§. 14.
Realistische und idealistische Auffassungen.

137. Die Versuche zu Theorien der Erscheinungen können nirgends unabhängig von allgemeinen metaphysischen Überzeugungen sein, und nach der Verschiedenheit dieser hat auch in der Psychologie ein Kreis realistischer Ansichten sich einem andern idealistischen gegenübergestellt. Beide freilich werden die mannigfaltige und widerspruchreiche Welt der Erfahrung als Erscheinung oder Konsequenz an den feststehenden Hintergrund einer wahrhaft und absolut seienden Welt zu knüpfen suchen, aber sie weichen ab in der Bestimmung der Gestalt, die sie dieser unveränderlichen und nicht wieder zurücknehmbaren Grundlage der Dinge geben. Der Realismus, zum Unternehmen einer Untersuchung überhaupt nur aufgeregt durch die Widersprüche und Lücken, die der Tatbestand der Erscheinungen zeigt, und durch die sie in Streit mit den notwendigen Gesetzen des Denkens geraten, wird seine Untersuchung auch wieder schließen, wenn er die Erscheinungswelt auf eine solche Welt des Seins zurückgeführt hat, in welcher alle Widersprüche ausgeglichen sind, und von der aus gleichwohl begriffen werden kann, wie der widerspruchvolle Schein der Erfahrung für uns entstehen konnte. Alles was geschieht und erscheint, erklärt er aus der Natur dessen, was ist; was aber widerspruchlos und unveränderlich, ist, das ist auch absolut, und bedarf keine Rechtfertigung seines Daseins. Dem gegenüber gibt zwar auch der Idealismus zu, was geschehe, sei zunächst zu erklären aus dem, was ist; das Mannigfache aber, was ist, stehe nicht auf eigenen Füßen, sondern erhalte Form und Wert seines Daseins allein von dem, was gleichzeitig ist, und um seines innern Wertes willen sein soll. Dass in der Welt überhaupt Vernunft herrsche, dass nicht das Gleichgültige sei, sondern das Bedeutungsvolle, diese Voraussetzung läßt den Idealismus sich nicht damit befriedigen, der Welt unbestimmt viele Anfänge in einer Reihe von Dingen zu geben, deren jedes ist, was es nun einmal ist, und zum Geschehen beiträgt, so viel es nun eben seiner Natur nach muß. Immer wird zwar auch der Idealismus die Welt der Erscheinungen auf eine solche Welt der Dinge als auf ihre nächste Basis zurückführen, aber er wird diese Welt der Dinge nur in einer relativen Position fassen, zurücknehmbar und abhängig von dem Einzigen, dem absolute Position um seines Wesens willen zugehört. Ist einer realistischen Auffassung nur das Reich der widerspruchsvollen Erscheinungen ein Rätsel, die Reihe der widerspruchsfreien Dinge seine Auflösung, so würde dem Idealismus die Existenz dieser Dinge ein neues Rätsel sein, seine Lösung nur der Nachweis, wie alles Seiende zugleich in einem idealen Plane der Welt seine notwendige Stelle und seinen Beruf zum Dasein hat.

138. Der Realismus hat zuletzt in Herbarts System culminiert, mit aller Kraft des Scharfsinns ausgerüstet, die ihm ein reicher und ernster Geist geben konnte. Den Schein des Weltlaufs deutet er auf eine Vielheit realer Wesen zurück, die als das allein feste und absolute Dasein der Veränderlichkeit und Relativität der Erscheinungen zu Grunde liegen. Um aber jenes absolute Dasein ertragen zu können, müssen diese Wesen aller inneren Vielheit und aller Abhängigkeit nach außen ledig sein. Ihre unbekannte Qualität ist einfach und unveränderlich; weder eine Vielheit von Teilen findet sich in ihnen, noch eine notwendige Beziehung auf ein Äußeres, die der Unbedingtheit ihrer Position Eintrag tun würde. Völlig selbstgenügsam existiert jedes in seiner Welt für sich, und obwohl es in Beziehungen zu anderen geraten kann, so sind ihm diese doch weder notwendig, noch greifen sie in sein Inneres ein; unveränderlich seiner Natur nach erhält es sich selbst gegen jede Störung, die uns aus dem Zusammensein mit anderen Wesen ihm zu drohen schiene. So wie der übrige Weltlauf auf einer unbestimmbaren Anzahl jener realen Wesen ruht, so bildet ihrer eines auch den Mittelpunkt jedes psychischen Lebens. Auch die Seele ist ein reales Wesen, dessen durchaus einfache, unveränderliche Qualität uns unbekannt bleibt, von dem wir aber eines wissen, was wir von keinem andern Wesen erfahren, dies nämlich, dass alle Selbsterhaltungen der Seele in Vorstellungen bestehen. Auf diesen beiden Hypothesen beruht das Gebäude psychologischer Theorie, das Herbart aufgeführt hat. Aus der formellen Natur der Seele als einfachen Wesens müßten sich die Gesetze dessen ergeben, was ihr zustoßen und was sie leisten kann, aus der spezifischen Qualität ihrer Selbsterhaltungen und aus ihren unendlichen Kombinationen unter einander würde der wechselreiche Lauf des inneren Lebens zu konstruieren sein.

139. Es steht uns nicht zu, hier prüfen zu wollen, ob diese realistische Metaphysik überhaupt Recht hat, den letzten genügenden Grund aller Erscheinungen in dem Dasein jener einfachen Wesen zu suchen, und ob nicht vielmehr die Vorstellung einer einfachen, unveränderlichen und beziehungslosen Substanz ein falscher Schulbegriff sei, dem nichts Objektives entsprechen könne. Mag es immerhin Substanzen geben, deren Qualität einfach und unveränderlich, deren Dasein unbedingt und unzerstörbar ist, mag es immerhin notwendig sein, dass der Weltlauf irgendwo sich auf diese widerspruchslose Welt gründe: immer wird es doch eine willkührliche Hypothese sein, dass auch die Seele zu diesen einfachen Wesen gehöre. Sie würde wahrscheinlich sein, wenn die Erscheinungen des psychischen Lebens, zu deren Erklärung die Seele ja allein angenommen wird, uns zu einem so weiten Zurückgehen auf die unbedingten Gründe der Welt nötigten, oder wenn sich nachweisen ließe, dass keine Voraussetzung eines Subjekts von nur bedingtem Dasein der Erklärung des Seelenlebens ein Genüge tue.

140. Nichts ist jedoch weniger erwiesen als dies; vielmehr hat der Versuch der Ausführung gezeigt, dass die formellen Prädikate eines realen Wesens unvereinbar mit den Erscheinungen des Seelenlebens sind, zu dessen Erklärung es dienen sollte. Lassen wir hier dahingestellt, was über die Einfachheit und Beziehungslosigkeit der Wesen metaphysisch zu erörtern wäre, so ist wenigstens ihre Unveränderlichkeit ein deutliches Hindernis für alles Geschehen, das sich aus ihnen entwickeln soll. Man könnte behaupten wollen, dass in einem Falle eintretender Beziehung zwischen zwei realen Wesen in der Tat doch keine Wirkungen zwischen ihnen ausgetauscht werden, dass vielmehr beide gemäß ihrer unveränderlichen Natur ungestört fortexistieren; aber wie für uns entfernte Doppelsterne den Eindruck eines einzigen Sternes machen, so bilde sich auch aus jener Beziehung zwischen den einzelnen Wesen der Schein einer Veränderung, die doch nicht wirklich, sondern nur in dem Geiste eines Beobachters vorhanden ist. Aber eben die Entstehung dieses Scheines in uns ist doch ein wirkliches Ereignis, das nicht von neuem nur für einen dritten Beobachter zu geschehen scheint. Mag daher die Veränderlichkeit aus den Substraten der äußern Welt völlig eliminiert werden, gerade aus der Natur der Seele ist sie doch nie zu entfernen, so lange man zugibt, das Vorstellen eines Gegenstandes sei ein anderer innerer Zustand der Seele, als das Vorstellen eines anderen. Deshalb wollen wir gegenüber den künstlichen Versuchen, Unveränderlichkeit und Leben zu vermitteln, lieber die Behauptung wagen, die Seele sei notwendig ein veränderliches Subjekt der Erscheinungen, müßte sie auch um deswillen als ein Seiendes von bedingter Setzung, nicht aber als Substanz in dem eminenten Sinne des Realismus bezeichnet werden. Wohl werden gegen diese Veränderlichkeit auch andere Einwürfe erhoben, aus der Besorgnis herrührend, dass die Einheit der Persönlichkeit zu Grunde gehen möge, die wir durch unser ganzes wechselvolles Leben ab fortbestehend zu behaupten, sittliche Aufforderungen fühlen. Aber wenn wir die Seele für veränderlich halten, so sagen wir weder, dass sie in beständiger Veränderung begriffen, noch dass der Wechsel ihrer Zustände regellos sei. Zwar müßten wir zugeben, dass sie nach unserer Meinung in jedem Augenblicke gewissermaßen ein neues und anderes Wesen sein könne, aber dennoch würden die verschiedenen Augenblicke Glieder einer zusammenhängenden Entwicklung und die Seele jedes Momentes die Konsequenz der Seele aller früheren Momente sein. Inwiefern sittliche Gründe nun eine andere Identität der Persönlichkeit, als diese, erfordern könnten, würde ich ebenso wenig begreifen, als wie der Realismus trotz seiner Hypothese einer unveränderlichen Substanz der Seele es anfangen sollte, eine noch größere Konstanz der persönlichen Individualität zu gewähren.

141. Nicht für wahrscheinlicher können wir die zweite Hypothese halten, dass alle ursprünglichen Selbsterhaltungen der Seele Vorstellungen seien, die entweder direkt von einem Zusammensein der Seele mit anderen realen Wesen hervorgerufen werden, oder einmal entstanden, einem Gesetze der Trägheit nach fortdauern, aber durch andere mannigfach verdrängt, bedrückt oder begünstigt, den wechselvollen Lauf des innern Lebens begründen sollen. Es ist ohne Zweifel eine interessante und kühne Annahme, die qualitativ sich so verschieden darstellenden Äußerungen des Wissens, des Fühlens und Wollens nur als formell verschiedene Konsequenzen eines einzigen Grundvorganges, des Vorstellens, zu konstruieren, und aus der Verbindung dieser Elemente alle jene Vermögen als erworbene Fähigkeiten hervorgehen zu lassen, welche die gemeine Ansicht auf unklare Weise in der Seele ursprünglich vorhanden denkt. Wie weit dies in der Ausführung gelingt, haben wir an seinem Orte später zu berühren; aber die Motivierung der Annahme selbst erregt uns Zweifel. Im Hinblick auf die Unveränderlichkeit der realen Wesen könnten wir zuerst überhaupt nicht von verschiedenen Selbsterhaltungen reden; was auch die drohende Gefahr von außen sein mag, die Selbsterhaltung könnte nur das ungestörte Fortexistieren dessen sein, was eben einer Veränderung unfähig ist. Sie könnte daher weder überhaupt jemals in einem Vorstellen bestehen, noch viel weniger aber würde dies Vorstellen ein verschiedenes sein können nach der Verschiedenheit der Umstände, die ja notwendig wirkungslos sind. Soll sich dennoch die Selbsterhaltung nach den Anregungen richten, so ist sie als eine Tat der Seele unerklärbar ohne die Annahme eines wirklichen Eingreifens jener Umstände, also einer Veränderlichkeit des Seelenwesens, dessen Unveränderlichkeit vorausgesetzt war. Ein Motiv ferner, Gefühle und Strebungen nur als Konsequenzen von Vorstellungen zu fassen, konnte nur in der Einheit der Seele liegen, die eine Identität ihres Tuns geböte. Sind aber der Seele einmal so verschiedene Leistungen, wie die Empfindungen der Farben und der Töne, primitiv möglich, so liegt darin, dass diese Leistungen doch unter den gemeinschaftlichen Allgemeinbegriff der Vorstellungen zusammenfallen, Nichts, was der Einheit der Seele wesentlich günstiger wäre, als wenn sie daneben gleiche primitive Fähigkeiten zu wollen und zu fühlen besäße, die mit der des Vorstellens auch noch als Modifikationen des allgemeinen Bewußtseins zusammenzufassen wären.

142. Die realistische Auffassung der Welt mußte sich natürlich mit besonderer Kraft auf die kausale Erklärung der Entstehung jedes Phänomens aus der Summe aller der Bedingungen werfen, die in der Natur der mitwirkenden Wesen und in der Art ihrer zufälligen Beziehungen lagen. Der Idealismus, dessen uns geläufigste Form wir in der Philosophie Hegels finden, wird ebenso natürlich nach einer andern Richtung getrieben, und man muß diesen Umstand berücksichtigen, wenn man nicht ungerecht gegen das sein will, was von Hegel für die Psychologie geleistet worden ist. Ausgehend von dem festen Grunde, dass die Welt ein Ganzes sei, dessen alle Teile in einer einzigen beherrschenden Idee zusammenhängen, konnte dieser Idealismus nur daran Interesse finden, alle Dinge im Absoluten anzuschauen, d. h. die Bedeutung zu suchen, die sie für die Realisierung jener Idee besitzen, und in der allein ihr Dasein seinen Grund und Beruf hat. In diesem Werte lag dem Idealismus das Wesen der Sache; er betrachtete das Einzelne nur nach dem Beitrage, den es zur ideellen Bedeutsamkeit des Ganzen gibt, nicht nach der Art, wie es entstanden ist, oder sich erhält. Kausale Untersuchungen lagen daher überhaupt nicht in der Richtung dieses Philosophierens, und die Absurditäten, die so zahlreich entstehen, wenn man seine Interpretationen des Sinnes der Erscheinungen für Angaben ihrer Verwirklichungsweise ansieht, beruhen auf einem Mißverstande der ganzen Absicht, dessen sich allerdings Hegel selbst zuweilen schuldig machte.

143. Doch auch nach diesem Zugeständnisse müssen wir noch zwei Mängel bemerken, die sehr auf die populäre Ausbildung dieser Ansichten übergegangen sind. Mit Recht vertritt auch dieser Idealismus die Überzeugung, dass nicht Reelles an sich den Grund der Welt bilden könne, sondern nur Ideales es sei, was die Position der Realität erlangt. Aber der Kampf gegen den absurden Gedanken einer primitiven Sachlichkeit wurde so weit fortgesetzt, dass nun auch aus dem idealen Grunde der Welt aller konkrete Inhalt verschwand, und nicht mehr Ideales, sondern "die" Idee selbst als schöpferischer Grund der Welt übrig blieb, deren Aufgabe jetzt ebenso sehr darin bestand, die formelle Natur der Idee zu entwickeln, wie sie in einem schlechten Realismus darin bestände, die Konsequenz aus dem formellen Begriffe des Realen zu sein. Aus diesem Mangel eines Inhalts der schöpferischen Idee geht denn auch für die Psychologie die Einseitigkeit hervor, dass der Lauf des Seelenlebens nicht als Mittel zur Realisierung eines in psychischen Formen zu fassenden Inhalts, sondern nur als eine Entwicklung der Formen der Geistigkeit selbst erscheint. Nicht nur dazusein, sondern in seinem Dasein zugleich Gegenstand für sich selbst zu sein, diese eigentümliche Form der Existenz, die wir Bewußtsein nennen, ist das einzige Ziel, das der Entfaltung der Idee gestellt ist und das nun auch innerhalb des Seelenlebens den Grund aller besonderen Formen der Tätigkeit bildet. Die Psychologie erscheint daher hier nicht als eine vom Zweifel über eine gegebene Tatsache der Erfahrung zu deren Erklärung fortschreitende, also empirisch angeregte Wissenschaft, die es auch möglich fände, dass ihr ganzer Gegenstand nicht existierte, sondern als Teil einer umfassenderen Weltansicht, welche den Begriff eines notwendig vorhandenen Seelenlebens erzeugt, der in der Erfahrung nur seine Bestätigung findet. Wie nun im Ganzen der Welt die Idee vom Sein zum Wissen des Seins, so schreitet auch innerhalb der Psychologie die Entwicklung des Geistes von unmittelbarer Ausübung einfacher Tätigkeiten zur Reflexion über sie, vom Befangensein in ihnen zum Bewußtsein über sie fort. Zuletzt dehnt sich die Betrachtung, überall nicht von der Seele als Substrat, sondern phänomenologisch von den notwendigen Formen des Seelenlebens sprechend, über die Grenzen der persönlichen Psychologie aus; was in dem einzelnen subjektiven Geiste nicht realisiert werden kann, wird ausgeprägt und verwirklicht in dem allgemeinen objektiven Geiste der Gesellschaft, und die Zerstreutheit wieder dieser Lebendigkeit soll zuletzt in dem absoluten Geiste eine vollkommene Vereinigung finden.

144. Es liegt unseren Zwecken sehr fern, zu beurteilen, inwieweit diese Lehre, deren einzelne geistvolle Blicke Niemandem entgehen, auch nur den relativen Wert und die Bedeutung der einzelnen psychischen Vorgänge richtig geschätzt, und ob sie nicht zu Gunsten des Wissens andere Äußerungen geistiger Tätigkeit in den Schatten gestellt hat. Auf dies Alles einzugehn verbietet ans noch überdies der zweite Mangel der ganzen Ansicht, in dem ihre Unbrauchbarkeit für die Objekte unserer Untersuchung beruht. Was Hegel ableitet und darstellt, das sind überall nur die allgemeinen Formen des Geschehens, hier die allgemeinen Weisen geistiger Vorgänge. Aber die wirkliche Welt besteht nicht in einer einmaligen Entwicklung, in welcher diese Formen ihrem ideellen Werte gemäß nach einander systematisch auftreten. Sie besteht darin, dass unzählige einzelne Wesen jene allgemeinen Möglichkeiten psychischer Äußerung in der buntesten, incommensurabelsten Unordnung benutzen, um mit den ebenso prinziplosen äußern Umständen auszukommen, sie in Vorstellungen zu vergeistigen und auf sie zurückzuwirken. Abgesehn noch von der Notwendigkeit eines Verkehrs der Seele mit der materiellen Welt, die hieraus hervorgeht, so bedarf es offenbar schon dazu eines neuen Standpunkts, um nur die Möglichkeit der inneren Wechselwirkung zwischen den verschiedenartigen Affektionen der einzelnen Seele zu begreifen. Dieser Standpunkt fehlt Hegel. Er konstruiert wohl die ewigen Urbilder der Geschöpfe und der Geschichten, aber seine Idee versäumt es, vor Allem aus sich selbst eine Totalität mechanischer Gesetze niederzuschlagen, nach welchen die zeitliche und räumliche Wechselwirkung der vielen Exemplare erfolgen könnte, in welchen doch jene allgemeinen Urbilder allein ihre Wirklichkeit haben. Ein psychologischer Mechanismus fehlt daher dieser Ansicht ebenso, wie ein physischer. In den Naturwissenschaften stellt sie zwar die ewige Idee der Substrate und Prozesse, aber nie ihre formelle Existenz dar, an welche eine Berechnung anknüpfen könnte, in der Psychologie wohl den vernünftigen Sinn des Seelenlebens, aber leider nicht die Mittel, durch welche er realisiert wird. Sie läßt daher Physiologie, Pädagogik und Psychiatrie ratlos, die alle wissen wollen, wodurch die psychischen Phänomene bedingt und bewirkt werden, damit man auf den Grund dieser Kenntnis sie umzugestalten vermöge.

145. Den Betrachtungen nun, welche wir selbst über das Seelenleben folgen lassen werden, liegt eine idealistische Auffassung zu Grunde, von der wir gern sagen würden, dass sie diesen letzten Mangel überwinde, wenn dies überhaupt jetzt anders möglich wäre, als durch eine ergänzende nebenhergehende Richtung des Gedankens. Wir teilen nämlich die Voraussetzung des Idealismus, dass nur soviel und nur solches in der Welt existiert, als zugleich in dem Sinne einer wertvollen Idee, die ihr Wesen bildet, seine notwendige Stelle hat. Wir bestreiten es dem Realismus, dass die Seele als irgend welche unbekannte einfache Qualität von unabhängigem unzurücknehmbaren Dasein zu denken sei; sie ist vielmehr ein Moment der Idee, dessen Inhalt nicht in der Form einer homogenen oder einfachen Qualität, sondern in der eines Gedankens gefaßt werden muß, der gleich dem Geiste einer Melodie eine Einheit bildet, obgleich er vielleicht für kein Erkennen anders als durch eine Mannigfaltigkeit verbundener Bestimmungen erschöpfbar ist. Überzeugt ferner davon, dass die Form der Existenz in der Welt überall abhängig ist von der Bedeutung des Seienden, können wir auch der Seele nicht ein unbedingtes, sondern nur dasjenige Dasein zuschreiben, das die Idee ihr als diesem ihrer Momente bestimmt und läßt. Um so viel weniger noch können wir den Begriff der Substantialität als die Quelle ansehn, aus der die höchsten Gesetze für das Verhalten der Seele und ihre Schicksale hervorgehn. Was die Seele leistet, das leistet sie Kraft des Auftrags, den die höchste Idee ihr überhaupt gestellt; sie wird sich selbst erhalten, nicht sofern sie Substanz ist, sondern so weit als Selbsterhaltung ihre aufgegebene Leistung ist. Aber wir besitzen weder einen adäquaten Ausdruck der höchsten Idee, noch eine Kenntnis des bestimmten Berufs, den sie ihren Momenten, ihren einzelnen Geschöpfen stellt. Unmöglich ist es daher a priori zu bestimmen, welchen allgemeinen Gesetzen die Tätigkeit der Seele folgen werde; sie müssen rückwärts aus der Erfahrung erschlossen werden, der auch der Realismus Alles verdankt, was er außer den unbrauchbaren Folgerungen aus dem Begriff der Substantialität seinen Erklärungen zu Grunde legt.