§. 10.
Von dem Sitze der Seele.

99. Unsere bisherigen Betrachtungen galten den allgemeinen Formen der Wechselwirkung, die wir zwischen Leib und Seele möglich fanden, und wir mußten die speziellen Organisationsverhältnisse, die in den lebenden Wesen diesem Verkehr bestimmte Bahnen vorzeichnen, um ihrer Mannigfaltigkeit willen aus dieser vorläufigen Überlegung ausschließen. Auf einen Punkt jedoch, den natürlichen Abschluß der eben vorangegangenen Betrachtungen, haben wir schon hier noch einzugehen, auf den Sitz nämlich, den die Seele in der Mitte jener Massenelemente einnimmt, denen sie als individuelles Wesen gegenübersteht. Eine immaterielle Substanz, aller Ausdehnung entbehrend, kann freilich nicht eine gewisse Strecke des Raums erfüllen, aber Nichts hindert, dass sie einen bestimmten Ort in ihm habe, von welchem aus ihre Kraft unmittelbar die benachbarten Teilchen der Materie in Bewegung setzt, und bis zu welchem hin, um überhaupt zur Einwirkung auf sie zu gelangen, alle aus der äußern Natur stammenden Erregungen sich fortpflanzen müssen. Diese Definition eines Sitzes der Seele würde vollkommen befriedigen, wenn die anatomischen Tatsachen sich ihr mit Leichtigkeit anschlössen. Dies ist nicht ganz der Fall. Der Verlauf der Nervenfäden durch den gesamten Körper und ihre Zusammendrängung in die Zentralorgane läßt uns allerdings sogleich vermuten, sie seien bestimmt, auf der Oberfläche des Leibes entstandene Eindrücke, die bei der Abgelegenheit ihres Ursprungsortes wirkungslos für die Seele vorübergehen würden, zur Einwirkung auf sie zu befähigen, indem sie dieselben durch eine ununterbrochene Leitung dem örtlichen Sitze der Seele annähern. Aber die stillschweigend hieraus gezogene Folgerung, dass alle diese zuleitenden Fäden an einem und demselben Punkte zusammentreffen müßten, findet in der Betrachtung des weiteren Hirnbaues nicht sofort Bestätigung. Wie unvollkommen auch noch unsere Kenntnisse über die feinere Struktur der Zentralorgane sind, so begünstigt doch das, was wir wissen, sehr wenig die Annahme eines einzigen örtlichen Mittelpunktes, in welchem alle Nervenfäden, oder doch mindestens alle wesentlich verschiedenen Gruppen derselben durch einzelne Verbindungsfäden sich sammelten. Dieser Mangel eines Schlußpunktes für das ganze Nervengewebe, noch fühlbarer gemacht durch die Anatomie der niederen Tiere, läßt unsere Vorstellung von einem bestimmten Sitze der Seele unsicher werden. Überlegen wir jedoch ganz im Allgemeinen, was in dieser Beziehung für die Seele möglich oder notwendig ist, so läßt sich leicht zeigen, dass ihre Wohnstätte nicht durchaus der Sammelpunkt aller einzelnen Nervenfäden sein muß, ja dass es sogar kaum tunlich sein würde, diese ganz natürlich scheinende Voraussetzung festzuhalten.

100. Wir wollen uns einen tierischen Körper denken, der aus allenthalben gleichartiger Masse bestehend, ohne innere Gliederung und Organisation doch in irgend einem seiner Punkte eine Seele einschließe. Seine gleichartige Substanz könnte leicht von den ankommenden äußern Reizen Erschütterungen erfahren, die für verschiedene Eindrücke verschieden, sich durch die gesamte Masse verbreiteten und mit einem Teile ihres Einflusses auch den Sitz der Seele berührten. Eine große Mannigfaltigkeit qualitativ verschiedener Empfindungen würde daher der Seele sicher sein auch bei dieser unvollkommenen Organisation, die weder besondere Zuleitungswege der Eindrücke, noch Zentralorgane ihrer Verarbeitung besäße. Eine räumliche Anschauung freilich würde aus diesen Erregungen, wie wir später ausführlicher sehen werden, sich nicht entwickeln. Aber alle Vergleichungen, die sich auf die qualitative Verwandtschaft und die Sukzession der Empfindungen bezögen, würden auch dieser Seele zu Gebot stehen, und ihr durch eine Art musikalischer Weltauffassung in unräumlichen Harmonien und Melodien die Möglichkeit einer nicht ganz bedeutungslosen Entwicklung gewähren. Gefühle und Strebungen würden in ihr aus dem Lauf dieser verschiedenartigen Zustände ebensowohl als in höher organisierten Wesen entstehen können, und selbst Handlungen nach außen würden ihre Ziele treffen, auch ohne dass eine räumliche Vorstellung derselben vorherginge. Denn setzen wir voraus, was vielfache Analogien gestatten, dass die homogene Substanz dieses Tierkörpers auf Reize kontraktil sei, so wird jeder Teil, den ein äußerer Eindruck unmittelbar und mit voller Kraft traf, in größerem Masse als die übrigen, in einen Zustand der Zusammenziehung versetzt, und so ganz natürlich eine Bewegung des Körpers nach der Seite des Angriffs hin erzeugt werden. Ohne daher von ihrem eigenen Körper, von der Lage seiner Organe und der der Objekte eine räumliche Anschauung zu besitzen, würde diese Seele dennoch in Übereinstimmung mit den äußern Umständen leben und ihre Bewegungen zwar nicht selbst ausführen, aber ihr Geschehen doch wenigstens durch neue eigentümliche Gefühle wahrnehmen können.

101. Mit der wachsenden Mannigfaltigkeit der körperlichen Organisation wächst auch das Bedürfnis, für den Zugang der Eindrücke zur Seele besondere Wege offen zu halten oder zu schaffen. In einem Körper, der aus Knochen, Muskeln, Blutgefäßen und parenchymatösen Organen aller Art besteht, würden die äußern Eindrücke, von der Oberfläche zu dem Sitze der Seele hinstrebend, bei jedem Übergang aus einem dieser Medien in das andere Widerstände, Zerstreuungen und Ablenkungen erfahren, durch welche sie entweder an der Erreichung jenes Zieles ganz gehemmt werden oder nur verworren und abgeschwächt sich bis zur Seele hindurchkämpfen würden. Innerhalb des übrigen Körpers der höheren Tiere bildet deshalb das Nervensystem einen vielfach verschobenen und in seiner Gestalt wunderlich ausgezackten Rest jenes sensiblen Leibes, den wir vorhin voraussetzten. Mit langen faserförmigen Fortsätzen drängt es sich durch die Zwischenräume der aufgelagerten Knochen, Muskeln und Häute hindurch, überall diese Bedeckungsschichten spaltend, um der äußern Welt wenigstens Ausläufer jener sensiblen Substanz zuzusenden, und ihren Eindrücken Wege darzubieten, auf denen sie in demselben stetigen Medium fortlaufend mit Bewahrung ihrer Form und unabgeschwächt durch seitliche Zerstreuung, den Sitz der Seele erreichen können. Für diesen selbst aber gilt fort, was wir oben annahmen. Es ist nicht nötig, dass alle jene zuleitenden Fäden der Nerven in einen einzigen Punkt verschmelzen, an welchem die Seele sich befände; es reicht hin, wenn sie alle in ein nervöses Parenchym einmünden, das der allseitigen Verbreitung der Erregungen keinen Widerstand mehr entgegensetzt und sie daher wenigstens mit einem Teile ihrer Wirkung gewiß auch die Substanz der Seele erreichen läßt. Würde doch ohnehin, falls eine Durchkreuzung aller Fasern stattfinden sollte, dieser Schluß des ganzen Nervengewölbes nicht ein mathematischer Punkt, sondern stets eine räumliche Ausdehnung sein. Diese größer oder kleiner anzunehmen, macht für das Prinzip der Ansicht keinen Unterschied und der Mangel eines einzigen Zentralpunktes im Gehirn würde mithin der Annahme, dass die Seele in ihm doch einen bestimmten und feststehenden Sitz habe, keineswegs entgegenstehen.

102. Wo nun dieser Sitz der Seele sich befinde, darüber werden wir die positive Bestimmung der Zukunft überlassen müssen. Man würde ihn natürlich nicht in gefaserter Hirnsubstanz suchen. Zwar dass er sich in gänzlich ungeformtem Parenchym befinde, dürfen wir nicht verlangen; die uns noch sehr unbekannte Art der Nervenwirkung kann vielmehr leicht die passenden Bedingungen ihrer Verbreitung in einem Substrate finden, das aus einzelnen Zellen zusammengesetzt ist. Von den Fasern dagegen wissen wir, dass sie Formen für die Isolation der Eindrücke sind, und sehen sie deshalb, wo sie auch vorkommen mögen, als Leiter von Erregungen an, die sie einander nicht ohne besondere Veranstaltungen mitteilen. Das Gehirn bietet nun in seiner grauen Substanz allerdings große Mengen ungefaserter Masse, doch nicht in solcher Anordnung, dass es leicht wäre, einen bestimmten Teil derselben als Sitz der Seele auszuzeichnen. Man hat nicht selten die graue Substanz der Hemisphären des großen Gehirns, in welche eine ansehnliche Zahl von Fasern auszustrahlen scheint, um dort zu endigen, als den eigentlichen Schauplatz der Seelentätigkeiten angesehen. Ausdehnung, Lage und Doppelzahl der Hemisphären läßt sie jedoch wenig passend für diese Bestimmung erscheinen; geeigneter dürften Partien ungefaserter Substanz sein, die sich an Masse freilich viel unbedeutender in den Verbindungsteilen des Gehirnes, in dem pons Varolii und seinen nächsten Umgebungen befinden, und bis zu denen man die Ursprünge der meisten Hirnnerven mit hinreichender Sicherheit verfolgt hat.

103. In Bezug auf diesen letzten Punkt möchten wir jedoch noch eine Bemerkung hinzufügen. Wir haben selbst bisher dem natürlichen Vorurteile nachgegeben, welches den Sitz der Seele an der gemeinschaftlichen Endigungsstelle aller Nervenfäden sucht. Diese Ansicht ist jedoch weder nötig noch ganz wahrscheinlich. Es ist leicht möglich, dass die zuleitenden Fasern noch über diesen Zentralpunkt hinausgehn, nicht um jenseits noch psychischen Tätigkeiten zu dienen, sondern vielleicht aus Gründen der physischen Ökonomie der Nerven. Endigen sich daher die Gehirnfasern in der faserlosen grauen Substanz, so würden wir darum noch nicht Grund zu haben glauben, den Sitz der Seele in dieser zu suchen; wir halten sie vielmehr für einen krafterzeugenden Apparat, der auf irgend eine Weise die Funktionsfähigkeit der Nerven unterhält. Und diese Leistung dürfte am meisten den grauen Markmassen der großen Hemisphären zukommen, deren unmittelbare Wichtigkeit für das geistige Leben uns keineswegs erwiesen scheint, wie gewiß auch ihre mittelbare Notwendigkeit für seine Fortdauer ist. Anderwärts mag die Zwischenlagerung dieser ungefaserten Masse jene Querleitung der Eindrücke von einer Faser auf die andere vermitteln, die unleugbar stattfindet, und die uns nun eben erlauben würde, jenen Punkt, an welchem die Erregungen der Nerven den Sitz der Seele erreichen, auch entlegen von dem Ende ihrer Fasern zu suchen, in einer solchen Gegend nämlich, in der die reichste Verflechtung der einzelnen Nervenfäden zum Zweck jener gegenseitigen Einwirkungen derselben stattfindet, welche in großer Ausdehnung notwendige Voraussetzungen der Seelentätigkeiten bilden.

104. Ein Einwurf wird gegen alle diese Vorstellungen schon im Stillen erhoben worden sein. Nach unserer Anschauung werden alle Eindrücke von außen durch die sensiblen Nerven isoliert bis zu dem Gehirn fortgeleitet; sie erfahren dort selbst allerhand modifizierende Einflüsse von gleichzeitigen Erregungen anderer Fasern, die kunstvoll und planmäßig zum Zweck dieser Einwirkung gelagert sind. Nachdem dies geschehen, sollen die resultierenden Zustände, welche sich nun in einem Nervenfaden vorfinden, alle diese bestimmten Bahnen verlassen, um sich durch eine größere oder kleinere Menge eines ungeformten Parenchyms zu verbreiten, in dessen einem Punkte sie die empfindungsfähige Seele antreffen. Hierdurch scheinen alle Vorteile verloren zu gehen, welche die feine Struktur des Nervensystems zu sichern bestimmt war. Soll die Seele einzelne Eindrücke, je nachdem sie von diesem oder einem andern Teile des Körpers anlangen, auch auf dieselben verschiedenen Teile beziehen, soll überhaupt eine räumliche Anschauung entstehen, so scheint es notwendig, dass jede Erregung in einer isolierten Bahn sich bis zur Seele fortpflanze, um nach dem Wege, auf welchem sie ankommt, auch auf den Endpunkt desselben Wegs ausschließlich zurückgedeutet zu werden. Dennoch ist dieser Schein, wie wir später bei der Entstehung unserer Raumanschauungen ausführlicher sehen werden, durchaus irrig. Denn die Richtung des Weges zu bestimmen, auf welchem ein Eindruck an sie gelangt, würde die Seele gar kein Mittel besitzen, sobald nicht vielmehr umgekehrt seine eigentümliche Qualität ihr ein Motiv an die Hand gäbe, ihn auf diese und nicht auf jene Richtung zu beziehen. Wie auch räumlich die Reize geordnet sein mögen, die sich unter verschiedenen Winkeln von den Nervenbahnen her der Seele nähern, die Eindrücke die sie von ihnen empfängt, sind stets intensiv, wie die Töne einer Musik und haben keine andern Beziehungen als solche, welche die Verwandtschaft oder den Gegensatz ihres qualitativen Inhalts betreffen; aus diesen Motiven allein kann später die Seele eine Anschauung von der räumlichen Lage der Objekte reproduzieren, von denen die Eindrücke herrührten. So wie nun unzählige Töne sich durch denselben unorganisierten Luftraum verbreiten, so können auch die unzähligen Erregungen der Nervenfäden, weil nur ihre qualitative Natur in Betracht kommt, sich durch ein ungeformtes Parenchym bis zur Seele fortpflanzen, ohne deshalb weniger geschickt zu werden, die Feinheit der spätern räumlichen Kombination zu bedingen. Die sorgsame Struktur der übrigen Teile der Zentralorgane wird darum nicht unnütz; jene Sammlungen, Durchkreuzungen und Verflechtungen der Fasern, die wir in ihnen bemerken, haben vielmehr die Bestimmung, eben durch Wechselwirkung der verschiedenen physischen Nervenerregungen jene qualitativ so fein schattierten Endzustände erst zu erzeugen, die nun der Seele als das vorbereitete Material ihrer ferneren Tätigkeit zugeführt werden.

105. Alle diese Betrachtungen sind unter der Voraussetzung eines festen Sitzes der Seele gemacht. Das Vorurteil jedoch, dass die Seele nur in unmittelbarer Berührung mit den erregten Nervenenden ihre Einflüsse empfangen könne, und die Unmöglichkeit, einen Zentralpunkt nachzuweisen, der diese Enden alle vereinigte, hat noch zu der andern Annahme geführt, dass die Seele beweglich im Gehirn enthalten sei. Sie soll nicht ruhig sitzend zuwarten, bis der Eindruck an sie gelange, sondern sie soll ihm entgegeneilen und überall an Ort und Stelle, nämlich an den zentralen Enden der jedesmal erregten Fasern die Eindrücke aufsammeln, die ihr dort dargeboten werden. Man wird dagegen hoffentlich nicht einwenden, dass das Gehirnparenchym ihrer Beweglichkeit überhaupt Widerstand leisten werde; in mehr als einer Art läßt sich eine Durchgängigkeit desselben für die Seele denken, welche ihre Bewegungen durchaus nicht hindern würde. Aber es ist klar, dass die Seele, damit sie an ein eben erregtes Nervenende hineile, schon vorher von seiner Erregung Nachricht haben müsse; sie muß also mit diesem Ende schon in irgend einem dynamischen Zusammenhange der Wechselwirkung stehen, damit sie in Folge dessen zu dem räumlichen Zusammenhange der Berührung mit ihm gelange. Ist indessen das erste einmal der Fall, so kann das zweite nun nicht mehr ebenso notwendig erscheinen: vielmehr würde das Hineilen zur unmittelbaren Berührung höchstens den Zweck einer Verstärkung jener Wechselwirkung haben, die auch ohne Berührung müßte stattfinden können, da sie ja eben der Grund für die Verwirklichung der letztern ist. Notwendig erscheint daher die Beweglichkeit der Seele nicht.

106. Übrigens wäre sie dennoch leicht zu konstruieren. Die Immaterialität der Seele hindert nach unseren früheren Sätzen die Annahme nicht, dass die Erregungen der materiellen Nervenmoleküle einen anziehenden Einfluß auf sie ausüben. Die Seele würde daher in jedem Augenblick sich an dem Punkte befinden, an welchem sie durch den Konflikt aller gleichzeitigen Nervenerregungen im Gleichgewicht gehalten wird. Sobald ein neuer Reiz hinzukommt, wird die Anziehung nach dem Ort seines Eintritts wachsen und die Seele sich nach dem Ende des neuerregten Nerven begeben; doch würde mutmaßlich der bleibende Einfluß der übrigen entgegengesetzten Erregungen sie stets nur kleine Wege beschreiben lassen. Diese Auffassung kann daher denjenigen überlassen bleiben, die etwa in der einseitigen Fixierung der Aufmerksamkeit auf einzelne Eindrücke, während andere an dem Bewußtsein vorübergehn, Grund für die Annahme einer solchen Dislokation der Seele bald nach diesem, bald nach jenem Sinnesorgane hin zu finden glauben. Ihr Hineilen nach den Anfängen motorischer Nerven würde begreiflich viel schwieriger zu erklären sein, da hier die Eindrücke nicht auf die Seele wirken, sondern von ihr erzeugt werden sollen. Die Natur der Reflexbewegungen würde vielleicht auch hier Mittel zur Erklärung darbieten. Doch ist es Zeit, diese ganze Gruppe von Vorstellungen zu verlassen, die erst durch die ausführliche Berücksichtigung der einzelnen psychischen Funktionen und durch den Versuch, diese auf bestimmte Organisationsverhältnisse des Gehirns zurückzuführen, ein größeres Interesse gewinnen kann. Dies, soweit es möglich ist, auszuführen, wird die Aufgabe des zweiten Buches unserer Betrachtungen sein.