Inhalts empfunden wird; der Ton ist seiner Natur nach untrennbar vom Zeitverlauf, aber ganz beziehungslos zum Raum. Die eigentümliche Natur der Farbe dagegen würde uns auch dann noch begreiflich sein, wenn sie gar keine angebbare Zeitdauer besäße, aber sie ist nicht begreiflich als bloß intensive Qualität, ohne eine wenn auch noch so kleine Raumstrecke zu füllen. Ist der Ton ein lebendiges im Geschehen begriffenes Ereignis, so ist die Farbe ein ruhender Zustand. Sollen wir nun sagen, dies rühre daher, dass aus unbekannten Gründen die Farbenempfindungen zuerst lokalisiert werden, so dass später es uns schwer oder unmöglich fällt, ihre Vorstellung zu bilden, ohne sie sogleich gewohntermaßen zu einer kleinen räumlichen Fläche auszudehnen, oder sollen wir vermuten, es liege in der Art der Erregung, welche die Seele von jedem einzelnen Farbenreize erfährt, ein Motiv, ihn als ausgedehnt wahrzunehmen, welches der andern Erregung fehlt, die uns durch Schallschwingungen entsteht? Es wird schwer sein, zwischen beiden Vermutungen zu wählen.

326. Ziehen wir die erste vor, so würde die Farbenempfindung, welche eine einzige gereizte Primitivfaser erweckt, völlig unräumlich, weder von irgend einer Größe flächenartiger Ausdehnung, noch auch im Gegensatz hierzu als auf einen einzigen räumlichen Punkt konzentriert erscheinen; sie würde einem Tone, einem Geruche gleichen. Bestimmte Form und Größe, räumliche Natur überhaupt würde dies einzelne Empfindungselement erst durch denselben Prozeß erlangen, durch welchen auch die Mannigfaltigkeit vieler ihre gegenseitige Anordnung empfängt, und überhaupt die räumliche Anschauung einer Fläche erst gebildet wird. Indem die an sich gestalt- und grenzenlosen Empfindungen genötigt werden, nebeneinander Plätze einzunehmen, begrenzen sie sich auch gegenseitig so, dass ein durch ihre relativen Lagenverhältnisse bestimmbarer Teil dieser Fläche von jedem eingenommen wird und unmittelbar neben ihm das nächste Element beginnt. Nirgends würde hier eine Veranlassung zur Unterbrechung der Stetigkeit dieses Raumes sein, denn er existiert nicht vorher, um von den Empfindungsbildern erfüllt zu werden, sondern er entsteht, indem jede Empfindung vermöge ihrer notwendigen Lokalisation überall sich mit denen ohne Unterbrechung verbindet, die nach der Aussage der Lokalzeichen mit ihr verbunden sein sollen, so dass die an sich gestaltlose in diesem sich bildenden Raume sich so weit ausdehnt, so weit zusammenzieht, als es ihr nötig ist, um jedes ihr gebotene Nebeneinander mit den übrigen wirklich auszuführen. Etwas unanschaulich und Mißverständnissen leicht ausgesetzt, ist doch diese Annahme nicht unmöglich; da sie indessen doch die Voraussetzung nicht umgehen kann, dass in der Natur der Farbenerregungen noch besondere Motive für die Seele liegen, die aus ihnen entstehenden Empfindungen überhaupt räumlich zu ordnen, so ist auch die andere Hypothese zu berücksichtigen, welche sogleich auch die räumliche Größe der einzelnen Empfindungselemente organisch prästabilirt sein läßt. Das freilich würde ein schlechter Ausdruck dieser Hypothese sein, dass die Seele die Farbenpunkte entweder so groß wahrnehme als sie sind, oder dass sie derselben stets den Durchmesser der feinsten Netzhautpunkte zum Masse gebe. Die wirkliche Größe eines Farbenpunktes auf der Netzhaut kann nie unmittelbar die Größe eines Empfindungspunktes bedingen. Aber man könnte behaupten, dass jede Erregung einer Faser der Retina, so wie in ihr überhaupt ein unnachweisbares Motiv zu räumlicher Lokalisation liege, auch für die Seele einen Grund enthalten könne, das, was sie durch sie empfindet, sofort als räumliche Ausdehnung, als Fläche zu empfinden, und dass diese Nötigung für jede Erregung stattfinde, die durch eine einzelne isolierte Faser auch isoliert zur Seele geleitet werde. Dann würde das Empfindungsbild ein Mosaik so vieler kleiner Empfindungsflächen sein, als es Oberflächen isolierter Netzhautfasern gibt, und obgleich die absolute Größe der erstem begreiflich nie bestimmbar sein könnte, so ließe sich doch über ihre relative behaupten, dass entweder alle einander gleich, oder auch in dem Masse verschieden wären, als die dem Lichte frei zugänglichen Flächen der Netzhautfasern größer oder kleiner sind.

327. Dächten wir uns nun jedes dieser Empfindungselemente als eine kleine kreisförmige Fläche, so würde das ganze Sehfeld allerdings ein Mosaik von Kreisen sein, zwischen denen sich dreieckige Zwischenräume befänden, die von empfundenem Inhalte entblößt wären. Aber auch sie könnten die Kontinuität des wahrgenommenen Raumes nicht unterbrechen, denn sie würden weit kleiner sein, als jene Kreisflächen selbst, von denen wir voraussetzen, dass sie die kleinsten unterscheidbaren Elemente der Empfindung sind. Dächten wir uns jedoch größere Strecken der Netzhaut gelähmt, so dass dem Sehfelde die Empfindungen fehlten, die von ihnen ausgingen, so würden sich allerdings bemerkbare Unterbrechungen der Kontinuität des Gesehenen zeigen. Sie kommen in doppelter Form vor. Entweder ist die Nervenfaser nicht im Stande, äußere Lichteindrücke aufzunehmen, aber sie ist im Innern noch funktionsfähig und erweckt uns durch ihre fortgehende Tätigkeit die Empfindung der Finsternis; dann entstehen die schwarzen Lücken im Sehfelde, welche als Empfindungen der Reizlosigkeit eben so gut wie wirkliche Farbenempfindungen, sich ihre Lokalisation erzwingen und die farbigen Punkte des Gesehenen auseinanderhalten. Oder die Nervenfaser ist so gelähmt, dass sie selbst dazu unfähig ist, die Vorstellung der Finsternis zu erwecken. Dann fällt allerdings ein Stück des Sehfeldes ganz aus. Da nun hierdurch die Ordnung, in welcher sich die noch funktionsfähigen Netzhautsteilen mit ihren Lokalzeichen assoziieren, nicht im mindesten geändert wird, so können auch die relativen Entfernungen dessen, was noch gesehen wird, nicht abnehmen, so dass etwa die sichtbaren Punkte von allen Seiten zusammenrückten, um diesen leeren Raum auszufüllen; alles bleibt vielmehr in seiner Lage, und der Raum, der den gelähmten Stellen entspricht, fehlt in der Vorstellung ganz. Im gesunden Zustande erscheint uns das Sehfeld als runde Fläche; wäre die Mitte der Netzhaupt überhaupt in einiger Ausdehnung gar nicht mit optischen Elementen besetzt, so würde das Sehfeld eine ringförmige Zone sein, in deren Mitte uns so zu Mute sein würde, wie etwa in der Hand oder dem Fuße; dasselbe tritt ein bei jener völligen Paralyse einzelner Netzhautstellen. Ich habe mehrmals Gelegenheit gehabt, beim Beginn des Anfalls heftiger nervöser Kopfschmerzen diese Verhältnisse mit aller Deutlichkeit zu beobachten, und es ist mir nicht nur vorgekommen, dass reichlich ein ganzes zusammenhängendes Dritteil des Sehfeldes in einem Auge gänzlich wegfiel, sondern auch einzelne Raumstellen desselben habe ich ebenso verschwinden sehen, wie für uns ja auch im normalen Zustande jener Raumpunkt, der der Eintrittsstelle des Sehnerven entspricht, gar nicht vorhanden ist. Hierbei erlitt die Ordnung der übrigen Raumpunkte nicht die mindeste Veränderung, und so deutlich sich dies Alles beobachten ließ, nachdem die Aufmerksamkeit sich einmal darauf gerichtet hatte, so drängte sich doch das Verschwinden dieser Raumstellen der Aufmerksamkeit gar nicht auf, und es bedurfte der Beachtung anderer Symptome, um auf die Vermutung zu kommen, dass dieser Fall des partiellen Nichtsehens wieder eingetreten sei. Es ist daher zu glauben, dass selbst eine sehr bedeutende Unterbrechung der Kontinuität des Gesehenen uns nicht merklich auffallen würde, und durchaus muß ich den Annahmen widersprechen, nach denen das Kleinersehen einzelner oder aller Gegenstände bei Amblyopie und beginnender Amaurose von einem Zusammenrücken der noch sichtbaren Objektpunkte in den von den paralysierten Fasern leergelassenen Raum des Sehfeldes herrühren soll. Nervenkranke klagen nicht selten darüber, dass ihnen in Begleitung von Schwindelanfällen bekannte Personen abwechselnd ganz klein und sehr groß, bis an die Decke reichend vorkommen; diese Erscheinung, sowie jenes konstantere Kleinersehen der Gegenstände, sind bisher noch völlig unerklärlich.

328. Aus der Verschmelzung der Netzhauterregungen mit jenen unbewußten Eindrücken, welche die ihnen assoziierten Bewegungstriebe auf die Seele machen, haben wir bisher die Ordnung der Punkte in unserm Gesichtsfeld hergeleitet. Aber man ist geneigt, auch den wirklichen Bewegungen des Auges und den Muskelgefühlen, die sie uns veranlassen, eine große Bedeutung für die Entwicklung der Raumanschauungen zuzuschreiben. Ohne dies im Allgemeinen zu leugnen, müssen wir uns doch der Überschätzung dieses beihelfenden Elementes widersetzen, von dem man Manches erwartet hat, was es zu leisten unfähig ist. Man begegnet zuweilen der Meinung, dass überhaupt das ruhende Auge nur einen einzigen Punkt sehe, und dass erst die Bewegung der Augenachse dazu führe, die Empfindungen, die man durch sie erlangt, neben jener ersten räumlich zu gruppieren. In jedem Augenblicke übersieht jedoch das bereits gebildete Auge sogleich ein ausgedehntes Sehfeld und findet in ihm die Gegenstände in ihren respektiven Lagen, ohne dass es der mindesten Bewegung bedürfte, um etwa den Totaleffekt der äußern Reize, der in einer intensiven Vorstellungssumme von noch unräumlichem Inhalte bestände, nach Maßgabe der Verschmelzung jedes Teils mit abgestuften Muskelgefühlen zu lokalisieren. Dass dies jemals, auch nur in der frühesten Kindheit anders sei, ist nicht im Geringsten wahrscheinlich; es läßt sich im Gegenteil zeigen, dass eine derartige Einrichtung nicht zur Erklärung räumlicher Vorstellungen dienen könne, deren Entstehung vielmehr die gleichzeitige Wahrnehmung mehrerer Punkte voraussetzt. Es habe das Auge zuerst den Punkt a gesehen, und diese optische Empfindung mit dem Muskelgefühl averbunden; es gehe zum Punkt b über durch ein Muskelgefühl b von ihm weiter durch g zu c. Nun mag es sich zurückwenden und so allmählich die Reihe cba rückwärts durchlaufen, deren jeder Punkt sich mit den entsprechenden Muskelgefühlen gba verknüpft. Wie man sich auch diesen Prozeß variiert denken mag, so entsteht daraus doch von selbst nicht die Notwendigkeit, jene drei Punkte als räumlich neben einander anzuschauen. Vielmehr müßte uns noch besonders die Aufklärung gegeben werden, dass die Reihe cba nicht nur eine gleiche, aber andere und entgegengesetzt geordnete, sondern dass sie dieselbe sei wie abc, und dass nicht die Objekte sich in einem zweiten Exemplare umgekehrt aneinandergereiht wiederholt haben, sondern dass unsere auffassende Tätigkeit an denselben Objekten rückwärts gegangen ist. Singen wir die Töne der Skala abc, so verknüpft sich mit jedem ein Muskelgefühl, das graduell vergleichbar ist mit dem jedes andern; singen wir die Skala rückwärts, so kehren mit denselben Tönen dieselben Muskelgefühle wieder, aber Niemand glaubt, man erhasche beim Zurückgehn denselben Ton wieder, den man am Anfang angab, sondern man weiß, dass es nur ein qualitativ gleicher ist. Um eine Anlagerung neuer Eindrücke an alte im Raume zu ermöglichen, ist es notwendig, dass die letztern bereits eine Mehrheit von Empfindungselementen in ganz bestimmten Verhältnissen enthalten, und so, dass der eine Teil derselben noch nicht verschwindet, während die Bewegung einen neuen herbeiführt, der sich nun sogleich an diesen Rest anschließt. Könnte das Auge nur einen Punkt sehen, und verlöre diesen, indem es durch Drehung zu einem neuen überginge, so würde es außerdem auch unmöglich sein zu enträtseln, was uns eigentlich in dem Übergange von einem Eindruck zum andern begegnet ist; denn das Muskelgefühl, das wir erhalten, ist ja selbst nur ein qualitativer Eindruck, der nicht unmittelbar sagt, er rühre von einer Muskelbewegung her; auch er will vielmehr, und größtenteils durch Hilfe des Gesichtssinns selbst, auf Bewegungen erst gedeutet werden.

329. Wir müssen daher behaupten, dass nicht nur eine Vielheit von Farbenpunkten in bestimmten Lagen ohne alle Mitwirkung von Augenbewegungen unterschieden werde, sondern dass auch die Beurteilung der Größe, Figur und Entfernung der einzelnen Teile des Sehfeldes in ihren wesentlichen Elementen von dem ruhenden Auge schon ausgeführt wird. Doch ist sie, da hier so viele Eindrücke auf wenig reizbare Netzhautstellen fallen, allerdings nicht so gleichmäßig, scharf, dass sie nicht in hohem Grade durch Bewegungen des Auges verbessert werden könnte, welche alle Objektpunkte nach und nach an der Stelle des deutlichsten Sehens vorüberführen. Man möge hier nicht die bekannten Erzählungen einwerfen, dass operierte Blindgeborne ein Gemälde zuerst nur als eine Sammlung verworrener Flecken ansehen: diese Beobachtung beweist nicht im mindesten, dass eine distinkte Unterscheidung der Umrisse verschiedener Objekte vor der Bewegung der Augen unmöglich sei. Sie beweist vor Allem, dass auch das völlig ungeübte Auge sogleich eine Fläche, und diese Fläche besetzt von verschiedenfarbigen, gegenseitig abgegrenzten Bildern sieht; wäre es nicht so, so würden die Operierten eine einzige monotone Mischfarbe, aber nicht Flecken gesehn haben. Die Undeutlichkeit der Wahrnehmung ist teils eine optische, da dem operierten des Sehens völlig ungewohnten Auge kein Akkommodationsvermögen zukommen kann, und daher die Eindrücke durch Zerstreuungskreise ihrer Lichtstrahlen auf der Netzhaut sich mischen, teils ist sie dem Mangel an Verständnis des Gesehenen zuzuschreiben. Auch uns erscheint manches Gemälde lange als eine Sammlung von Flecken, ehe wir dahin gelangen, die gesehenen Umrisse an Köpfe, Arme und Beine verwickelter Figuren zu repartieren; für den Blinden ist diese Schwierigkeit unendlich größer, da ihm die Gegenstande nie durch farbige und flächenförmige, sondern durch stereometrische Vorstellungen bekannt wurden.

330. Ob den Bewegungen des Auges außerdem, dass sie die seitlichen Eindrücke auf die Stelle des deutlichsten Sehens überführen, in irgend sehr erheblichem Maße noch eine andere Unterstützung unserer räumlichen Beurteilung zuzuschreiben sei, scheint mir ziemlich zweifelhaft. Man erwartet sie von der wahrnehmbaren Größe und Feinheit der Muskelgefühle, die sie erwecken. Man meint z. B. dem ruhenden Auge sei es schwer, über den Parallelismus zweier Linien, oder über ihre Gradheit und Krümmung zu entscheiden; das Muskelgefühl dagegen, je nachdem die Augen in gleicher oder allmählich veränderter Richtung fortgeleitet würden, habe die feinste Empfindlichkeit für diese unterschiede und deute uns die geringste Abweichung vom Geraden sofort durch eine eigentümliche Wahrnehmung an. Ich glaube fast, dass hieran gar nicht zu denken ist; diese außerordentliche Feinheit der Unterscheidungskraft besitzt nicht das Muskelgefühl der wirklichen Bewegungen, sondern sie ist ein Verdienst der Netzhaut und der feinen Anordnung ihrer unbewußten Lokalzeichen. Schließen wir die Augenlider und bewegen den Augapfel mannigfach, so wissen wir von keiner der geschehenen Drehungen auch nur mit leidlicher Sicherheit anzugeben, um einen wie großen Winkel die Augenachse durch sie bewegt worden ist. Von dieser Ungeschicklichkeit des geschlossenen Auges kommt Einiges auf Rechnung einer Mitbewegung, die zwischen den Augenmuskeln und dem orbicularis palpebrae zu bestehen scheint; man fühlt wenigstens, dass einige Augenbewegungen überhaupt bei geschlossenen Lidern sehr schwer auszuführen sind. Aber davon abgesehen müssen wir dennoch behaupten, dass wir keineswegs zuerst durch das Muskelgefühl des Auges den Drehungswinkel seiner Achse wahrnehmen, um aus ihm dann auf die Größe seines durch den Gesichtssinn wahrgenommenen Bogens zu schließen; sondern wenigstens eben so sehr schätzen wir nach der optischen Größe dieses Bogens die Winkelgröße unserer Augendrehung. Mit ruhendem Blicke nehmen wir zuerst wahr, dass a von b gleich weit entfernt ist, wie b von c, und dann erscheinen uns die Bewegungen der Augenachse, die von a zu b, und von b zu c führen, als Drehungen um einen gleichen Winkel. Im Finstern, wo dieser Anhalt wegfällt, wissen wir auch bei offnen Augen nicht besonders scharf zu sagen, welchen Punkt einer genau bekannten Umgebung wir durch eine bestimmte Stellung der Augenachse erreichen. War sie zuerst horizontal gerichtet, und wurde nach Entfernung des Lichts um einen Winkel gedreht, so zeigt das wiederkehrende Licht, dass sie jetzt oft einen andern Punkt visiert, als man dem gehabten Muskelgefühle nach vermutet haben würde.

331. Ich muß das Gleiche von den Richtungen behaupten. Ich glaube man irrt sich, wenn man meint, dass wir die genaue Horizontalität oder Vertikalität, oder die Geradheit einer Linie durch unser Muskelgefühl unmittelbar erkennen. Allerdings schärfen wir unser Urteil über diese Lagenverhältnisse durch eine Bewegung des Auges, welche die Achse desselben nachzeichnend an den Umrissen des Gesehenen hin- und hergehen läßt. Aber was hier, geschieht, scheint mir Folgendes. Der ruhende Blick war es, der die Punkte fgh, deren Bilder auf die Stelle des deutlichsten Sehens fielen, genau als eine gerade Linie erkannte, ungenau dagegen einerseits die Lage von e, d, anderseits die von i, k wahrnahm. Indem die Augenbewegung nach der Seile bin das Bild von f verschwinden, das von i hinzutreten läßt, liegen jetzt ghi für den ruhenden Blick deutlich in einer Geraden. Und so setzt sich rückwärts und vorwärts dies Verfahren fort, bei welchem der ruhende Blick es ist, der die Lage der Punkte auffaßt, die Bewegung dagegen nur die Stellungen des Auges herbeiführt, bei denen diese Auffassung möglich ist. Wenn wir bei geschlossenem Lide das Auge in einer horizontalen geraden Linie zu bewegen streben, so werden wir teils zugestehen müssen, dass wir nach den dabei entstehenden Muskelgefühlen doch unserer Sache nicht recht gewiß werden, ob die Bewegung wirklich horizontal und geradlinig geschieht, teils werden wir uns sogar deutlich bewußt, dass es trotz aller willkürlichen Anstrengung nicht geschieht. Besonders wenn man das Auge sehr langsam zu bewegen sucht, bemerkt man, dass seine Drehung nicht mehr stetig, sondern in einzelnen Rucken geschieht, deren Richtung man gar nicht deutlich beurteilen kann. Verfolgt man mit dem geschlossenen Auge, nachdem es ein Nachbild der Sonne empfangen hat, wie man meint, eine ganz horizontale Linie, so sieht man das Nachbild wunderliche Sprünge nach oben und unten machen. Man überzeugt sich daher bald, dass wir erstens die Bewegung des Auges gar nicht so in der Gewalt haben, um es ohne Gesichtseindruck in einer geraden Linie zu bewegen, und dass wir zweitens von der Richtung einer geschehenden Bewegung nur ziemlich unvollständig durch das Muskelgefühl unterrichtet werden.

332. Unter allen Bewegungen aber ist es ohne Zweifel die geradlinige, die nicht nur dem Auge, sondern auch tastenden Gliedern die allerschwierigste ist, und wo wir gerade Linien mit dem Blicke verfolgen, wird weit mehr das Auge durch die Eindrücke der Netzhaut und ihre ebenmäßige Richtung genötigt, an der Geraden fortzulaufen, als dass es etwa durch seine Bewegungsgefühle die Anerkennung der Geradheit vermittelte. Würde das Auge nur durch den M. rectus exlernus und den rect. internus um eine vertikale Achse gedreht, so würde es ihm leicht sein, eine horizontale Gerade zu verfolgen; denn war für die Ruhe des Augapfels mit nach vorn gerichteter Pupille die Spannung beider Muskeln = x, so wird sie für jeden andern Stand der Achse bei dem Fortschreiten in der geraden Linie für den einen Muskel so viel wachsen, als sie für den andern abnimmt; sie würde deshalb eine stetige und leicht übersichtliche Änderung des Muskelgefühls herbeiführen. Allein durch die Drehung erfahren schon die beiden M. obliqui des einzelnen Auges Verrückungen ihres Angriffspunktes am Augapfel; sie werden bald leise gedehnt, bald erschlafft und dadurch mischen sich den vorigen Muskelgefühlen andere bei, die ihre einfache Gestalt trüben; auch erfährt wohl hauptsächlich durch diese Muskeln und ihre unwillkürlichen Reaktionen das Auge jene leisen Abweichungen von dem beabsichtigten horizontalen Wege. Dass aber beide Augen zusammen, wenn sie gemeinschaftlich mit konvergenten Augenachsen an einer nahe liegenden horizontalen Linie mit fixierten Blicke fortschreiten sollen, wegen der Ungleichheit der Winkel, die dann jedes einzelne in gleicher Zeit zu beschreiben hat, noch größere Hemmnisse erfahren, ist schon längst bemerkt worden, und unter diesen Umständen ist die Verfolgung einer geraden Linie in der Tat eine Anstrengung von merkbarer Schwierigkeit. Könnten diejenigen Augenmuskeln, die überhaupt zusammenwirken, jeder einen Beitrag zur Bewegung liefern, der in jedem Augenblicke seinen momentanen Bewegungstrieben am besten entspräche, so würde die beschriebene Linie eine gekrümmte und zwar im Allgemeinen eine Wellenlinie sein; deren nähere Gestalt, nicht unfruchtbar für die Ästhetik, sich vielleicht einmal angeben lassen wird. Auch wenn wir mit der Hand eine gerade Linie verzeichnen wollen, begegnen wir derselben Schwierigkeit, wie jeder beim Zeichnen erfährt. Ruht das Handgelenk oder vielmehr der Unterarmteil desselben, so erfordert schon bei kleinen Strecken einer Geraden die Verzeichnung ihres zweiten Abschnitts eine sehr verschiedene Kombination von Muskelkontraktionen, als die des ersten; größere Linien beschreibt man, indem man das Ende des Oberarms im Ellenbogengelenk ruhen läßt, und den Vorderarm bewegt; man kann dann die Handmuskeln in gleichförmiger Spannung lassen und größere Räume durch eine gleichartige Bewegung des größeren Gliedes beschreiben; man zieht endlich selbst den Oberarm zur Bewegung zu, um die Verzeichnung weiter fortzusetzen; aber nur nach langer Übung lernt man erträglich gerade Linien von einiger Länge im Finstern beschreiben. Bei ihrer gewöhnlichen Ausführung ist es beständig der ruhende Blick, der die Lage jedes neu beschriebenen Punktes zu den schon vorhandenen prüft und durch unablässige Korrektionen die Muskeln von den krummlinigen Bewegungen abhält, in die sie für sich gern übergingen.

333. Bei vielen andern Eigentümlichkeiten in der Wahrnehmung von Linien ist es wenigstens zweifelhaft, wie viel auf unmittelbare Rechnung des Muskelgefühls, und wie viel auf die des ruhenden Blickes und selbst der Gewohnheit zu setzen ist. Betrachten wir krumme Linien in Arabesken, so scheint uns häufig die Fortsetzung einer begonnenen Krümmung nicht weit genug, oder zu weit geschwungen; sie schließt sich dem Anfange nicht harmonisch an. Dies kann zuweilen davon herrühren, dass die Muskeln widerwillig gezwungen werden, eine Bahn ihrer Bewegung zu verlassen, in der fortzugehn ihnen am bequemsten gewesen wäre. Doch glaube ich, dass noch öfter der unangenehme Eindruck von einer Täuschung der psychischen Erwartung herrührt, die aus der Betrachtung des Anfangs der Linie sich bereits ein Raumbild ihrer Fortsetzung entworfen hatte, mit dem die wirkliche nicht übereinstimmt. Der gefällige Eindruck einer Kreisrundung scheint mir weit mehr von der unmittelbar eröffneten Einsicht in die allseitige Regelmäßigkeit der Lage der peripherischen Punkte, als durch ein allmähliches Hingleiten des Blickes an ihrem Schwunge abzuhängen; und so wird auch die Wahrnehmung der regelmäßigen Krümmung um so undeutlicher, je weniger sie noch im Ganzen auf einmal übersehbar ist. Wie sehr endlich ästhetische Gewohnheiten auf die Gefühlseindrücke Einfluß haben, welche die Augenbewegungen begleiten, lehrt die Verschiedenheit der Krümmungen, die in verschiedenen Stylen der Skulptur und Architektur vorgezogen wurden.

334. Auch was die Größe der Linien betrifft, müssen wir dem ruhenden Blicke mehr Schärfe als dem Muskelgefühl zuschreiben, das ohnehin bei ihrer Beurteilung durch das Augenmaß eigentümliche Schwierigkeiten zu überwinden haben würde. Eine gerade Linie af von einiger Länge sei horizontal vor dem Auge so gelegen, dass ihre Endpunkte a und f mit dem Drehungspunkt des Auges x durch zwei gleiche Schenkel ax und xg verbunden werden; die Linie selbst zerfalle in die gleichen Abschnitte ab, bc, cd, de, ef. Damit das Auge die Strecke ab durchlaufe, hat es einen geringeren Winkel zu beschreiben, als um bc zu durchlaufen; um dagegen von c zu d zu gelangen, muß es sich, sobald die Höhe des Dreiecks beträchtlich kleiner ist, als die Grundlinie, um einen weit größeren Winkel drehen, als während des Fortschritts von a zu h oder von e zu f. Das Muskelgefühl würde also gleiche Raumstrecken durch ungleiche Winkelbewegungen messen, und schon dies macht es unwahrscheinlich, dass das Augenmaß allein auf ihm beruhe. Vielleicht dächte man daran, dass dieser Übelstand sich kompensiere; denn es komme nicht auf die wirkliche Größe der Drehung, sondern auf die des Muskelgefühls an, das aus ihr entsteht. Indem nun bei der Richtung des Blickes auf a der eine von zwei antagonistischen Muskeln, z. B. der rectus externus sich in der größten Kontraktion, der andere, der internus, sich in der größten Ausdehnung befinde, werde die Veränderung ihrer Zustände, die sie während des Übergangs von a zu b erfahren, ebenso groß empfunden, als die, welche sie von c zu d erleiden, wo sie beide nur wenig diesseit und Jenseit die Länge ihres untätigen Zustandes überschreiten. Aber dies ist nicht der Fall, und wäre es der Fall, so würde dadurch das Muskelgefühl in Widerspruch mit der optischen Wahrnehmung der Netzhaut geraten; denn in demselben Masse, wie jener Drehungswinkel größer oder kleiner ist, ist es auch das Bild , das sich von den Abschnitten der Linie auf der Netzhaut entwirft; und ab sowie ef erscheinen uns wirklich kleiner als cd. Ein Augenmaß, welches sich nicht sehr auf Vermittlungen der Erfahrungen stützt, gibt es daher nur in Bezug auf die Längen, welche sich auf der Stelle des deutlichsten Sehens abbilden, und wir unterscheiden um so schärfer, je näher aneinandergelegt zwei Linien sind, oder je mehr sie zusammen sich auf jener empfindlichsten Stelle der Netzhaut abbilden. Rührte nun das Augenmaß wirklich vom Muskelgefühl her, so kämen wir zu dem befremdlichen Resultat, dass es desto feinere Ausschläge gäbe, je kleiner die absolute Größe der zu vergleichenden Muskelbewegungen wäre. Wir nehmen deshalb an, dass die Fähigkeit, verschiedene Längen zu vergleichen, ursprünglich dem ruhenden Blicke gehöre, und dass auch hier die Bewegungen hauptsächlich dazu dienen, das zu beurteilende Material dem schärfsten sensiblen Punkte zuzuführen. Um dies zu erläutern, müssen wir einige einzelne Fälle durchgehn.

335. Es ist ein Unterschied, ob man verschiedene Abteilungen derselben Linie, oder ob man verschiedene Linien vergleicht. In dem ersten Falle, den wir eben betrachtet haben und der im Leben so häufig vorkommt, ist, wie wir sahen, eine genaue Schätzung der Abschnitte, die seitlich von dem Visierpunkt der geradausstehenden Augenachse liegen, nicht wohl möglich; aber nichts verhindert wahrzunehmen, dass die Hälfte der Linie ac der andern Hälfte cf gleiche, oder dass ab = cf, bc = de, denn hier vergleichen wir in der Tat gleiche Empfindungen sowohl der Netzhaut als des Muskelgefühls. Wir sehen daher, dass Jeder, der eine Raumstrecke schätzen soll, seinen Standpunkt der Mitte derselben gegenüber zu nehmen sucht, und dass symmetrische Abteilungen einer Linie zu beiden Seiten eines Punktes, den unser geradausgehender Blick trifft, keine Schwierigkeiten bieten, ein Umstand, der für ästhetische Zwecke nicht unwichtig ist. Soll jedoch über die Gleichheit der Abschnitte ab, bc, cd entschieden werden, so nehmen wir stets Bewegungen des ganzen Körpers zu Hilfe, oder wir bewegen die Linie unserm Auge vorüber, so dass wir dem Punkte b gegenüber dieselbe Augenstellung haben, wie gegenüber a, und dann schätzen wir die Länge bc der Länge ab gleich, wenn sie das gleiche Muskelgefühl bei ihrer Durchlaufung erweckt. Auch hier sind es also keineswegs zwei Drehungswinkel des Auges überhaupt, die mit großer Feinheit verglichen werden, gleichviel, welches die Stellung des Auges beim Anfang und beim Ende der Drehung gewesen wäre, sondern es sind zwei auch qualitativ möglichst analoge Drehungen, beide von derselben Augenstellung ausgehend, und ein Gefühl der Gleichheit erweckend, wenn sie an demselben Punkte endigen, ein sehr unbestimmtes Gefühl des Mehr oder Minder aber, wenn sie ihn nicht treffen. Und auch bei dieser Schätzung unterstützt uns der bleibende optische Eindruck der früheren Abteilungen. Es ist nicht schwer, an einer Stange af, deren erste Abteilung ab gegeben ist, die zweite bc zu verzeichnen, indem man dem Blicke gegen b dieselbe Stellung gibt, die er gegen a hatte; aber es ist viel schwerer, an einem Stücke Band, dessen erste Elle ab abgemessen ist, die zweite bc durch Augenmaß zu markieren, wenn der Punkt b dem Auge zwar in derselben Lage wie früher a dargeboten, die schon gemessene Elle ab aber, indem man das Bandende herabfallen läßt, dem vergleichenden, wenn auch nur seitlichen und indirekten Sehen entzogen wird.

336. Im zweiten Falle, wo wir verschiedene Linien vergleichen, bedienen wir uns ganz derselben Hilfsmittel, sobald die Vergleichung durch sukzessives Anschauen der einen und der andern geschieht. Aber sehr kleine Längen, die nahe bei einander liegen, fassen wir in ihren Verhältnissen auch durch den ruhenden Blick auf; man wird es z. B. sehr leicht finden, zu bemerken, dass in der Schrift, mit der dieses Buch gedruckt ist, die beiden Hauptstriche des Buchstaben n um ein Weniges höher sind, als die des u, und dass die beiden Horizontalstriche, auf denen die Füße des h ruhen, beständig etwas unter die Horizontale herabreichen, auf welcher die übrigen Buchslaben endigen. Und diese kleinen Differenzen sind merklich, sowohl wenn das ruhende Auge den Mittelpunkt eines dieser Buchstaben, als wenn es die Mitte des Zwischenraums zwischen ihm und seinem Nachbar visiert. Dass auch diese Wahrnehmungen noch schärfer zum Bewußtsein kommen, wenn das visierende Auge sich bewegt, und dass selbst so geringe Drehungen der Augenachse, wie sie hierzu nötig werden, uns noch merkbar sind, leugne ich nicht; aber ich glaube, dass diese Bewegungen uns nicht scharf genug in Massen vergleichbare Resultate geben würden, wenn nicht neben der kleinen Länge, die wir visierend durchlaufen, die andere damit zu vergleichende stets simultan durch indirektes Sehen mitempfunden würde. Die Bewegungen dienen hier nicht sowohl dazu, dass wir aus den unmittelbar empfundenen Größen zweier Drehungswinkel auf die Größen der gesehenen Längen schließen, die als Sehnen ihre Bögen füllen, sondern dazu, dass die Endpunkte beider Längen und ihre Distanz zugleich auf den Punkt des deutlichsten Sehens gebracht werden. Wir sehen daher, dass der Messende bei einiger Ausdehnung der Linien von ihnen zurücktritt, und sie aus größerer Entfernung zu vergleichen sucht, wodurch ihre Bilder gegen die Stelle des deutlichsten Sehens zusammenrücken; vergliche er sie wirklich durch Muskelgefühle, so würde er vielmehr näher bleiben, weil dadurch die Drehungswinkel und mithin auch die absoluten Größen ihrer Differenzen wüchsen. Haben wir endlich die Länge zweier Linien zu schätzen, die zu groß sind, um auf einmal gesehen zu werden, so beschränkt sich die Vergleichung auf die Koinzidenz oder die Nichtkoinzidenz der Anfangs- und Endpunkte, während die absolute Größe der Raumstrecke, in welcher beide Linien neben einander verlaufen, nur unvollkommen nach der Drehungsgröße des Auges oder des Kopfes beurteilen wird. Durch alle diese Hilfsmittel sind nun sehr feine Schätzungen möglich; und E. H. Weber gibt an, dass es noch möglich sei, zwei Linien zu unterscheiden, deren eine um 0,05"' länger ist, als die andere (Wagners HWBch. HI, 2. S. 561).

337. Die Lage der Linien im Raume ist nicht ohne Einfluß auf ihre Größenschätzung; senkrechte Dimensionen werden für etwas größer gehalten als sie sind. Von zwei im Kreuz gestellten gleich langen Linien erscheint die vertikale größer; ein Oblongum, das auf seiner etwas größeren Seite ruht, halten wir leicht für ein Quadrat; stellen wir es auf die etwas kürzere Seite, so erscheint es nun mehr oblong, als es ist; teilen wir einen Quadranten in gleiche Winkel, so halten wir die der Horizontalen näheren für größer, so dass wir bei Beurteilung der Böschungen von Abhängen leicht Winkel von 45° zu sehen glauben, wo deren kaum von 30° vorhanden sind. Auch die Gewohnheit tut hier Vieles; man wird sich kaum bewußt sein, dass in dem Buchstaben s die obere Wölbung einen bedeutend kleineren Radius hat, als die untere; das umgekehrte s läßt dies sogleich erkennen. In unsern occidentalischen Typen sind wir gewohnt, Grundstriche und Haarstriche so verbunden zu sehen wie es der Zug der schreibenden Hand von links nach rechts verlangt, und dieser Eigentümlichkeit sind wir uns wenig bewußt; eine umgekehrte Schrift macht einen vollkommen andern Eindruck, und zeigt uns, welcher gemeinsame Charakter der Verzeichnung der aufrechten inwohnt. Dazu trägt bei, dass in den meisten Buchstaben, wie B, C, D, E, F, p, r, b, e, links ein gemeinsamer stützender Grundstrich vorangeht, dem nach rechts die charakteristische Füllung des einzelnen Buchstaben folgt, während z. B. in der hebräischen Schrift dieses Fulcrum rechts steht, und der Buchstabe sich nach links in seine Ornamente öffnet. Über manche Inconcinnitäten unserer Schrift, mangelnden Parallelismus der Grundstriche u. dergl. läßt uns ebenfalls die Gewohnheit hinwegsehn, wogegen bei umgekehrter Schrift alle diese Mängel einen befremdlichen Eindruck machen. Einen andern Einfluß dagegen, den Farbe, Helligkeit, Monotonie und Abwechslung auf die Größenschätzung ausüben sollen, kann ich nicht in gleicher Weise zugestehn. Lichte Farben und Helligkeit dehnen die Empfindungsbilder der Gesichtsobjekte etwas aus, wie sie ohne Zweifel auch die Netzhautbilder durch Irradiation ihrer Eindrücke auf die umgebenden Nervenfasern etwas vergrößern; eine weiße Linie auf schwarzem Grunde hat wirklich eine bedeutendere sichtbare oder scheinbare Größe, als eine schwarze auf weißem Grunde; weiße Flächen, nach der Ordnung eines Schachbretts mit schwarzen gleich großen gemischt, erscheinen durchgängig größer als diese, doch ist dieser Einfluß, da er stets nur an den Rändern der Figuren stattfindet, bei größeren Objekten nicht bedeutend. Behauptet man dagegen, dass ein Raum, in welchem das Auge große Mannigfaltigkeit, also viele Beschäftigung finde, uns größer erscheine als ein leerer oder monotoner, so müssen wir hier eine ästhetische Größenschätzung von einer mathematischen unterscheiden. Legt man eine leere Fläche und eine gleich große bezeichnete, karrierte oder gestreifte, nicht allzuweit neben einander, so empfinden wir sehr wohl, dass sie gleich groß sind; aber wir haben ein eigentümliches Gefühl, als sei die bezeichnete für ihren Raum, d. h. also für den Raum, den sie nach unserer Empfindung wirklich einnimmt, zu groß. Was wir zu bemerken glauben, ist bei solcher Vergleichung nicht eine größere Extension des erfüllten Raumes, sondern eine Art größerer Dichtigkeit seiner Erfüllung, ganz entsprechend der größeren Stärke der Erregung, die er uns verursacht. Gerade hierauf aber, wie sich an einem andern Orte einmal wird zeigen lassen, nämlich gerade auf dem Widerspruche des festumschlossenen Raumes, den ein Gebilde nicht verlassen kann, mit der Intensität seines Inhaltes beruhen viele ästhetische Wirkungen des Kontrastes zwischen monotonem Grunde und dem Relief seiner Füllung; Wirkungen, die hinwegfallen würden, wenn die Füllung wirklich extensiv größer wahrgenommen würde. Fehlt uns dagegen zur Vergleichung das Volle, so erscheint das gleich große Leere allerdings stets viel kleiner; ein unmöbliertes Zimmer viel zu klein, um die nötigen Geräte zu fassen, die unabgeteilte Außenseite eines Hauses lange nicht hinreichend, um die Reihe von Gemächern bilden zu können, die sie einschließt, beschneite Wiesen minder umfänglich, als bunt und abwechselnd bewachsene, wogegen freilich im hohen Schnee die Entfernungen sich zu vergrößern scheinen, indem schon nahe Gegenstände nur noch mit ihren Spitzen sichtbar sind. Auch die vielfache Wiederholung einer Dimension durch parallele Linien übt einen ähnlichen Einfluß auf ästhetische Größenschätzung; Längsstreifen der Damenkleider erhöhen den Wuchs; Querstreifen und karrierte Zeichnungen verbreitern ihn. Auch hiervon werden in den Künsten ebensowohl gelungene als gar häufig mißlungene Anwendungen gemacht, deren weitere Darstellung der Zweck dieses Buches einer andern Arbeit zu überlassen gebietet.

338. Die Bewegung eines Punktes im Sehfeld kann nur wahrgenommen werden durch die Veränderungen seiner Lage zu dem übrigen Hintergrunde und setzt daher das Zugleichsehen mehrerer Punkte notwendig voraus. Die Wahrnehmung geschieht sowohl durch den ruhenden, als durch den bewegten Blick. Rühren wir einen Haufen verschieden gefärbter Sandkörnchen um, blicken wir in einen Wasserstrudel, oder schauen wir dem Schneefall zu, oder beobachten wir endlich bei geschlossenem Auge die Bewegungserscheinungen, welche uns die Kapillarzirkulation im Auge selbst verschafft, so sehen wir überall eine große Anzahl Punkte ihre relative Lage zugleich verändern, die wir doch nicht alle zugleich mit der bewegten Augenachse verfolgen können. Übrigens lehren uns diese Beispiele, dass zur Beobachtung der Bewegung ein inhaltvoller Hintergrund mit unvertauschbaren festen Punkten nicht nötig ist; in dem Wasserwirbel oder Sandhaufen bewegt sich Alles; im geschlossenen Auge ist der Hintergrund nur einförmiges Dunkel, dessen kein Punkt sich vom andern unterscheidet. Die Bewegungen werden daher unmittelbar auch durch die Änderungen in den Distanzen vieler bewegter Punkte gemessen, und selbst für die verschiedenen Geschwindigkeiten, mit der mehrere Punkte sich zugleich bewegen, ist der ruhende Blick empfänglich. Zieht ein Punkt unsere Aufmerksamkeit vorzüglich an, so folgen wir ihm allerdings mit der Augenachse, so dass sein Bild beständig auf dieselbe Stelle der Netzhaut fällt, der übrigens in seiner inneren Zeichnung sich gleichbleibende Hintergrund dagegen stets auf andere. In dem letztern Umstande könnte ein Motiv zu liegen scheinen, den Hintergrund für bewegt, den einzelnen Punkt für ruhend anzusehen. Dies würde unzweifelhaft geschehen, wenn nicht die Drehung der Augenachse und die dadurch herbeigeführte neue relative Stellung des Auges zu unserm Kopfe als eine innere Veränderung unsers eignen anschauenden Apparates gefühlt würde um dieses Gefühls willen beziehen wir die Bewegung auf uns und auf den Punkt, dessen Stellung zu uns sich nicht ändert, sehen dagegen für ruhend an, was in Folge unserer eignen Bewegung nach entgegengesetzter Richtung sich bewegt. Sind daher alle Punkte des Sehfeldes in gegenseitiger Ruhe, so halten wir auch die Objekte im Allgemeinen stets für ruhend, obgleich ihre Bilder sich über die Netzhaut bewegen, so lange wir selbst das deutliche Gefühl einer von uns tätig ausgeführten Bewegung haben. Unserem bewegten, die Welt überlaufenden Auge scheinen daher die Objekte festzustehen; bewegen wir den ganzen Körper gehend fort, so kommen uns auch jetzt noch die Gegenstände meist ruhend vor und nur wir bewegen uns durch sie hindurch. Aber die Körperbewegung nach der Tiefe des Raums führt unvermeidlich eine fortwährende Verschiebung der seitlichen Gegenstände herbei, ihre Parallaxen ändern sich beständig, und es findet daher innerhalb des Sehfeldes eine ununterbrochene Änderung in den relativen Lagen der Punkte statt. Daher geraten bei einigermaßen schnellem Gehen auch dem Fußwanderer die Furchen der Äcker, die von beiden Seiten vertikal auf seinem Wege stehen, in eine kreisende Bewegung; wie die Speichen eines Rades drehen sie sich um den Gehenden als Mittelpunkt, so dass ihre entfernteren Endpunkte mit großer Geschwindigkeit einen weiten, die an den Weg stoßenden Enden mit geringerer einen kleinen Halbkreis um ihn beschreiben, um hinter ihm wieder zusammenzufließen. Dasselbe begegnet dem Fahrenden viel deutlicher, nicht nur wegen der größeren Geschwindigkeit, sondern auch wegen der Passivität seiner Bewegung. Wo wir nämlich uns keines Muskelgefühls bewußt sind, wie auf dem Schiffe, da muß das Sehfeld, indem jeder seiner Punkte über die Netzhaut fortrückt, selbst als bewegt erscheinen, ganz so, wie dann, wenn wirklich vor ruhendem Körper und Auge eine Welt mit eigner Bewegung vorüberzieht. Auf diese Punkte aber und unsere vielfachen Irrtümer über Ruhe und Bewegung der Objekte führt uns später die Betrachtung der Sinnestäuschungen ausführlicher zurück.