§. 29.
Von der Bedeutung der Nervenfaserung.

295. Für die physiologische Begründung der Lokalisation der Empfindungen schien keine Entdeckung wichtiger, als die des Bellschen Lehrsatzes und die des isolierten Verlaufes der Nervenprimitivfasern. Durch jenen wurde dargetan, dass experimentelle Reizung nur durch die vordern Wurzeln der Rückenmarksnerven Bewegungen, nur durch die hintern deutliche Zeichen von Empfindung hervorbringt. Wenn nicht mit völliger Gewißheit, so doch mit größter Wahrscheinlichkeit folgte hieraus, dass auch wirklich nur die hintern Wurzeln zur Vermittlung der Empfindungen bestimmt sind, und dass mithin die sensiblen Nerven jeder Störung ihrer empfindungserzeugenden Funktionen durch andere Leistungen entzogen sind. Die andere Entdeckung, indem sie zeigte, dass jede Primitivfaser bis zu den Zentralorganen fortläuft, ohne je mit anderen zu verschmelzen, oder sich zu teilen, führte sofort auf den Gedanken, dass diese Faserung zur Herstellung vollkommen abgeschlossener und isolierter Wege bestimmt sei, auf denen jeder Eindruck einer Körperstelle sich unvermischt und ungetrübt durch andere bis zu den Zentralorganen des Bewußtseins fortpflanzen kann. Dass neuere Untersuchungen eine Teilung der Primitivfasern an ihrem peripherischen Ende, und zwar in zahlreiche kurze Ästchen nachgewiesen haben, ändert in der Lage der Sache gar nichts; es wurde daraus im Sinne jener Ansicht nur folgen, dass alle die Eindrücke, die auf dem Gebiete einer solchen Verästelung entstehen, für einen einzigen Eindruck gerechnet werden müssen, oder wenigstens, dass die Lagenverschiedenheit dieser gereizten Punkte auf das Bewußtsein nicht mehr zu wirken vermag. Dies verstand sich jedoch auch früher von selbst; denn alle Punkte des Körpers sind sensibel, aber es kann nicht eine gleich unendliche Anzahl von Primitivfasern geben; ob nun auf dem Wege einer Verzweigung ihrer Enden oder wie sonst immer mußten eine Menge Eindrücke verschiedener Stellen in die Bahn einer einzigen Faser zusammengeleitet werden. Doch schien noch eine hinlänglich große Anzahl isolierter Fasern übrig zu bleiben um diejenige Anzahl unterscheidbarer Eindrücke zu erklären, die wir von den verschiedenen Punkten des Körpers wirklich erlangen.

296. An diese Voraussetzung knüpfte sich nun die berühmte Vorstellung von einer räumlich geordneten Entfaltung der Nervenprimitivfasern im Gehirn, so dass für die sensiblen in der Peripherie des Körpers eine Klaviatur läge, auf welcher die Reize die einzelnen Tasten anschlügen während in den Zentralorganen die einzelnen Saiten der Seele durch sie erregt würden; in dem Gehirn dagegen umgekehrt setzte man eine Klaviatur der motorischen Nerven voraus, auf welcher die Seele hin und her greifend die nötigen Bewegungsimpulse bewirke. Was nun die erste Meinung betrifft, die uns hier allein angeht, so übersieht man mit einem Blicke, wie ganz nutzlos an sich eine solche Entfaltung der sensiblen Fasern im Gehirn sein müßte. Dazu allein könnten die Fasern dienen, der Seele eine Anzahl von Anregungen unvermischt zuzuführen, die sich mischen würden; wenn sie nicht auf isolierten Bahnen geleitet würden; aber die räumliche Lage dieser Bahnen selbst und ihrer Endpunkte ist ja kein Objekt, welches die Seele im Gehirn noch einmal durch ein neues Sinnesorgan beobachten, und ebenso wenig ein solches, das sie unmittelbar nur deswegen weil es da ist, auch wahrnehmen müßte. Indem die Erregungen der letzten Nervenenden auf die Seele übergehen, werden sie doch unvermeidlich zu intensiven Zuständen, und wie ängstlich wir auch immer im Gehirn die Lage der peripherischen Angriffspunkte der Reize durch eine gleiche und kongruente Anordnung der zentralen Nervenenden festgehalten denken mögen, so bleibt doch beständig alle diese Regelmäßigkeit nur der anatomischen Lage der körperlichen Instrumente eigentümlich, und kann nie mit den Wirkungen, welche diese in der Seele erregen, sich auch auf die Empfindungen fortpflanzen. Doch wir sind darüber schon so weitläuftig gewesen, dass wir hier kurz das Resultat unserer Voraussetzungen aussprechen können: für alle räumliche Auffassung ist die Isolation der Nervenfasern und die Lage ihrer zentralen Enden nur insofern von Belang, als beide ein Mittel sind, jeden einzelnen Nervenprozeß mit einem qualitativ bestimmten Lokalzeichen zu versehen, durch welches seine spätere Einordnung in den Raum bedingt wird, in welchem die Seele ihre intensiven Wahrnehmungen wieder entfaltet. Und eben deswegen liegt nicht die geringste Notwendigkeit vor, sich die Lage der zentralen Punkte ähnlich oder kongruent der Lage der peripherischen Angriffspunkte vorzustellen. Wie sehr auch immer ein Nerv zwischen Sinnesorgan und Gehirn sich spalten, seine Fasern unter sich und mit andern mischen mag, immer wird es möglich sein, jeden einzelnen seiner Fäden in einer so abgemessenen Verbindung mit andern nervösen Elementen zu denken, dass er mit Hilfe dieser genau die seiner peripherischen Endstelle entsprechende Nebenbestimmung zu seiner funktionellen Erregung hinzu erwerben kann. Setzen wir ferner voraus, dass diese Lokalzeichen in der Erweckung bestimmter motorischer Tendenzen bestehen, so müssen wir sogar im Gegenteil behaupten, dass eine kongruente Lagerung der zentralen und der peripherischen Enden unmöglich sei, da die ersten stets mit motorischen Fasern innig durchwebt sein müßten, um für jede Primitivfaser die nötige Wechselwirkung mit motorischen Elementen zu gestatten.

297. Vorübergehend müssen wir hier ferner einer andern wichtig gewordenen Vorstellungsweise über die Lokalisation der Empfindungen gedenken, nämlich des sogenannten Gesetzes der exzentrischen Erscheinung. Wo auch immer ein empfindungserzeugender Reiz auf den Verlauf eines Nerven einwirke, überall werde die Empfindung selbst auf die Endigungsstelle des Nerven in der Peripherie bezogen. Über die tatsächliche Richtigkeit dessen, was man mit diesem Gesetze meint, haben wir später verschiedene Anlässe, die erhobenen Zweifel zu erwähnen. Einstweilen geben wir zu, dass eine große Anzahl häufig vorkommender subjektiver Empfindungen in der Peripherie des Körpers erscheinend, obwohl angeregt von Störungen der Zentralorgane, die Gültigkeit dieser Vorstellung stützen. Aber vor Allem ist ihr formeller Ausdruck ganz falsch und drückt weder eine bestehende Tatsache, noch eine ihr zu Grunde liegende allgemeine und notwendige Tendenz aus. Niemand versetzt subjektive Farbenempfindungen in die Netzhaut, Töne in das Ende des Hörnerven; beide werden auf den äußern Raum bezogen, in den wir auch die objektiven Reize dieser Nerven verlegen; nur die Empfindungen der Hautnerven glauben wir an ihrer peripherischen Endigung zu haben. Tatsächlich also scheinen wir die Empfindungen nur stets an denselben Ort zu versetzen, gleichviel, auf welchem Punkte des Nervenverlaufs sie erregt werden, nicht aber beziehen wir sie allgemein gerade auf das peripherische Ende des Nerven. Diesem Verhalten nun kann man anderseits auch nicht die Erklärung unterlegen, dass ursprünglich eine Tendenz in der Seele vorhanden sei, ihre Empfindungen allgemein auf diese Endstelle der Nerven zu beziehen, und dass nur die Erfahrung uns in Bezug auf die beiden höheren Sinne nach und nach eine andere Lokalisation gelehrt habe. Denn dies würde voraussetzen, dass die Seele noch vor aller Erfahrung eine Kenntnis von dem Dasein der Nerven, von dem Dasein peripherischer Endigungen derselben, und von der Lage dieser im Körper besitze. Dies alles ist nicht der Fall; das Nervenende ist vielmehr der Seele ein vollkommen unbekannter Punkt, und die Behauptung, sie verlege ihre Empfindungen nach ihm, ist gleichbedeutend mit der andern, sie verlege sie an einen Punkt, dessen Lage ihr unbekannt sei. Man irrt sich deshalb durchaus, wenn man von der vorausgesetzten organischen Eigentümlichkeit in der Funktion der Seele, welche man durch dieses Gesetz auszudrücken denkt, eine leichte Erklärung der Lokalisation der Empfindungen erwartet, und zwar so, dass man sofort ihre Beziehung auf einen bestimmten Punkt des Raumes dadurch erklärt glaubt. Alle physiologischen Hilfsmittel können der Seele unmittelbar nur relative Lagen der Empfindungsobjekte, gegenseitige Entfernungen derselben suggerieren die Gegend des äußern Raums oder des eignen Körpers zu bestimmen, auf welche ein solches Paar von relativen Lagen zu beziehen ist, lernt sie erst aus vielfältigen Erfahrungen. Was wir daher dem Gesetze der exzentrischen Erscheinung als wahrscheinlich zugestehen können, ist nur dies: die spätere Lokalisation der Empfindung hängt ab von dem Lokalzeichen, welches der empfindungserzeugende Nervenprozeß in den Zentralorganen sich aneignet je nach der Eigentümlichkeit des Elementes, mit welchem er dort vermöge der Lagerung der Fasern in Wechselwirkung tritt; auf die Gestaltung dieses Lokalzeichens hat mutmaßlich der Ort im Verlauf des Nerven, wo der Reiz einwirkte, oder die Länge des Wegs, welchen der empfindungserzeugende Vorgang bis zu den Zentralorganen zurücklegen mußte, keinen Einfluß; die Empfindung wird daher stets nach demselben Ort projiziert, mag der sie erzeugende Reiz den Nerven in der Peripherie oder im Zentrum oder im Verlaufe zwischen beiden getroffen haben.

298. Diese Betrachtungen alle sind nun überhaupt unter Voraussetzung der Ansicht gemacht, dass die Isolierung der Primitivfasern dazu nötig und bestimmt sei, um die einzelnen Eindrücke unvermischt zum Gehirn zu leiten und als Grundlage ihrer Lokalisation zu dienen. Aber verschiedene Erwägungen, und unter andern auch manche neuere Entdeckungen der mikroskopischen Anatomie scheinen auch hierüber etwas veränderte Vorstellungen zu verlangen. Es ist vor Allem ein sehr auffallender Umstand, dass wir einer Faserung des Nervenstammes auch in den Sinnesorganen begegnen, die weder zu einer gesonderten Fortleitung der Eindrücke, noch zu einer räumlichen Anschauung bestimmt und fähig sind. Über den Gehörnerven allerdings kann man zweifeln. Vielleicht wirken hier nicht alle Töne durch alle Fasern, sondern jede einzelne von andern noch unterscheidbare Tonhöhe erregt vielleicht eine einzige ihr entsprechende Nervenfaser. Allein wahrscheinlich ist diese Annahme doch keineswegs; man würde wenigstens erwarten müssen, dass nicht ganz selten durch krankhafte Einflüsse die Empfänglichkeit für einzelne Töne verloren gehe, während sie für andere fortbestände. Aber keine solche, den schwarzen Flecken im Sehfeld bei beginnender Amaurose ähnliche Erscheinung ist bis jetzt unter den Fällen der Taubheit gefunden worden. Ich halte deshalb die gewöhnliche Annahme für richtig, nach welcher alle Schallschwingungen auf alle Fasern wirken, und die einzelne Faser die Bestimmung zur isolierten Leitung eines Eindruckes nicht hat. Unzweifelhaft aber müssen wir ja doch diese Meinung für den Geruchs- und Geschmacksnerven geltend machen. Obgleich es möglich ist, auf verschiedenen Punkten der Zange verschiedene Geschmäcke zugleich zu haben, so ist doch weder hier noch im Geruchssinn die unterscheidbare Mannigfaltigkeit gleichzeitiger Eindrücke so groß, um, wie in dem Sehnerven, in einigem Verhältnis zu der Unzahl isolierter Fasern zu stehen. Dass endlich beide Nerven trotz dieser Zerfällung in viele Elemente keine Raumanschauung gewähren, ist bekannt, denn selbst die unbestimmte Vorstellung von einer gewissen Ausdehnung des Empfundenen, die wir allerdings haben, rührt ohne Zweifel von der gleichzeitigen Miterregung der sensiblen Fäden des Trigeminus her, welche das Tastgefühl und die Ortsempfindungen dieses Teiles der Schleimhaut vermitteln.

299. Nun wird man wohl nicht annehmen wollen, die Natur habe den Typus der Faserung, den sie ursprünglich für den Zweck der Isolation der Eindrücke befolgte, aus bloßer formaler Konsequenz auch da beibehalten, wo es nichts zu isolieren gibt. Vielmehr fordern uns diese anatomischen Tatsachen auf, überhaupt den Grund der Faserung in einem viel allgemeineren Verhältnisse zu suchen, welches jenen Zweck der Isolation zwar einschließt, aber nicht mit ihm zusammenfallt. Ein Überblick der Elementarteile des Körpers und ihrer Formen läßt uns hierzu einen Weg sehen. Es ist eine auffallende Tatsache, dass die kleinsten Bestandteile der organischen Wesen durch alle Klassen hindurch nicht nur in ihrer Form, sondern auch in ihrer Größe sehr bestimmt sind, und dass da, wo Größenunterschiede hervortreten, sie wieder so konstant sind, dass sie nicht ohne Zusammenhang mit den Funktionen der Teilchen zu sein scheinen. Die primitiven Zellen, als allmählich wachsende Elemente, werden allerdings der Beobachtung verschiedene Größen zeigen, aber sie bieten auch Maxima dar, über welche hinaus ihr Wachstum nicht geht, ohne krankhaft zu werden. Die Muskeln, die Sehnen finden wir gleich den Nerven, aus Fasern zusammengesetzt, deren Durchmesser nicht weniger bestimmt ist; das sympathische System gliedert sich, wie das cerebrospinale, in einzelne Primitivfasern, deren Dicke, obgleich vielfachen Schwankungen unterworfen, doch einesteils immer nur zwischen kleinen Werten variiert, anderseits in einem für die Funktion nicht unerheblichen Gegensatze zu dem durchschnittlichen Durchmesser der cerebrospinalen Fasern zu stehen scheint. Nie sehen wir die Primitivteile den engen Spielraum mikroskopischer Größen überschreiten, und größere zusammenwirkende Organe stets als eine Musivarbeit aus diesen kleinsten wirksamen Elementen kombiniert. Diese Tatsachen lassen mich vermuten, dass speziell auch die Faserung der Nerven gar nicht in unmittelbarem und einzigem Bezug zu der isolierten Leitung vieler Eindrücke steht, sondern dass sie vor Allem eine physisch notwendige Bedingung für das Zustandekommen aller Nervenprozesse und ihrer Leitung überhaupt ist, und daher auch da stattfinden muß, wo der Vorteil, den sie übrigens für die Isolation der Erregungen gewährt, nicht benutzt werden soll. Wir wissen noch nicht, worin der Nervenprozeß besteht, aber wir können es uns als möglich denken, dass er eine Form der Bewegung sei, die nicht in dicken soliden Zylindern, sondern nur in den mikroskopisch dünnen Fasern der Nerven fortpflanzbar wäre. Die Natur würde dann genötigt sein, die erforderliche Kraft der Einwirkung durch die Multiplikation dieser kleinen wirksamen Elemente zu erzielen, deren Vereinigung in einen einzigen Kanal von größerem Durchmesser die Möglichkeit der Leitung vielleicht aufhöbe. Eine solche Ansicht würde uns nebenher einen großen Wert auf jene Differenzen der Faserdurchmesser legen lassen, die man bisher als einzige unterscheidende Merkmale bei den verschiedenen Sinnesnerven angetroffen hat.

300. Dass wir nun unserer Hypothese eine bestimmtere physikalische Konstruktion nicht geben können, gestehen wir gern zu; doch kann ihre Ungewöhnlichkeit uns wohl abhalten, sie jetzt phantastisch weiter zu verfolgen, aber nicht dazu bestimmen, sie aufzugeben. Denn der allgemeine Gedanke, auf den sie sich stützt, dass nämlich die organischen Funktionen von den absoluten Größen der kleinsten Teilchen abhängig sind, wird durch eine die gesamte lebendige Welt umfassende Analogie hinlänglich unterstützt. Was nun anderseits die psychische Bedeutung der Faserung angeht, so ist sie natürlich, einmal vorhanden, eine sehr bequeme Einrichtung, um die ungestörte Fortleitung der Eindrücke zum Gehirn zu gestalten. Allein das isolierte Ankommen der Erregungen ist an sich gar kein psychischer Zweck, da die Eindrücke, welche sie in der Seele hervorbringen, doch in eine intensive Gemeinsamkeit zusammengehn müssen. Nur um mit jeder Erregung eine durch andere Nervenelemente zu vermittelnde Nebenbestimmung zu verbinden, kann die isolierte Leitung derselben Wert haben, und nur insoweit, als dieser Zweck es verlangt, können wir die ausschließliche Bestimmung einer Primitivfaserbahn für einen einzigen Eindruck voraussetzen. Wir werden später sehen, dass der Zweck der Lokalisation diese Voraussetzung nicht durchgängig erfordert, und dass sehr wohl eine und dieselbe Primitivfaser mehrere Eindrücke zugleich und doch so leiten könnte, dass sie in unserer Anschauung geschieden blieben und eine ganz bestimmte räumliche Lage gegeneinander einnähmen. Es würde nicht unmöglich sein, selbst mit sehr wenigen Primitivfasern die räumliche Auffassung unzähliger verschiedener Punkte zu bestreiten, wenn die allgemeineren physischen Verhältnisse, die wir oben vermuteten, eine beträchtliche Vergrößerung des Faserdurchmessers gestatteten.

301. Wir wenden uns jetzt von den Fasern zu einem andern Elemente, zu jenen Nervenzellen, die durch die erfolgreichen Untersuchungen der neuesten Zeit so große Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, und in deren Schätzung wir durchaus verhindert sind, den Meinungen beizustimmen, die wir von den geistvollsten Anatomen und Physiologen fast allgemein vertreten finden. "Es steht völlig fest, sagt R. Wagner (Nachrichten v. d. G. A. Univers. 1851. No. 14.) dass die beiden elektrischen Lappen des Zitterrochens als Hirnteile bloße Aggregate von sehr großen multipolaren Ganglienkörperchen sind, welche von einem sehr reichen weitmaschigen Gefäßnetze durchwirkt werden. Diese mehr oder weniger sphärischen Ganglienkörper können nicht eigentlich Zellen genannt werden, denn sie entbehren einer besondern Zellenmembran. Sie bestehen aus einer sehr feinkörnigen Masse, in welche ein großer durchsichtiger bläschenartiger Kern eingesenkt ist. Nach der Peripherie gehen von ihnen Fortsätze ab von doppelter Art; einzelne sind nicht ramificirt und gehen unmittelbar in gemeine doppelt contourirte Nervenfasern über; die übrigen bald ramificirten bald nicht verästelten Fortsätze dienen dazu, einzelne Ganglienzellen untereinander, bald näher bald entfernter liegende, in Verbindung zu setzen. Mit diesen Beobachtungen ist für die Anatomie der Nervenzentralorgane ein neuer und fester Boden gewonnen, und die Anschauungen, welche wir in jüngster Zeit besonders am menschlichen Gehirne erhalten haben, sind von so durchgreifender Analogie, dass sich darauf mit sehr großer Sicherheit die wichtigsten Schlüsse auf die Mechanik der Nervenfunktionen gründen lassen. Ganz analog den elektrischen Lappen sind jene Nervenkerne des vagus, accessorius, hypoglossus, trigeminus, insulare Anhäufungen multipolarer Ganglienzellen im grauen Keil, in der substantia ferruginea, am locus coeruleus u.s.w. welche Fasern entsenden, aufnehmen und unter sich durch feine Fasern brückenartig verbunden sind. Die Mehrzahl dieser Anhäufungen sind die Zentralorgane für gewisse Muskelgruppen, andere, wenn sie angeregt werden und in molekulare Oszillation geraten, bewirken die Hörerscheinungen, noch andere erregen in uns die Empfindung des Leuchtenden und es hat nichts Abenteuerliches, wenn wir von elektrischen, von motorischen, von Hör- und von Lichtzellen sprechen.

302. Dieser Deutung der Tatsachen scheinen mir bis jetzt erhebliche Bedenken entgegenzustehen, und selbst wenn spätere Erfahrungen sie bestätigten, würden wir doch gegenwärtig bestreiten müssen, dass sie mit genügendem Rechte aufgestellt werden dürfe. Ich würde zuerst die Folgerung von dem, was bei dem Zitterrochen gefunden wird, auf die Verhältnisse der übrigen Tiere ablehnen müssen, denn die Regeln der Untersuchung gestatten nicht, Einrichtungen, die zu einem spezifischen, nur einzelnen Gattungen eigentümlichen Zwecke getroffen sind, auf andere Gattungen überzutragen, denen dieser Zweck völlig fremd ist. Die bedeutende Entladung von Elektrizität, welche jenen Tieren möglich ist, bildet einen so exzeptionellen Fall, dass sie ohne Zweifel auch ganz besondere Apparate voraussetzt, deren Analoga wohl bei andern elektrischen Tieren, aber nicht in den Zentralorganen der Tierwelt überhaupt zu vermuten sind. Findet nun dennoch zwischen dem Baue der elektrischen Lappen und dem anderer Teile des Gehirns eine formelle Übereinstimmung statt, so scheint mir nur der Schluß gestattet, dass diese sich auf Verhältnisse beziehe, welche den elektrischen Funktionen und den übrigen Verrichtungen der Gehirnteile gemeinschaftlich zukommen; ich würde mithin folgern, dass die Ganglienzellen keinen oder fast keinen unmittelbaren Wert für das Seelenleben, sondern nur einen solchen für die Herstellung irgend einer physischen Bedingung haben, an welcher die Funktionsfähigkeit der Nerven hängt. Denn der Einfluß der Seele auf die elektrischen Organe kann nur als ein äußerst einfacher gedacht werden, als ein solcher, welcher lediglich einen Impuls hergibt, durch welchen das Gleichgewicht physischer Kräfte in den elektrischen Lappen aufgehoben und eine Entladung herbeigeführt wird. Man kann nicht glauben, dass die Elektrizität sich aus der Reibung von Vorstellungsmaßen erzeuge, so dass es nötig wäre, dem Seelenleben in seiner ganzen Breite einen Einfluß auf jene Organe zu sichern; vielmehr scheinen diese nur dazu bestimmt, die ganz ungewöhnliche Größe der elektrischen Entladung vorzubereiten, die sie dem Körper erteilen sollen, während sehr kleine elektrische Ströme zur Anregung aller übrigen gewöhnlichen Muskelfunktionen hinreichen. Finden sich nun ähnliche Anhäufungen von Ganglienzellen auch an den zentralen Endpunkten anderer motorischer Nervengeflechte, so werden wir der Analogie gemäß schließen, dass sie hier im Kleinen dasselbe leisten, was dort im Großen; sie mögen auch hier dazu dienen, einen Anstoß, der von der Seele überwirkt, zu multiplizieren, oder sonst auf irgend eine Weise die Nervenkraft oder ihre Erregung zu erhöhen und wiederzuersetzen. Werden endlich auch an andern Orten einzelne dieser Zellen durch Zwischenfäden in Verbindung gesetzt, so wird die Bestimmung dieser Einrichtung für psychische Zwecke hier eben deshalb fraglich, weil sie auch in den elektrischen Lappen vorkommt, wo eine Mannigfaltigkeit psychischer Zustände schwerlich zu kombinieren ist.

303. Allerdings sind wir weit entfernt, die wahre Bestimmung dieser Nervenelemente speziell angeben zu können; wir wissen namentlich nicht, wozu sie in den Ganglien der sensiblen Nerven dienen mögen; aber es lag auch nicht in unserer Absicht, eine Erklärung zu geben, sondern nur zu frühzeitigen Erklärungsversuchen zu begegnen, unmögliche abzuwehren. Zu frühzeitig scheinen mir aber die meisten Versuche zu kommen, so lange wir diese Elemente noch gar nicht in ihrem zeitlichen Verhalten kennen. Wir sehen sie für beständige an, aber mit welchem Recht? Leicht möglich, dass sie in fortwährender morphotischer Umwandlung begriffen sind, und wenn dies der Fall wäre, würden über ihre Bedeutung ganz andere Mutmaßungen wahrscheinlich werden, als wenn sie konstante Glieder der Struktur der Zentralorgane wären. Da wir uns nicht vorstellen können, dass die Nervenfasern unter immer erneuerten Erregungen beständig funktionsfähig bleiben sollten, da wir ferner in den einzelnen Fasern weder Blutgefäße noch sonst ein anderes der gewöhnlichen Hilfsmittel des Wiederersatzes finden, da im Gegensatz hierzu das Gehirn reich an Gefäßen und zugleich durch eine große Zahl jener eigentümlichen Elemente ausgezeichnet ist, so gründen wir hierauf im Allgemeinen unsere Vermutung, dass diese rätselhaften Zellen nicht zu besondern psychischen Funktionen, sondern zur Funktionsfähigkeit der Nerven überhaupt, vielleicht als Apparate zum beständigen Wiederersatz des Nervenprinzips, in Beziehung stehen. Hiermit wurde nicht übel die Tatsache stimmen, dass Fasern, nachdem sie einige Zeit von ihrem Zentralorgan getrennt gewesen sind, ihre Reizbarkeit verlieren. Was die letzten Äußerungen Wagner’s betrifft, so mögen sie gewiß nicht notwendig etwas Abenteuerliches enthalten, aber sie bedürfen einer sehr genauen Interpretation, um etwas Mögliches zu bedeuten. Davon kann wohl nicht die Rede sein, dass ein Haufen von Nervenzellen die Empfindung der Töne oder des Leuchtenden in sich erzeuge, sie können beide nur einen physischen Prozeß herstellen, unter dessen Einfluß die Seele jene beiden Empfindungen hervorbringt. Von psychischen Zellen zu sprechen, würde ich daher in jeder Weise widerraten; Licht- und Hörzellen sind mir wenigstens äußerst unwahrscheinlich. Physisch möglich ist es freilich, dass der Nervenprozeß, der durch den Opticus oder Acusticus zum Gehirn geleitet ist, noch immer nicht diejenige spezifische Form hat, durch die allein er die Seele zur Produktion von Licht oder Schall erregen könnte, und dass er nochmals der Einmündung in dieses Zellenparenchym bedarf, um die letzte nötige Transformation zu erfahren. Wo jedoch Gründe liegen sollten, welche die abermalige Einschiebung eines neuen Organs wahrscheinlich machten, bekenne ich nicht zu verstehen.

304. Auf diese Dinge nun überhaupt hier einzugehen, nötigt uns die Rücksicht auf Konsequenzen, die man, für die Psychologie sehr erheblich, aus der Überschätzung der Ganglienzellen gezogen hat. Man kannte sie zuerst in den Zentralorganen; sie fanden sich später in dem Opticus, dem Acusticus, dem Olfactorius. Man hielt sie früher für charakteristische Kennzeichen der Zentralorgane, und ließ sich durch diese spätern Entdeckungen dazu bestimmen, auch diese Nerven nicht mehr als Nerven anzusehen, sondern sie mit zu den Zentralorganen zu rechnen. Logisch zu rechtfertigen ist diese Folgerung gewiß nicht. Als man die Zellen in Nerven vorfand, die man bis dahin für peripherische Teile des Nervensystems zu halten allen Grund hatte, konnte man nur folgern, dass sie keine charakteristischen Merkmale von Zentralorganen sind. Sollte der andere Schluß gelten, so müßte unabhängig von aller Gegenwart oder Abwesenheit der Zellen die zentrale Natur jener Nerven vorher erwiesen werden. Man hat dies freilich mit Rückblick auf ihre Entwicklungsgeschichte versucht, allein wir wissen, dass die Verwandtschaft der Entstehung organischer Gebilde nicht im Mindesten einen sichern Schluß auf die spätere Verwandtschaft ihrer bleibenden Funktionen gestattet. Auf diese letzte aber kommt es hier an, und wir können es nur für einen Irrtum halten, wenn man um der Gegenwart der Nervenzellen willen jenen Nerven auch die Funktionseigentümlichkeiten der Zentralorgane zuschreibt.

305. Harless hat vor Kurzem (Wagners HWBch. IV. S. 402 ff.) zum Teil mit Rücksicht auf frühere Äußerungen meinerseits einige Reflexionen über diesen Punkt mitgeteilt. Sie sind mir jedoch nicht ganz so klar geworden, dass ich meine Gegenbemerkungen hier ausdrücklich gegen sie zu richten im Stande wäre; ich muß mich deshalb begnügen, die hierher gehörigen Meinungen so aufzufassen, wie sie ziemlich gewöhnlich vorgetragen werden. Man meint, dass die bewußte Empfindung nicht notwendig als Vorbedingung ihrer Entstehung die Fortleitung eines Eindruckes von dem Sinnesorgan in das Innere des Gehirns erfordere; sie geschehe vielmehr entweder vollständig oder zum Teil in dem Sinnesorgan selbst, und die Nerven, welche sich von ihm dennoch bis zu dem Gehirn fortziehen, seien den Commissuren im Innern des letztern selbst zu vergleichen, und bestimmt, auf irgend eine Weise die Aufnahme der einzelnen Sinneswahrnehmung in das allgemeine Ganze des geistigen Lebens zu vermitteln. So sei es der Fall in dem Auge und dem Ohre. Wir wollen diese Meinung in einzelne bestimmte Sätze spalten. Es ist zuerst nicht ungewöhnlich zu hören, dass die Empfindung selbst bereits in den Sinnesorganen entstehe; aber sie bedürfe der Fortleitung zum Gehirn, um von dem Bewußtsein wahrgenommen zu werden. Dass wir diesen Satz entschieden zurückweisen, versteht sich von selbst; denn da Empfindungen, die dem Bewußtsein plombiert zugeschickt würden, um von ihm eröffnet zu werden, eine zu affröse Vorstellung sind, so würde der Satz nur den erträglichen Sinn haben, dass schon die physische Affektion der Sinnesorgane selbst sogleich einen noch unbewußten Erregungszustand der Seele hervorrufe, dass aber erst die Fortleitung des Nervenprozesses zum Gehirn die neue Bedingung erzeuge, welche diese Erregung zur bewußten Vorstellung werden läßt. Konsequentermaßen müßte daher ein Schnitt, welcher den Nerven zwischen Sinnesorgan und Gehirn leitungsunfähig machte, zwar die bewußte Wahrnehmung der Reize hindern, könnte dagegen nicht verhüten, dass die Seele durch die Affektion der peripherischen Nervenenden in allerhand unbewußte Erregungen geriete. Es würde also dieser Meinung die Voraussetzung zu Grunde liegen, dass die Seele nicht einen lokalen Sitz im Gehirn habe, sondern mit allen Teilen des Körpers gleich unmittelbar in einem dynamischen Wechselverhältnis stehe; Unterbrechung der Nervenleitung würde nicht diese ihre Beziehung zu jedem einzelnen Punkte, sondern nur den gegenseitigen noch physischen Einfluß dieser Punkte auf einander sowie die Wirkungen aufheben, welche das geistige Leben von ihr als neue Entwicklungsmomente vielleicht erwartet und die allerdings nicht notwendig durch das endliche Zusammenkommen aller Erregungen in der Seele ersetzbar zu sein brauchen.

306. Wir wenden Nichts gegen diese letzte Hypothese ein; als wir von einem lokalen Sitze der Seele sprachen, haben wir hinlänglich angedeutet, dass wir räumliche Berührung nicht für die notwendige Bedingung aller Wechselwirkung halten, sondern dass wir nur dem Gesamteindruck der Erfahrung die Vermutung entlehnten, sie sei eine faktische Bedingung, unter welcher der Verkehr der Seele mit den Nervenelementen stattfinde. Wir können daher eine entgegengesetzte Annahme nur nach ihren Früchten beurteilen. Bleiben wir nun zunächst bei einer einfachen Empfindung, z. B. der des Roten stehen, so ist der Vorteil nicht zu begreifen, den es haben könnte, wenn in der Retina die Seele jenen unbewußten Eindruck erlitte, welcher dieser Empfindung zu Grunde liegt, während erst im Gehirn die ergänzende Bedingung hinzuträte, die ihn zur Vorstellung oder Empfindung des Roten integrierte. Der wahre Grund zu jener Hypothese liegt auch nur darin, dass man aus der räumlichen Kombination der erregten Nervenpunkte so wie sie im Sinnesorgan stattfindet, sogleich die ähnliche Raumordnung der empfundenen Elemente entwickeln möchte, so dass diese Arbeit schon hier, wo so regelmäßige Einwirkungen der Reize noch sichtbar sind, abgetan wäre, und den Nerven, in welchen die Forterhaltung derselben Regelmäßigkeit kaum denkbar ist, nur die Aufgabe bliebe, das fait accompli dieser geschehenen Wahrnehmung dem Bewußtsein entweder eben zum Bewußtwerden oder zum Zwecke weiterer Benutzung zu übergeben. Auf der Retina ist noch ein Bild des Objektes zu sehn, aber die Struktur des Sehnerven macht es nicht wahrscheinlich, dass dies Bild parallel mit sich selbst in ihm fortrücke, und auch auf jeder Durchschnittsfläche desselben bis zum Gehirn wiederkehre. Eilen wir daher, von dem Bilde Gewinn zu ziehen, ehe es in dem Durcheinanderlaufen der Sehnervenfasern zu Grunde geht. Zu diesem Grunde für jene Hypothese kommen noch andere, die ich hier übergehen darf; ich erinnere nur kurz, dass man gemeint hat, der Sehnerv enthalte überhaupt nicht so viel Fasern, als empfindliche Punkte auf der Netzhaut vorhanden sind, und könne deshalb die relative Lage der Empfindungspunkte nicht bis zum Gehirn leiten. Wie wenig aus diesem letzten Grunde eine Sinneswahrnehmung in der Netzhaut selbst hervorgeht, werden wir später sehen; für jetzt ist es notwendig zu fragen, ob denn eine unmittelbare Wechselwirkung der Seele mit der Retina auch nur die Vorteile gewähren könne, die man von ihr erwartet.

307. Zu diesem Zwecke nehmen wir der Klarheit zu Liebe an, dass sowohl unbewußter Eindruck als bewußte Empfindung beide in der Netzhaut geschehen, und denken uns die Seele ganz und gar in ihr gegenwärtig, und zwar gleichzeitig sowohl in der Netzhaut des einen wie des andern Auges. Diese Voraussetzung, beiläufig gesagt, mache ich nicht zur Verspottung jener Meinung; denn der lokale Ausdruck eines Sitzens der Seele hier oder da bezeichnet nichts weiter als das Statthaben einer Wechselwirkung zwischen ihr und umgebenden Elementen; eine solche aber kann recht wohl gleichzeitig zwischen ihr und mehreren räumlich getrennten Systemen von Teilchen stattfinden. Die Seele stehe nun also mit jedem Molekül der Netzhaut in diesem dynamischen Zusammenhange, der sie nötigt, die Erregung desselben durch die Empfindung eines farbigen Punktes wahrzunehmen; auf welche Weise wird sie nun außerdem auch noch zur Erkenntnis der gegenseitigen räumlichen Lage dieser Punkte kommen? Sie hat nicht ein neues Auge, um durch dessen gleich unerklärte Sehkraft das Bild auf der Netzhaut des ersten aufzufassen; sie ist auch selbst keine ausgedehnte Substanz, zusammenfallend mit der Ausdehnung der Netzhaut, so dass sie sich allemal in einem Punkte ihres Wesens erregt fühlen könnte, wenn die Retina in einem ihrer Punkte erregt ist; und wäre sie selbst eine intelligente Hohlkugel, so würde sie doch noch immer die relative Lage jener Punkte ihres eignen Wesens nicht unmittelbar erkennen können. Wo es auch immer sein mag, im Gehirn oder in der Retina, dass ein räumlich geordnetes System von Reizen auf die Seele einwirkt, überall wird sie davon unmittelbar nur eine Summe unräumlicher und intensiver Erregungen erfahren, und genötigt sein, sie in eine geometrische Anordnung wieder auszubreiten und überall kann sie dies nur vermöge der qualitativen Nebenbestimmungen, welche jeden Eindruck um seines lokalen Entstehungspunktes in dem Nerven willen begleiten. Man müßte deshalb voraussetzen, dass auch jede Netzhautstelle, indem sie gereizt wird, der Seele zwei innere Zustände zugleich verursache, einmal jenen, von dem die Qualität der Farbe, daneben aber den andern, von dem die relative Lage des zu empfindenden Farbenpunktes abhängt, und der selbst abhängig ist von der relativen Lage dieser Netzhautstelle unter ihren Nachbarn.

308. Wo suchen wir nun diese Lokalzeichen in der Retina selbst? Man könnte die Frage kurz durch die Antwort abschneiden, sie seien eben da, ohne uns bekannt zu sein; es sei faktisch so, dass jede Netzhautstelle der Seele eine eigentümliche Empfindung errege, durch welche sie das Wahrgenommene an bestimmte Örtlichkeiten zu verlegen gezwungen werde. Aber dies ist keine Erklärung, sondern das Aufgeben aller Erklärung durch Hinweisung auf unbekannte Motive, die für den Hergang sorgen werden. Leihen wir vielmehr dieser Ansicht ein Hilfsmittel. Es ist bekannt, dass nur eine Stelle der Netzhaut scharfe Empfänglichkeit besitzt, die Reizbarkeit der übrigen dagegen nach ihrem Rande zu stufenweis schwächer ist. Vielleicht nähme die Seele die Erregungen des reizbarsten Punktes als in der Mitte des Sehraums gelegen wahr und gruppierte um sie die der übrigen minder reizbaren Punkte nach den Gradunterschieden ihrer Sensibilität. Man muß nicht einwerfen, dass nicht immer das stärkste Licht auf die Stelle des deutlichsten Sehens falle, dass vielmehr glänzendere Punkte häufig am Rande des Sehfeldes erscheinen. Es handelt sich nicht um die Helligkeit, welche empfunden wird, sondern um die, um welcher wir empfinden, und Beides ist hier nicht identisch, wie mir scheint. Das Bild einer Lichtflamme, das von der Seite her auf unsere Netzhaut fällt, während wir ein viel weniger lichtstarkes Objekt geradeaus fixieren, erkennen wir wohl als etwas Helleres, empfinden es aber doch mit einer gewissen größeren Mattigkeit des Blickes, als den Gegenstand, der in der Richtung der Augenachse liegt, und dieses Nebengefühl könnte als ein von der Lage der Netzhautstelle abhängiges, von Qualität dagegen und Stärke des Reizes unabhängiges Lokalzeichen angesehen werden. Aber das Äußerste, was diese doch sehr mißliche Hypothese erzwänge, würde nur darin bestehen, dass die Punkte von gleicher Energie der Empfindung in der Peripherie desselben Kreises um den Ort des deutlichsten Sehens als Mittelpunkt lägen; ob aber rechts, links, oben, unten oder wo sonst, bliebe unentschieden, und würde ganz neue Bedingungen erfordern. Diese werden wir im Folgenden freilich selbst aufsuchen, aber ohne weiter auf diese Hypothese Rücksicht zu nehmen, die gar keine Vorteile gewährte, und nur die natürlichen Vorstellungen nutzlos verschob. Dass übrigens die Nervenzellen, die im Sehnerven sich finden, in jeder Weise nur als neue störende Elemente für die Lokalisation sich beweisen würden, wenn sie wirklich die ihnen zugeschriebene Übertragung der Erregungen von einer Faser zur andern bewirkten, ist leicht zu bemerken.