§. 23.
Vom Gemeingefühl.

247. So lange neben den Gefühlen zugleich die Empfindung des Zustandes oder des Reizes, der sie erregte, deutlich im Bewußtsein auftritt, erscheinen sie uns auch an diese Ausgangspunkte gekettet, und werden teils als angenehme oder unangenehme Eigenschaften der wahrgenommenen Objekte aufgefaßt, teils als lokale Begünstigungen oder Beeinträchtigungen der Körperteile, aus deren Affektionen sie hervorgehen. Nicht immer wird jedoch der Zustand, welcher die Gefühle veranlaßt, selbst Gegenstand der Wahrnehmung, und sie erscheinen dann abgelöst von ihm als innere Ereignisse, die sich weder auf ein äußeres Objekt noch auf bestimmte Teile des Körpers beziehen lassen. Dies ist für gewisse Reize beständig der Fall; der Eindruck zum Beispiel, welchen das Blut auf die Nerven hervorbringt, und der bei abnormer Mischung desselben in hohem Grade ihre Tätigkeit verändert, wirkt in den Kapillargefäßen so gleichmäßig auf alle Nervenendigungen, dass eine lokale Beziehung seines Einflusses auf irgend einen Körperteil unmöglich ist, und doch muß die Größe der nützlichen oder schädlichen Wirkung, die er ausübt, ein Gegenstand des Bewußtseins werden können. Sie wird es unter der Form eines allgemeinen Gefühls, das wir nur auf unsere körperliche Existenz im Ganzen beziehen können. Aber der gleiche Fall findet sehr häufig auch für Reize statt, die neben ihrem Gefühlswert sonst noch empfunden zu werden pflegen. Oft werden diese Empfindungen nämlich im Bewußtsein durch andere Vorstellungen verdrängt, die für einen eben festgehaltenen Gedankenlauf ungleich größern Wert besitzen; aber diese Schwächung der Perzeption des Reizinhaltes hebt nicht zugleich das Gefühl der förderlichen oder niederdrückenden Einwirkung auf, die er ausübt, und so kann auf unsern Gedankenlauf als unbestimmbares Gefühl der Schatten eines organischen Vorganges in uns fallen, dessen Gestalt und Inhalt dem Bewußtsein entgeht. Häufig auch mag die störende oder begünstigende Nachwirkung eines Reizes weit länger dauern als die funktionelle Erregung des Nerven, die seinen Inhalt zum Bewußtsein brachte; dann stehen wir unter der Herrschaft eines nachwogenden Gefühls, dessen unmittelbare Veranlassungen längst auf uns zu wirken aufgehört haben. Beispiele für den ersten Fall geben uns widerliche Gerüche, unangenehme Geräusche, über deren Wahrnehmung uns eine angestrengte Aufmerksamkeit auf andere Dinge wohl hinwegführt, ohne doch uns das Gefühl eines fortdauernden Unbehagens zu entfernen. Erfahrungen des zweiten Falles machen wir oft, wenn nach einem Ärger, einem Schreck, einer Trauer, deren Gründe vielleicht schnell gehoben sind, doch eine Niederdrückung des Gefühls zurückbleibt, die durch aufregendere Reize der Gegenwart nicht sofort überwunden wird.

248. Zu diesen Gefühlen, deren Ursachen während des Streites der Vorstellungen gegen einander aus dem Bewußtsein verschwunden sind, gesellen sich andere, die an sich zu schwach und zu zahlreich sind, um die Aufmerksamkeit auf die Empfindungen zu lenken, von denen sie etwa begleitet werden, oder die durch organische Einrichtungen überhaupt an der Erregung deutlicher Empfindungen verhindert sind. Schon früher haben wir die Behauptung aufgestellt, dass keine Empfindung ohne alles Gefühl verlaufe, dass eine Spur des letztern vielmehr alle jene unzähligen kleinen Erregungen begleiten müsse, welche dem Körper teils durch die unablässigen äußern Reize, teils durch die inneren Impulse der Bewegung mitgeteilt werden. Diese unzählbare Mannigfaltigkeit kann nicht mit gleicher Deutlichkeit im Bewußtsein auftreten, und da Empfindungen unvergleichbaren Inhaltes sich nicht zu einer Resultante vereinigen können, so gehen die meisten derselben der Aufmerksamkeit ganz verloren; die Gefühle dagegen, welche sie begleiten, sind nicht durchaus ebenso unvergleichbar, sondern da sie nur Ausdrücke des Störungswertes der Erregungen sind, so können sie als analoge Ereignisse sich zu einer Summe zusammensetzen, groß genug, um im Bewußtsein als ein Gefühl merklich zu werden, das wieder auf kein bestimmtes Objekt und keinen bestimmten Teil des Körpers beziehbar ist. Anderseits wissen wir, dass die Veränderungen der inneren Organe, deren Funktionen dem sympathischen Nervensystem unterworfen sind, in ihrem gewöhnlichen Verlauf durch die Struktur dieses Nervengebietes und seine Leitungsverhältnisse dem Bewußtsein entzogen sind, so dass nur in wenigen Fällen erhöhter Erregung von diesen Organen aus sich lokalisierbare Empfindungen der Wahrnehmung zudrangen. Dagegen erregen die Funktionen dieser Organe nicht nur bei bedeutenden krankhaften Störungen lebhafte Schmerzen, sondern schon bei leichteren Veränderungen, die noch in die Breite einer erträglichen Gesundheit gehören, sehr deutliche Gefühle. Von dem, was in unsern Lungen sich ereignet, haben wir nie die geringste Empfindung; aber eine behinderte Respiration erzeugt ein Angstgefühl, das unser Bewußtsein lebhaft affiziert. Gleichwohl ist es an sich nicht lokalisierbar, und so sehr wir unter seinem Einfluß leiden, würden wir doch wahrscheinlich seinen Ursprung nicht anzugeben wissen, wenn nicht die unwillkührlichen Bewegungsversuche, die es in den Respirationsmuskeln hervorruft, uns auf seine Quelle leiteten. Aber es gibt andere Zustände ähnlicher Art, in denen dieser Anhalt fehlt. In Krankheiten, deren Entstehung aus einer Verstimmung der Unterleibsnerven durch andere Gründe außer Zweifel gesetzt wird, findet sich oft eine quälende Angst und Beklemmung ein, ohne dass irgend ein lokalisierbarer Schmerz den Sitz der veranlassenden Störung andeutete. Ist daher auch das Gebiet der sympathischen Nerven gegen das Bewußtsein nicht so abgeschlossen, dass nicht die chemischen oder mechanischen Veränderungen seiner Teile uns ganz; eigentümliche Gefühle zuführen könnten, so sind doch diese nie von deutlichen Empfindungen eben jener Veränderungen begleitet, und scheinen selbst lokalisierbar nur dadurch, dass die Erregungen der sympathischen Nerven sich auf nahe gelegene Fasern der Cerebrospinalnerven übertragen. Man muß endlich hinzufügen, dass diese inneren Teile nicht so vereinzelt stehen, wie ein Muskel oder eine empfindliche Hautstelle, die nur ihre eigenen individuellen Zustände dem Bewußtsein zuführen. Zusammengeordnet zur Betreibung einer gemeinschaftlichen Arbeit der Ernährung und des Wiederersatzes, kommunizieren ohne Zweifel diese Teile ihre Zustände in viel höherem Maße, als jene, und den Zentralorganen des Bewußtseins wird nicht jede einzelne ihrer Erregungen, sondern häufig wohl nur die resultierende Störung oder Förderung zugeleitet, die aus ihnen für die Tätigkeit einer enger zusammengehörigen Gruppe von Organen entstand. Alle diese Umstände tragen bei, um diese Gefühle von Haus aus nicht zu feiner objektiver Beziehung auf äußere oder innere Reize zu befähigen.

249. Mit der Unzahl kleiner Empfindungen und Gefühle, welche uns fortwährend die Sinnesnerven, die der Haut und der inneren Organe zuführen, verbinden sich endlich die nicht minder mannigfachen Gefühle von dem Grade der lebendigen Anspannung oder der müden Erschlaffung unserer Muskeln, und setzen mit ihnen jenes Allgemeingefühl oder Lebensgefühl zusammen, welches dem Bewußtsein nicht nur die ganze Summe und Elastizität der vorhandenen disponiblen Lebenskraft zur Wahrnehmung bringt, sondern zugleich eine spezifische Anschauung der eigentümlichen graziösen oder ungeschickten, schwungkräftigen oder schwerfälligen Art des ganzen Daseins unterhält, durch welche der Einzelne seine eigene Persönlichkeit vor sich selbst vielleicht mehr, als durch allen andern Inhalt charakterisiert. Mit diesen sinnlichen Gemeingefühlen hängen ästhetische und moralische Neigungen nahe zusammen. So wie Tätigkeit, Kraft, individuelle Neigungen des Körpers zu einzelnen Bewegungen sich unter ihrem Einflusse verschieden gestalten, so bildet sich auch eine individuelle Vorliebe für diejenige Art der Kunstgenüsse oder des Handelns aus, deren Übergänge in strenger Konsequenz oder zerschmelzender Weichheit, in leise motiviertem Übergleiten oder springenden Kontrasten, in gerundeteren oder eckigeren Formen dem gewohnten Wechsel dieser Lebensgefühle entsprechen.

250. Unsere Bestimmung des Gemeingefühls trifft nicht durchaus mit den üblichen Definitionen desselben zusammen, obgleich die Auffassung, der wir folgten, in neuerer Zeit gewöhnlicher zu werden beginnt. Man bezeichnet häufig das Gemeingefühl als das uns zukommende Vermögen, unsern eigenen Empfindungszustand, z. B. Schmerz, wahrzunehmen, und unterscheidet es daher von dem Vermögen eine Empfindung zu haben, die wir als einen von unserm Empfindungszustande verschiedenen Gegenstand auffassen können, z. B. die Empfindung einer Farbe oder eines Tones. Es kann sich nun hier nicht sowohl um die Bedeutung handeln, welche man dem Namen Gemeingefühl gibt, als vielmehr darum, ob die Unterscheidung, die dieser Erklärung des Namens zu Grunde liegt, eine psychologisch hinlänglich bedeutsame ist, und ob sie das zusammenfaßt, was vereinigt, das trennt, was getrennt werden muß. In dieser Hinsicht kann ich der erwähnten Definition nicht beitreten. Was mir nämlich vor Allem getrennt werden zu müssen scheint, das sind die gleichgültigen Wahrnehmungen eines lnhaltes und die der Lust oder Unlust. Denn diese beiden Perzeptionen sind psychologisch wesentlich verschiedene Elemente, die sich keineswegs auf nur graduelle oder formelle Abwandlungen derselben geistigen Tätigkeit, sondern nur auf qualitativ verschiedene Fähigkeiten der Seele zurückführen lassen. Da für beide die Sprache die unterschiedenen Namen der Empfindung und des Gefühls darbietet, so würden wir undankbar gegen diesen Reichtum derselben sein, wenn wir nicht beide, so wie wir getan haben, als Bezeichnungen jener verschiedenen psychologischen Elemente verwendeten. Auch ist in diesem Sprachgebrauche die Philosophie längst der in Bezug auf die Synonymik geistiger Ereignisse sehr verworrenen Physiologie vorangegangen. Eine viel untergeordnetere Rücksicht ist es dagegen, ob unsere Wahrnehmungen sich auf äußere Objekte deuten lassen oder nicht. Denn ursprünglich sind sie alle, Empfindungen sowohl als Gefühle, nur mit ihrem qualitativen Inhalt im Bewußtsein, und geben sich weder subjektiv noch objektiv; d. h. sie werden unmittelbar weder auf äußere Objekte bezogen, noch auch im Gegensatze zu dieser Beziehung als Bestimmungen des subjektiven Daseins wahrgenommen. Alle und jede Deutung auf einen dieser beiden Beziehungspunkte, weit entfernt, zu ihren ursprünglichen Eigenschaften zu gehören, ist vielmehr nur ein Schicksal, das ihnen im Verlauf des geistigen Lebens zustößt. Und auch das nicht so, als würde die eine Klasse der Wahrnehmungen beständig und mit gleicher Leichtigkeit objektiviert, die andere dagegen niemals. Gleichgültige Empfindungen lassen sich freilich leichter als Eigenschaften äußerer Gegenstände fassen, die Gefühle der Lust und Unlust schwieriger; dennoch gibt es Empfindungen, wie die der Temperatur, bei denen wir oft schwanken, ob wir sagen sollen, (dass äußere Wärme vorhanden, oder dass uns warm sei; und umgekehrt tragen wir Gefühle, wie die des Geruchs und Geschmacks ganz so wie die Empfindungen der Farben, auf die Objekte über, und wie wir einen Gegenstand rot nennen, so nennen wir ihn auch unangenehm, widrig und ekelhaft. Am allerwenigsten kann in dem Namen des Gemeingefühls eine Andeutung gefunden werden, dass die Wahrnehmungen, die es bezeichnet, mehr als andere nur die subjektiven Zustände des eignen Ich zum Bewußtsein brächten; vielmehr drückt das Wort offenbar einen resultierenden Gesamteffekt und seinen Wert für das ganze Leben im Gegensatz zu einzelnen Gefühlen aus.

251. Die verschiedenartigen Gemeingefühle zu schildern, welche der allmähliche Entwicklungsverlauf und die periodischen Schwankungen des gesunden Lebens so wie die krankhaften Störungen herbeiführen, würde teils an sich eine unvollendbare Aufgabe sein, teils nur Wert für uns haben, soweit sich der Einfluß dieser verschiedenen Färbungen des Gefühls auf das Ganze des geistigen Lebens schätzen ließe. Einem späteren Orte vorbehaltend, was hierüber sich bemerken läßt, wollen wir gegenwärtig noch eine allgemeinere Betrachtung hinzufügen. Ich habe schon früher erwähnt, wie unsicher man die Gefühle vorzugsweis an gewisse Größen der Erregung geknüpft denkt. Wir müssen jetzt erinnern, wie prinziplos und unrichtig häufig der Gebrauch dieses sehr unschuldig scheinenden Begriffs ist, dem man in der Physiologie so oft begegnet. Fast überall finden wir von Größe der Erregung so gesprochen, als ließen sich die verschiedenartigen Nerventätigkeiten gleich einfachen geradlinigen Bewegungen betrachten, deren ganze Unterschiede in ihren durch die Glieder der Zahlenreihe ausdrückbaren Geschwindigkeiten beständen. Aber man weiß, dass die Physik, sobald sie nicht bewegte Punkte, sondern bewegte Körper voraussetzt, den Begriff der Bewegungsgröße nur noch durch das Produkt der Masse in die Geschwindigkeit ausdrücken kann. Wie ungleich verwickelter muß nun dieser Begriff schon werden, wenn er nicht mehr auf eine einzige abgeschlossene Masse, sondern auf die unzähligen heterogenen, mit einander nicht nur räumlich, sondern durch größtenteils unbekannte Beziehungen auch dynamisch verbundenen Teile eines Nerven angewandt wird; wenn ferner die Veränderungen, welche diesen Teilen widerfahren, vielleicht Schwingungen sind, deren Weite und Frequenz unabhängig von einander nach besondern Skalen wachsen oder sinken können, wenn endlich der ganze Prozeß überhaupt nicht mehr ausschließlich in dem Gebiete mechanischer Bewegungen verbleibt, sondern zum Teil durch chemische Umwandlungen des bewegten Substrates verläuft? Gewiß würde niemand so leicht eine Formel anzugeben wissen, durch welche direkt die Größe eines solchen Komplexes von Veränderungen gemessen werden könnte; man würde vielmehr dem Verfahren der Physik folgen müssen, sie indirekt nach der Größe der einfachen Bewegung zu schätzen, welche der Komplex durch Übertragung aller seiner wirkungsfähigen Impulse an ein bekanntes und einfaches Substrat in diesem zu erzeugen vermöchte. Aber auch auf diesem Wege würde die Physiologie nur vergleichende Maße des nutzbar zu machenden Effektes gewinnen, der aus der Bewegung des ganzen komplizierten organischen Systems entsteht; sie würde dagegen nichts erfahren über die große Menge von Veränderungen seiner Teilchen, die, weil sie etwa in entgegengesetztem Sinne geschehen, sich aufheben und für die Größe der übertragbaren Wirkung verloren gehen. Aber auch diese verlorenen Bewegungen haben für die Physiologie ein hohes Interesse. Denn sobald die Voraussetzung richtig ist, dass die Funktionsäußerungen der Nerven ihre Kraft konsumieren und ihre Mischung ändern, eine Voraussetzung, die durch so viele Erscheinungen bekräftigt wird, so werden alle jene Bewegungen, die für die Mitteilung nach außen verloren sind, doch eine gewisse Größe der Abnutzung hervorbringen. Alle gleichzeitigen Reize, die auf den Körper wirken, würden also zusammengenommen einmal eine gewisse Summe von Bewegungen in ihm hervorrufen, anderenteils eine gewisse Summe der Abnutzung. Wäre der Organismus ein in seinem chemischen Bestande unveränderliches System elastischer Massen, so würde, in weiten Grenzen wenigstens, nur das erste stattfinden; da der Körper aber konsumiert wird durch seine Verrichtungen, so erschüttert der Reiz die Teilchen nicht nur innerhalb der Grenzen ihrer Elastizität, sondern führt sie in einen organisch nicht weiter benutzbaren Zustand über.

252. Dass nun die Empfindungen von der Größe und Form jenes ersten Prozesses, der Erregung, abhängen, glauben wir gewiß zu wissen; aber man kann nicht ohne Weiteres die Gefühle von dem andern, der Abnutzung, abhängig machen. Sie würde nur Unlust erklären, und zur Deutung der Lust wäre uns doch die Annahme nicht möglich, dass in ihr das Gegenteil einer Abnutzung stattfinde; auch würde die Abnutzung selbst, als bloße Tatsache, überhaupt noch kein Motiv des Gefühls sein können, sondern dadurch erst, dass sie auf die Seele irgendwie einwirkte, d, h. dass sie Bestrebungen zum Ersatz des Verlustes hervorriefe, an deren Größe ihre eigene geschätzt werden könnte. Von dem Gemeingefühl endlich würde man vorauszusetzen geneigt sein, dass es den Eindruck aller der Verluste oder der Gewinne aufsammelte, die dem Körper durch die fortdauernden Reize zugefügt werden, und dass es also das natürlichste Maß des Nutzens oder Schadens darstelle, welchen die Gesamtsumme aller Erregungen in ihm zurückgelassen. Wir werden jedoch sogleich sehen, dass diese Annahme nicht überhaupt richtig ist, und wollen unsere Meinungen über diese Gegenstände in folgende Hypothesen zusammenfassen. Sobald die Erregung entweder durch ihre Größe oder durch ihre ungünstige Form dem Nerven Verluste verursacht, die durch den gewöhnlichen Wiederersatz nicht gedeckt werden können, entsteht ein Gefühl der Unlust; es steigt mit der steigenden Erregung und mit der sinkenden Ersatzkraft des Nerven. So lange die Erregung Verluste verursacht, die durch gewöhnliche Größe der beständigen Ernährung ausgleichbar sind, entsteht kein Gefühl, sondern ein indifferenter Zustand der Empfindung. Wenn endlich die Erregung das gewöhnliche Niveau der Nerventätigkeit in einer Form übersteigt, die zwar beträchtliche Verluste, zugleich aber eine ebenso bedeutende Steigerung der ersetzenden Tätigkeiten herbeiführt, so entsteht ein Gefühl der Lust. Beide, Lust und Unlust, hängen daher von positiver Überschreitung sowohl der gewöhnlichen Bewegungsgröße, als der gewöhnlichen Abnutzung im Nerven ab, nur die erste so, dass die größere Tätigkeit ohne momentane Zerstörung ertragen wird.

253. Für den einzelnen Nerven nun kann allerdings die Steigerung seiner Tätigkeit von dem Gesamtorganismus aus bestritten werden; der letztere selbst aber leidet allemal, mag die Erregung im Einzelnen Lust oder Unlust bewirkt haben, denn er kann die Verluste, die ihm selbst aus seiner Aufopferung für die einzelne Tätigkeit entsprangen, nicht aus Nichts, sondern nur durch Benutzung der noch nicht organisierten Hilfsmittel ersetzen, die ihm entweder das innerhalb des Körpers aufgehäufte Ernährungsmaterial oder die äußern Reize darbieten. Lust und Unlust höherer Grade erzeugen daher beide zuletzt Ermüdung und Erschöpfung des Ganzen; häufig geht Lust in Unlust über, weil die Unterhaltung des höheren Wiederersatzes, auf dem sie beruht, nicht dauernd möglich ist; Unlust stumpft sich ab oder geht selbst in Lust über, indem umgekehrt ein Nerv die Gewohnheit größerer Regsamkeit seines Wiederersatzes annimmt, und wenn diese Nachwirkungen sehr wandelbar sind, so hängt dies großenteils davon ab, ob die Form einer Gefühlserregung dem Organismus die Benutzung der Ersatzmittel leicht macht, durch die er sich dem allemal schädlichen Effekt ihrer Größe entziehen kann. Heftiger Schmerz oder Gram ist nicht bloß quantitativ eine bedeutende Gefühlsgröße, sondern auch formal eine solche, welche das Spiel der Ersatztätigkeiten, der Respiration, der Verdauung und Anbildung unterdrückt; Freude, in ihren überwallenden Äußerungen vielleicht ein physisch unmittelbar noch mehr aufreibendes Gefühl, läßt doch jene kompensierenden Funktionen teils unbeeinträchtigt, teils erhöht sie dieselben. Endlich müssen wir hinzufügen, dass das Gemeingefühl, wie wir schon andeuteten, nicht sowohl von der vorhandenen Tatsache einer Störungsgröße, als vielmehr von ihrer möglichen Einwirkung auf das Bewußtsein abhängt. Nach der größern oder geringern Nähe ihres Zusammenhangs mit den Zentralorganen erregen daher die Leiden der einzelnen Körperteile Gefühle, deren Art und Größe nicht überall in richtigem Verhältnis zu der Gefahr ihrer Veranlassungen steht. So entspricht zwar in einigen Krankheiten, wie im Icterus, die allgemeine Apathie der wirklich allgemeinen Störung der Nervenfunktionen; dagegen entsteht in andern durch die Affektion einzelner Organe eine unverhältnismäßig große Depression der Stimmung, während in noch andern, wie in manchen perniziösen Blutentmischungen, sogar ein Teil der gefährlichen Störung als außerordentliches Wohlsein gefühlt wird.