130. Die eigentümliche spezifische Natur, die wir oben in jeder einzelnen Seele voraussetzten, blieb uns zu unbekannt, als dass es möglich wäre, dem Einfluß zu folgen, den sie auf die Entwickelung des Seelenlebens ausüben muß Der Versuch einer wissenschaftlichen Psychologie schließt jedoch die Annahme ein, dass in den verschiedensten Seelen sich eine formelle Gleichartigkeit ihres Wesens finde, aus der allein eine Reihe allgemeiner Gesetze ihres Verhaltens sich ableiten ließe. Wir haben uns bisher begnügt, die Seelen immaterielle Substanzen zu nennen, aus deren Natur die Erscheinungen des Vorstellens, Fühlens und Wollens hervorgehen und die im Laufe des körperlichen Lebens einer fortschreitenden Entwickelung fähig sind, welche sie der Wechselwirkung mit den Elementen der Außenwelt und der eigenen inneren Verarbeitung der empfangenen Anregungen verdanken. Es bleibt uns jetzt übrig, in dem Was der Seele, so weit es möglich ist, den Grund der Regeln nachzuweisen, denen sie in allen diesen Tätigkeiten folgen wird. Sehen wir auf der einen Seite äußere Reize nach physischen Gesetzen in sie eingreifen, so müssen wir jetzt für die psychischen Gesetze ihrer Rückwirkung eine Basis suchen, um die Vorstellung des physisch-psychischen Mechanismus zu vervollständigen.
131. Die Frage, was die Seele, oder was überhaupt irgend ein fraglicher Gegenstand sei, so sehr sie auch das Ansehen hat, auf einen ganz unzweideutigen Punkt gerichtet zu sein, ist dennoch doppelsinnig. Sie wird im gewöhnlichen Leben am häufigsten in dem Sinne aufgeworfen, dass man den Stoff kennen zu lernen wünscht, aus dem irgend ein Gegenstand besteht, oder aus dem er gemacht ist. Eben die Angabe dieses Stoffes leistet unserem Nachdenken zweierlei Dienste zugleich. Sie lehrt uns zuerst eine gewisse primitive Qualität oder eine Gruppe ursprünglicher Eigenschaften kennen, die der Gegenstand uns eigentlich zeigen müßte, wenn er sich uns in seinem wahren Wesen darstellen wollte, die aber in seiner wirklichen Erscheinung durch allerhand täuschenden Schein der Bearbeitung oder Mischung mit anderen Gegenständen verdeckt sind. Zugleich aber ist zweitens der Stoff im Gegensatze zu der Gesamtheit der Eigenschaften jener reale Kern, jener Träger der Wirklichkeit, der allein aller Erscheinung inneren Halt und Festigkeit der Existenz verschafft, und ohne dessen Gegenwart der qualitative Inhalt eines Wahrgenommenen sich bodenlos verflüchtigen würde. So vereinigt daher die Frage nach dem Was eines Dinges die beiden Fragen nach dem ursprünglichen Inhalte, der es von anderen unterscheidet, und nach dem Grunde der Existenz, der ihm Wirklichkeit gibt. Was nun jenen qualitativen Inhalt betrifft, so pflegt Jeder zuletzt vorauszusetzen, dass er in irgend welchen Bestimmungen bestehe, die durch Gedanken faßbar, wenngleich nicht aussprechbar sind; dass aber die vollendetste Schilderung desjenigen, was ein Ding sei, noch nicht erkläre, auf welche Weise es existieren könne. Und da nun innerhalb der gewöhnlichen und alltäglichen Veranlassungen dieser Reflexionen der Grund der Existenz und der Haltbarkeit einer Erscheinung stets in einem nachweisbaren Stoffe gefunden zu werden pflegt, so bildet sich die Gewohnheit aus, auch überhaupt den Grund jedes realen Daseins darin zu suchen, dass ein verfeinerter Stoff, der Träger alles Seins, zu einem qualitativen Inhalte hinzutrete und ihm seine eigene unzerstörbare Wirklichkeit mitteile.
132. Diese verworrenen Reflexionen nun machen sich auch in Bezug auf das Wesen der Seele vielfach geltend. Wir haben schon früher erwähnt, wie sehr unsere Gewöhnung an die Vorstellung der Materie uns verführt, auch die Seele, obgleich wir ihre übersinnliche Natur anerkennen, doch durch allerhand Gleichnisse dem Bilde der Materie wieder anzunähern. Ist nun diese Gewohnheit überwunden, so verfallen wir doch leicht in einen zweiten ähnlichen Irrtum. Indem wir die Mannigfaltigkeit unserer Tätigkeiten und inneren Zustände mit Recht auf eine ursprüngliche Qualität unseres Geistes zurückführen, gehen wir mit Unrecht auch darüber doch hinaus und suchen in unserem Wesen nach einem zwar nicht mehr materialen, aber doch realen unvergänglichen Kerne, der wie das Skelett unserem Leibe, so er unserer Seele Haltbarkeit und Festigkeit des Daseins verliehe. Eine fortgesetzte Überlegung überzeugt uns indessen zuletzt von der Undenkbarkeit und der inneren Absurdität eines solchen Realitätstoffes, der seine eigene feste Existenz den an ihn sich knüpfenden Erscheinungen wie zu Lehen mitteilte. Dieselbe Auflösung, welche der Begriff der Materie erfuhr, erleidet nun auch der des Realen. Es existiert nicht Reales als solches, als Stoff, woraus Dinge geschaffen werden, im Gegensatz zu dem Idealen, dem Stoffe, aus dem nur Gedanken entstehen könnten; es gibt vielmehr nur Realität, d. h. eine gewisse Weise der Existenz, darin bestehend, dass etwas als unabhängiger Mittelpunkt von Wirkungen sich darstellt, die es ausübt oder erleidet. Das aber, dem diese Form realer Existenz zukommt, ist immer zuletzt ein Ideales, nämlich jener qualitative Inhalt der Dinge, von dem wir voraussetzen, dass er dem Denken nicht undurchdringlich, sondern durch Gedankenbestimmungen erschöpfbar sei. Jene feste und haltbare Position, die dem idealen Inhalte der Dinge nur mittelbar durch das Einwohnen eines realen Kernes zuwachsen sollte, gehört ihm vielmehr unmittelbar an, und ebensofern es diese Position genießt, heißt es Substanz oder Reales und gibt uns hinterher den Schein, als hinge seine Realität nicht von der Festigkeit seines eigenen Daseins, sondern von einem fremden unzersprengbaren Kerne in seinem Innern ab.
133. Fällt es uns nun dennoch sehr schwer, das Suchen nach einem solchen letzten und unauflöslichen Reste in jedem Wesen aufzugeben, so rührt dies von einem anderen ungereimten Verlangen her, das sich in dieser Frage nach dem Realen einer Erscheinung verbirgt. Hören wir nämlich den Inhalt der Dinge im Allgemeinen als Gedanken oder als Idee bezeichnen, so regt sich natürlich die Frage, wie diese existierenden und objektiven Gedanken sich von unsern subjektiven und nur gedachten Vorstellungen unterscheiden? Obgleich hierauf die Antwort in der Frage selbst liegt, so begnügen wir uns doch damit nicht, sondern möchten nun gern wissen, durch welche Prozedur es dem schaffenden Weltgeiste gelinge, aus Gedanken, die er hegte, diese feste Realität kompakter existierender Dinge niederzuschlagen. Diese Frage ist natürlich jedem Nachdenken unlöslich; nie werden wir dahinter kommen, wie Sein oder Dasein gemacht wird; aber diese Frage würde auch nur dann für uns Wichtigkeit haben, wenn die Aufgabe unserer Erkenntnis darin bestände, eine Welt zu schaffen. Wir aber haben nur das Vorhandene aufzufassen, und da erkennen wir allerdings an, dass alles Sein ein Wunder ist, dessen ewiges Geschehensein wir voraussetzen müssen, dessen Entstehen dagegen höchstens als Tatsache von uns anerkannt, nie aber in der Weise seines Hergangs enträtselt werden könnte. In dieser Hinsicht nun hat jene gewöhnliche Meinung Recht, wenn sie in der Existenz aller Dinge einen für das Denken unlöslichen Rest findet; aber dieser Rest besteht nicht in ihrem Kerne, sondern eher in einer Schale, nämlich nicht in einem unsagbaren Realen, das ihr innerstes Wesen bildete, sondern in der Form der Setzung, die sie genießen. Was sie sind, kann daher dem Erkennen völlig durchdringlich sein, wie sie überhaupt sein können, ist das allen gemeinschaftliche Rätsel.
134. Wenden wir diese Bemerkungen auf unsern Gegenstand an, so treffen wir dennoch auf eine unübersteigliche Schwierigkeit, wenn wir das Wesen der Seele, das wir überhaupt für durchdringlich dem Erkennen ansehen mußten, in der Tat mit unserem Erkennen zu durchdringen versuchen. Zwar von dem, was die ausgebildete und ihrer selbst bewußte Seele ist, besitzen wir, wie früher erwähnt wurde, eine volle Erkenntnis, und was uns hier dunkel zu sein scheint, gehört nicht zu der cognitio rei, sondern zu jener cognitio circa rem, die sich in diesem Falle eben auf die rätselhafte Art beziehen würde, in der unsere geistige Existenz begründet ist und in dem Laufe ihrer Entwicklung sich erhält. Was wir sind, wissen wir wohl und von dem qualitativen Gehalt unseres geistigen Wesens entgeht uns nichts als durchaus unfaßbar; aber wie dies Alles überhaupt sein könne, diese Grundlage unserer eigenen Existenz ist uns unerforschlich, wie in jedem andern Falle. Versuchen wir aber, den ganzen Inhalt unseres entwickelten Seelenlebens auf eine primitive Qualität zurückzuführen, in der das Wesen der Seele bestehe, noch ehe sie durch die ersten Schritte der Wechselwirkung mit Außen einen Anfang ihrer Ausbildung gewann, so liegt diese ihre ursprüngliche Natur freilich außerhalb aller möglichen Selbsterkenntnis. Nur dies werden wir von ihr wissen, dass sie der hinlängliche und notwendige Keim jener spätern Entwickelung sein muß; was ihr die äußeren Anregungen nicht geben, sondern nur entlocken können, das muß in ihr vorgebildet sein. Bezeichnet daher eine Ansicht die Natur der Seele als eine unbekannte Qualität, in deren Weise es liege, äußeren Anstößen durch Vorstellungen, Gefühle und Strebungen zu antworten; sagt eine andere von ihr, sie sei das an sich und potentia, was sie in ihrer Entwicklung für sich und actu werde, so sind dies nur verschiedene Ausdrücke für die gemeinsame Notwendigkeit, die primitive Natur der Seele nur durch einen Rückschluß aus den sekundären Eigenschaften erreichen zu können, die sie im Verlaufe ihrer Bildung entwickelt.
135. Am einfachsten und unvollkommensten führt diesen Rückschluß die vielgescholtene Lehre von den Seelenvermögen aus. Sie ist allerdings eine Tautologie, doch keine so schlechte, dass sie nicht verkehrten Erklärungsversuchen gegenüber der Rede wert wäre. Indem sie die Äußerungen der Seele klassifiziert, gleichartige zusammenstellt, ungleichartige trennt, setzt sie für jede eigentümliche Gruppe derselben, die durch ihre qualitative Natur sich von den übrigen unterscheidet, in der Seele ein besonderes Vermögen voraus. Sie sagt damit, dass äußere Reize zwar der Grund der Wirklichkeit für jede Seelenäußerung sind, und dass sie ferner wohl die Seele zu einer bestimmten Wahl unter verschiedenen ihr gleich möglichen Reaktionsweisen vermögen, und diesen Größe, Dauer und Richtung ihres Auftretens vorzeichnen: aber die allgemeine qualitative Form der Äußerungen überhaupt, dies, dass sie Vorstellungen, Gefühle oder Strebungen seien, hänge von der Natur der Seele und ihren ursprünglichen Fähigkeiten allein, von den Reizen dagegen so wenig ab, als etwa die anschlagende Taste die Beschaffenheit des Tons bestimmt, den die gespannte Saite von sich gibt. Ist nun auf diese Weise das Wesen der Seele der einzige Realgrund, aus dem die allgemeine Art der Äußerungen überhaupt fließt, so ist es ebenso sehr der einzige Grund, aus dem die Gesetze für das gegenseitige Verhalten mehrerer dieser Akte unter sich hervorgehn. Sind daher zwei Zustände der Seele gegeben, und es fragt sich, welcher dritte ihnen folgen müsse, so glaubt diese Ansicht nicht, nach irgend welchen allgemeinen logischen oder metaphysischen Gesichtspunkten aus dem qualitativen Inhalt jener beiden Vorzustände und aus ihren Beziehungen unter sich den dritten Folgezustand bestimmen zu können, als müsse er in jedem möglichen Wesen selbstverständlich eintreten, sobald jene beiden Antecedentien einmal vorhanden sind. Nicht sofern beide diese Zustände sind, und sich in dieser gegenseitigen Verknüpfung befinden, sondern nur sofern dieser ganze Tatbestand gerade in diesem Wesen, dem der Seele, gegeben ist, bringt er als dritten Folgezustand diesen und keinen andern herbei. Analytisch daher läßt sich der Erfolg nicht aus Jenen beiden Zuständen vorhersagen, sondern nur synthetisch, indem wir stets von neuem das ganze Wesen der Seele in Rechnung bringen, auf das sie als neue Reize zurückwirken. Nur nach den andern erregbaren Seiten, die sie hier vorfinden und berühren, wird ihnen Qualität und Maß ihrer weiteren Wirkung zugemessen, so dass Alles, was im Leben der Seele sich ereignet, Anregung der ganzen psychischen Substanz durch ihre früheren Zustände, und immer erneuerte Rückwirkung auf diese ist. Dass an Vorstellungen Gefühle sich knüpfen, geht nie aus der Natur der Vorstellungen oder aus irgend einer Komplikation derselben hervor, als müßte Jedes Wesen, das einmal der Vorstellungen fähig wäre, auch die Gefühle als eine analytische Folge dieser Fähigkeit erdulden; sie entstehen vielmehr, sofern die Vorstellungen zurückwirkend auf das Ganze der Seele, in diesem ein eigentümliches Vermögen des Gefühls antreffen, dem die neuen Erscheinungen der Lust oder Unlust abzugewinnen sind.
136. Im Übrigen leistet die Theorie der Seelenvermögen sehr wenig. Dass freilich schon in ihrer Klassifikation mancher Fehler begangen, dass zwischen ursprünglichen Vermögen, abgeleiteten Fähigkeiten und mancherlei Bewegungen der Seele unzureichend unterschieden, manche sekundäre Äußerung primitiven Anlagen fälschlich koordiniert worden ist, das sind Mängel der Ausführung, nicht des Prinzips. Auch das behauptet man mit Unrecht, dass die Vielheit der Vermögen der Einheit der Seele widerspreche. Es würde der Fall sein, wenn sie wirklich so, wie sie die schlechteste Interpretation der Ansicht ansieht, fertig vorhandene, auf einen Gegenstand der Anwendung lauernde Mächte oder Instrumente wären, die wir den Objekten entgegenstrecken, um sie damit zu fassen oder zu gestalten. Aber sie sind nichts als harmlose Möglichkeiten, die noch ungeschieden in der spezifischen Natur der Seele liegen und nur das ausdrücken, was die Seele tun oder werden muß, wenn sie in Beziehung zu einer bestimmten Anregung tritt. Was wir an anderem Orte über den Begriff der Kraft bemerkten, (allg. Physiol. des körp. Lebens 1851. §.9.) wird hinreichend das Beieinandersein vieler Vermögen in der einen Seele rechtfertigen. Dagegen fehlt dem Begriffe der Vermögen Alles, was dem der physischen Naturkraft so große Fruchtbarkeit gibt. Der Begriff der physischen Kraft ist stets zugleich der eines Gesetzes, nach welchem eine qualitativ konstante Wirkungsweise mathematischen Modifikationen der Größe, Dauer und Richtung unterliegt. Die Seelenvermögen dagegen sind nicht aus Maßverhältnissen psychischer Erscheinungen, sondern lediglich aus ihrer Qualität abstrahiert; sie können daher auch nur als Erklärungsquellen der Qualität ihrer Erzeugnisse gelten. Ein Vorstellungsvermögen sagt, dass alle seine Äußerungen Vorstellungen sind, aber nichts fließt aus seinem Begriffe in Bezug auf die bestimmte Form, Intensität, Richtung und Dauer, die sein Tun unter irgend welchen bestimmten Umständen zeigen wird. Noch weniger ist es zu beurteilen, welche Einflüsse die qualitativ verschiedenen Vermögen auf einander ausüben mögen, nach welchem Gesetze etwa Vorstellungen die Gefühle, diese die Strebungen anregen. In den Naturwissenschaften fällt, zum allergrößten Teil wenigstens, auch diese Schwierigkeit hinweg, da die Wirkungen der Kräfte nur aus vergleichbaren Bewegungen bestehen, über deren Verschmelzung, Aufhebung oder Gleichgewicht es eine mechanische Lehre gibt, welche die genaue Konstruktion des herauskommenden, ebenfalls in Bewegungen bestehenden Resultates gestattet. Die Lehre von den Seelenvermögen darf daher nur als eine Vorarbeit gelten, die das Material der Erfahrung für die Bedürfnisse erklärender Theorien zusammenstellt.