§. 9.
Von den Prinzipien der Phrenologie.

91. Überblicken wir die verschiedenen Formen der Mitwirkung, welche die körperlichen Funktionen den geistigen gewähren, so läßt sich erwarten, dass auch die anatomische und physiologische Anordnung der Teile, von denen diese Hilfe ausgeht, nicht für alle Seelentätigkeiten die nämliche sein werde. Was zuerst die verschiedenen Klassen der einfachen Empfindungen und ihnen gegenüber die Bewegungen betrifft, so hat für sie das Nervensystem nur als ein Leiter zu wirken, dessen Substanz durch äußere Reize oder durch die des Willens in modifizierte Zustände versetzt werden kann, deren Dauer, Eigentümlichkeit und Größe den ähnlichen Verhältnissen der Reize proportional ist. Nichts würde verhindern, dass eine und dieselbe Nervensubstanz in formell und gradweis unendlich verschiedene Zustände geriete, und jene psychischen Funktionen würden deshalb an sich nicht besondere Organe, sondern nur besondere Erregungsarten voraussetzen, denen im Ganzen immer dieselbe Nervenmasse unterläge. Aber das Bedürfnis, die äußern Reize in Ordnung und unvermischt aufzufassen, die inneren des Willens aber an bestimmte Punkte der körperlichen Organisation zu leiten, erlaubt diesem Prinzip nur eine beschränkte Anwendung und führt die Notwendigkeit eigentümlich verschiedener Klassen der Nervenelemente herbei. Wir sehen daher zwar die Verschiedenheit der Farbenempfindungen in der Tat noch von verschiedenen Erregungen derselben Nervenelemente abhängen, dagegen die Wahrnehmung der Farben überhaupt an andere Substrate geknüpft, als die der Töne; wir sehen endlich im Ganzen die Funktionen der Empfindung und der Bewegung an zwei verschiedene Gattungen der Nervenfasern, sensible und motorische verteilt, deren Lage im Körper nach den Wegen bestimmt ist, auf welchen Reize eindringen oder von der Seele rückwärts nach außen geleitet werden sollen. Andere Funktionen, wie alle jene, welche eine gesetzmäßige Kombination mannigfacher Eindrücke verlangen, mußten an bestimmte Organe geknüpft sein, von denen es wenigstens sehr wahrscheinlich ist, dass sie auch in ihrer räumlichen Lage eng zusammengedrängt, einzelne Gegenden des Gehirns einnehmen mögen. Wieder andere höhere Tätigkeiten des Geistes sahen wir in ihrem eigentümlichsten Wesen gar nicht von körperlicher Mitwirkung bedingt, desto ausgedehnter dagegen mittelbar von der Funktion vielfältiger körperlicher Organe abhängig, welche von den verschiedensten Seiten her den Tatbestand, der ihrer Bearbeitung unterliegen soll, feststellen und gegenwärtig erhalten. Für sie kann es kein besonderes Organ mehr geben, sondern sie sind in dritter Linie nur von den Proportionen abhängig, welche zwischen der Größe, Kraft und Lebendigkeit jener andern Organe stattfinden. Endlich war ein großer Teil der reichsten Entwickelung unserer Seelenkräfte von der Aufeinanderfolge, der Mannigfaltigkeit und Stärke der Reize abhängig, welche auf diese feststehende Bildung der Zentralorgane teils durch die Schicksale des geistigen, teils durch den Verlauf des körperlichen Lebens einwirken. Diese Verrichtungen sind am weitesten von aller Gebundenheit an ein bestimmtes Organ entfernt und hängen nur in vierter Linie von dem Rhythmus ab, in welchem alle normalen und unregelmäßigen Elemente des Lebens sich durchkreuzen.

92. Von diesen verschiedenen Anordnungsweisen der körperlichen Impulse, von welchen die geistige Entwickelung abhängt, ist im Verlaufe der Wissenschaft keine ganz unbeobachtet geblieben und der Verfolg unserer Untersuchungen wird uns vielfach Gelegenheit geben, die hierüber aufgestellten Meinungen zu prüfen. In neuester Zeit jedoch haben die Versuche der Phrenologie und Kranioskopie mit nicht zu verkennender Einseitigkeit den einen der von uns erwähnten Fälle, die Abhängigkeit der Geistesfunktionen von unmittelbar für sie bestimmten Organen, als die allgemeine Form des Zusammenhanges zwischen Körper- und Seelenleben hervorgehoben. Schon oft ist diesen Theorien der ohne Zweifel völlig begründete Vorwurf gemacht worden, dass sie zu wenig zwischen den einfachen Geistesfunktionen, deren absichtliche Begründung im Plane der Organisation liegen muß, und jenen abgeleiteten Fähigkeiten unterscheiden, die der Seele nur durch die Eigentümlichkeit der äußeren Umgebungen, durch Übung, durch die Schicksale des Lebens, kurz durch eine unendliche Anzahl mittelbarer Einwirkungen allmählich angebildet werden. Ebenso unterscheiden sie nur unvollkommen zwischen dem, was in jeder geistigen Tätigkeit auf Rechnung ihrer eigenen spezifischen Natur kommt, und jener zufälligen Form ihrer Äußerung, die ihr durch die Beziehung auf einen bestimmten, durch die Schicksale des Lebens ihr dargebotenen Kreis von Objekten erst später zuwächst. Für Heftigkeit der Affekte, für Gewaltsamkeit und Raschheit alles Handelns überhaupt ist es ohne Zweifel möglich, eine körperliche Prädisposition anzunehmen, obgleich sie schwerlich in einem besonderen Organe, sondern gewiß in einer Proportion der Kräfte oder einem Rhythmus körperlicher Tätigkeiten liegen wird. Aus dieser allgemeinen Tendenz des Gemüts mögen die Umstände des Lebens und der allmählichen Ausbildung, mögen endlich selbst andere Nebeneinflüsse der körperlichen Organisation Neigung zur Grausamkeit oder Mordlust entwickeln. Ein eigentümlich für beide von der Natur prädestiniertes Organ scheint uns dagegen ein ebenso törichter Gedanke, als wenn die Pathologie statt einer Disposition zu Krampf oder zu Schwindsucht dem Körper ein Organ des Krampfes oder ein Organ der Schwindsucht zuschreiben wollte. So lange daher die Phrenologie darauf ausgeht, die einzelnen Hervorragungen, die sich am Gehirn wahrnehmen lassen, durchweg als direkte und in gleichartiger Weise dienende Organe der Geistesfunktionen anzusehen, so lange muß die schlechte Koordination einfacher und elementarer Tätigkeiten mit den Resultaten der verwickeltesten Bildungsbedingungen stets ein Hindernis ihres Gedeihens sein.

93. Es läßt sich übrigens leicht einsehen, dass die Vorstellung einzelner, an bestimmte Gegenden des Gehirns lokalisierter Organe, wie sehr man sich auch bemühen möge, durch allerhand Verbindungsfäden diese getrennten Teile wieder in gegenseitigen Zusammenhang zu denken, dennoch die Erklärung der geistigen Funktionen nicht erleichtern, sondern erschweren würde. Nehmen wir an, es gäbe ein eigentümliches Organ des Willens oder der Energie, so wissen wir doch, dass nie ein Wille überhaupt, nie eine bloße Energie ausgeübt wird, sondern dass stets irgend etwas, der Inhalt irgend eines Gedankens oder eines Vorstellungskreises gewollt wird. Aber das Geschäft, diesen Inhalt zu denken, fällt wieder einem andern Organe anheim. Gesetzt nun, dies habe seine Arbeit vollzogen und es solle nun der Wille angeregt werden, so muß offenbar von dem intelligenten Organ entweder dieser Wille schon erzeugt werden, oder das Denken muß in das Organ des Willens übergehen, um ihn dort hervorzurufen; denn wo der letztere nicht um der bestimmten Vorstellung willen und auf sie bezüglich entstände, würde er vielmehr gar nicht entstehen. Im ersten Falle nun würde das Willensorgan eigentlich nur als eine Art von Resonanzboden dienen, welcher die schon in dem Organ der Intelligenz aus dem Inhalt des Gedachten entstehende Neigung des Willens verstärkt und ihm, der vielleicht nur ein Differential einer Größe wäre, die nötige Energie verschafft. Im zweiten Falle, wenn das Willensorgan einmal eine Überlegung, die das intelligente Organ vollendet hat, als solche in sich aufnehmen kann, um sich durch sie zur Tätigkeit bringen zu lassen, so würde es im Grunde eines Organs der Intelligenz überhaupt nicht bedürfen, sondern seine Arbeit fiele teils dem des Willens, teils den äußeren Sinnesorganen zu, welche die Anreize der Überlegung herbeischaffen.

94. Gewiß würden alle diese Verhältnisse sich viel einfacher konstruieren lassen, wenn man nicht eigentümliche, in verschiedene Gegenden des Gehirns lokalisierte Organe des Willens und der Intelligenz voraussetzte, sondern annähme, dass etwa der Wille von einem bestimmten Intensitätgrade oder einer bestimmten Formumwandlung jener Prozesse abhinge, durch deren Mitwirkung die Gedanken zu Stande kommen. Wie ein fester Körper seinen Erstarrungspunkt, Schmelzpunkt und seinen Siedepunkt hat, so könnte jede Vorstellung gleichsam einen Temperaturgrad erreichen, bei dem sie Gefühle, einen noch höheren, bei welchem sie Strebungen erregte; und beide, Gefühle wie Strebungen würden in einer solchen Konstruktion nicht gegenstandlose Erregungen sein, die auf das, was gefühlt oder gewollt werden sollte, erst künstlich wieder bezogen werden müßten; sie würden vielmehr diese bestimmte Beziehung sogleich an sich tragen, da sie nichts wären, als eben dieser Inhalt selbst, nur geraten in den Zustand des Gefühlt- oder Gewolltseins, so wie Körper in Bewegungen von verschiedener Geschwindigkeit oder Richtung geraten. Oder wer andere physiologische Analogien vorzöge, könnte annehmen, dass Vorstellung, Gefühl, Wille an verschiedene Gattungen der Nervenfasern verteilt seien, die sich wie motorische und sensible, in den aller mannigfachsten Verschlingungen durchkreuzten. Gleich dem Übergang der Erregung, der in den Reflexbewegungen von einer empfindenden zu einer bewegenden Faser stattfindet, würde hier jede Erregung einer Vorstellungsfaser bei einem gewissen Grade ihrer Stärke eine entsprechende Erregung in den benachbarten Fasern des Gefühls und Willens induzieren können, und so wie wir sehen, dass auch jene Reflexbewegungen nach Verschiedenheit der Gesundheitsumstände bald schwieriger, bald leichter erfolgen, so ließe sich auf veränderliche Stimmungen der Zentraleorgane, oder ursprünglich verschiedene Mischung ihrer Elemente bequem die große Abweichung zurückführen, die bei verschiedenen Individuen in der Schnelligkeit und Stärke der Erregung einer Geistesfunktion durch die andere beobachtet wird. Endlich würde die unendliche Mannigfaltigkeit der Proportionen, in welchen diese drei Fasergattungen sich mischen ließen, die Möglichkeit einer Unzahl abgeleiteter Organe für die zusammengesetzteren Geistesfunktionen gestatten, in denen doch überall Zusammenhang und gegenseitiger Übergang jener drei Grundtätigkeiten des Seelenlebens stattfände.

95. Dies alles sind nicht bloß denkbare Schemata eines möglichen Verhaltens, sondern jedes dieser Prinzipien der Anordnung hat, wie wir später zu zeigen denken, auch wirklich seinen Kreis der Anwendung; gegenwärtig kam es uns allerdings nur darauf an, sie als eine Anzahl möglicher Hypothesen der einseitigen Vorstellungsweise der Phrenologie gegenüber zu stellen. Wir würden jedoch ungerecht gegen diese vielbezweifelte Wissenschaft sein, wenn wir hierbei stehen bleiben wollten. Die Einwürfe, die gegen die unnatürliche Koordination so verschiedenwertiger Geistestätigkeiten schon oft gemacht worden sind, haben doch nicht alles Erfolgs entbehrt. Die neuere Phrenologie hat den Schein einer erklärenden Wissenschaft aufzugeben und sich als eine vorläufige Sammlung von Erfahrungen zu betrachten angefangen. Dies ändert das Gewicht jener Einwürfe gar sehr. So lange man einen Buckel des Gehirns als Organ einer Geistesfunktion ansah, war mit Recht zu erinnern, dass nicht alle geistigen Tätigkeiten an einzelne Organe gebunden sein können; sobald man dagegen nur behauptet, jener Buckel sei ein semiotisches Kennzeichen für das Vorhandensein irgend einer spezifischen Richtung des geistigen Lebens, so hängt die Entscheidung gänzlich von der Verifikation der Erfahrung ab. Wenn bei so veränderter Auffassung die Phrenologie doch fortfährt, von Organen zu reden, so ist dies eine herkömmliche Ungenauigkeit ihres Ausdruckes, durch die wir uns nicht zu ihren Ungunsten einnehmen lassen dürfen. Im Grunde meint sie doch nur, so wie der Arzt aus der Beschaffenheit des Pulses eine bestimmte Krankheit diagnostiziere, ohne im Geringsten zu wissen, wie und warum beide zusammenhängen, so lasse sich aus der Bildung des Kopfes ein diagnostischer Schluß auf die Eigentümlichkeit des Seelenlebens ziehen, obgleich es ganz dahingestellt bleibe, in welcher Form des Wechselverhältnisses beide stehn.

96. Mit dieser Auffassungsweise lassen sich alle die verschiedenen Arten der Begründung geistiger Tätigkeiten durch körperliche Mitwirkung vereinigen, die wir oben angeführt haben. Eine Hervorragung des Gehirns kann zwar bedeuten, dass unmittelbar die hervorragende Masse selbst einer hervorstechenden Geistesfunktion als Organ dient; sie könnte jedoch ebenso gut nur das Symptom irgend einer Dislokation der Gehirnmassen sein, so dass um der Übergröße einiger Teile willen, die von dem Orte der äußerlichen Erhöhung vielleicht ziemlich entfernt sind, dieser hervorragende Teil durch eine Verschiebung seiner Lage über die Oberfläche hervorzuspringen gezwungen wird. In diesem Falle kann der Buckel des Gehirns sehr wohl Zeichen einer erhöhten Geistesfunktion sein, ohne dass doch der Massenteil, der ihn bildet, im Geringsten eine vorzügliche Beziehung zu dieser Funktion hätte. Es können endlich im Allgemeinen Hervorragungen des Gehirns überhaupt als Zeichen größerer Ausbildung selbst solcher Geistestätigkeiten gelten, die gar nicht an bestimmte Organe, sondern nur an gewisse Proportionen anderer einfacherer Organe gebunden sind. Es scheint mir deshalb, als wenn die Anfeindungen, welche die Phrenologie erfahren hat, zum Teil über die Notwendigkeit wissenschaftlicher Bestreitung aus Prinzipien hinausgingen; es ist nicht nötig, die Grundvorstellungen so roh zu fassen, wie sie allerdings oft hingestellt werden, vielmehr verträgt sich die Annahme, an der Bildung des Gehirns semiotische Kennzeichen für die spezifischen Anlagen des Geistes zu besitzen, recht wohl mit allen den Voraussetzungen, die wir über die Wechselwirkung zwischen Gehirn und Seele machen müssen.

97. Beruft sich nun die Phrenologie auf die Erfahrung, um ihre Resultate zu beweisen, so sind auch hiergegen freilich bedeutende Einwürfe möglich. Zwar, dass die äußere Oberfläche des Schädels, die allein untersucht werden kann, der Oberfläche des Gehirns nicht genau parallel und ähnlich ist, dürfte kaum in Betracht kommen. Die Ähnlichkeit beider ist groß genug, und was in Bezug hierauf gefehlt worden ist, das verschwindet in dem allgemeineren Vorwurf, dass die Phrenologie überhaupt sich nicht genug an große und einfache Beobachtungen gehalten hat, sondern häufig in Feinheiten der Deutung und Erklärung von Charakteren eingegangen ist, über welche keine übereinstimmende Erfahrung möglich ist. In den übrigen physischen Wissenschaften beruht die Erfahrung darauf, dass Alle dieselben Vorgänge gleich und ähnlich sehen und hören; die Ermittelung des Tatbestandes ist deshalb leicht; für die Phrenologie dagegen ist schon der Tatbestand, nämlich das Vorhandensein irgend einer bestimmten Richtung des geistigen Lebens, nicht ein Gegenstand der Wahrnehmung, sondern der Vermutung und der Deutung; es muß aus einer stets mehr oder weniger unvollständigen Übersicht des Benehmens der Menschen erschlossen werden. Dieser ungünstige Umstand müßte die Phrenologie eigentlich nötigen, sich auf Betrachtung derjenigen Talente oder Anlagen zu beschränken, deren Ermittelung von der regellosen Virtuosität der Menschenkenntnis möglichst unabhängig ist. Dass Jemand Ortsinn habe, Talent für Mathematik, Zahlengedächtnis, Farbensinn, musikalische Anlage, das Alles ist nicht schwer zu konstatieren. Und da wir wissen, dass diese Fähigkeiten, wo sie nicht ursprünglich vorhanden sind, sich gar nicht oder in höchst unbeträchtlichem Maße erwerben lassen, da wir mithin voraussetzen können, dass sie in der Konstruktion der Zentralorgane irgend einen organischen Grund haben mögen, so ist es ohne Zweifel ein völlig gerechtfertigter Versuch, durch Vergleichung sehr zahlreicher Beobachtungen die mit ihnen zusammenhängende Bildung des Schädels ermitteln zu wollen. Dagegen ist es gewiß nicht so leicht, Demut, Religiosität und ähnliche Richtungen des geistigen Lebens aus der Geschichte eines Charakters auf eine solche Weise zu diagnostizieren, wie es für phrenologische Untersuchungen ersprießlich sein könnte. Demut kann ebensowohl aus einer Zaghaftigkeit des Gemüts in Verbindung mit einem Gefühl der Kraftlosigkeit des körperlichen Lebens entspringen, als sie aus sittlicher Erkenntnis freiwillige Unterwerfung eines kraftvollen Sinnes sein kann. Beide ursächliche Momente sind es nun aber, die in der Bildung des Gehirns zu suchen wären, ihr Resultat dagegen nicht. Und dabei sehen wir ab von aller Heuchelei und von jeder Täuschung, die den unfehlbaren Scharfblick des Phrenologen von irgend einem versteckten Hochmut vielleicht überdies ablenkt. Was ist ferner Religiosität? Aus wie ganz heterogenen Quellen kann diese allgemeine Geneigtheit, sich mit Gegenständen eines religiösen Vorstellungskreises zu beschäftigen, geflossen sein? Ängstliche Stimmungen, aus nervösen Leiden hervorgehend, wie sie nicht selten zur Dämonophobie führen, können eine Richtung der Gedanken auf eine religiöse Gespensterwelt bewirken, die sehr verschieden ist von der aufrichtigen, instinktiven Frömmigkeit, die sich in einem andern Gemüte, oder von der bewußten Verehrung des Heiligen, die in einem dritten vielleicht ohne körperliche Anlage, vielmehr im Kampfe mit ihm, sich durch die Schule des Lebens gebildet hat. Wer schreibt sich nun die Menschenkenntnis zu, in unzähligen Fällen der Beobachtung mit der Schärfe, welche die Wissenschaft bedarf, diese verschiedenen Wurzeln hervortretender Geistesrichtungen zu unterscheiden? Und doch sind diese Wurzeln allein, nicht aber die allenfalls wohl wahrzunehmenden Erscheinungen, die wir mit dem psychologisch vagen Namen der Demut und Religiosität bezeichnen, die Gegenstände der Phrenologie.

98. Wir wollen endlich jener letzten Schwierigkeit nur noch gedenken, gegen die schon Napoleon ein nicht übermäßig scharfsinniges Bedenken geäußert hat, indem er meinte, die Phrenologie schreibe der Natur Prädispositionen für Tätigkeiten zu, deren Objekt erst in der Gesellschaft, zum Teil durch Zufälligkeiten menschlicher Bildung entstehe. In der Tat würde die Annahme eines Organs für den Genuß der Spirituosen die Phrenologie schlecht empfehlen; auch das allgemeinere Organ der Trunksucht, von dem wohl früher gesprochen wurde, nicht besser. Dennoch ist Napoleons Einwurf an sich falsch und trifft selbst, so weit er passend ist, doch nur eine leicht zu verbessernde Mangelhaftigkeit der Auffassung. Die Natur gibt den Organismen allerdings eine große Menge Impulse und Prädispositionen mit, deren Objekte scheinbar zufällig und gewiß nicht mit einer von dem einzelnen Organismus abhängigen Notwendigkeit entstehen oder gefunden werden. Ist doch das ganze Leben auf die Voraussetzung einer Außenwelt gegründet; hat das Tier Zähne, so ist sein Leib auf das Vorhandensein zermalmbarer Nahrungsmittel berechnet; alle Tiere, die nicht Hermaphroditen sind, sind in ihrer Organisation auf Exemplare andern Geschlechts bezogen, obgleich es gar nicht von ihnen selbst abhängt, dass jene sich werden antreffen lassen; noch vielmehr ist bei vielen andern Tieren der ganze Bau des Körpers und das System seiner Funktionen auf gewisse gesellige Lebensverhältnisse berechnet, deren Eintreten nicht von den Einzelnen, sondern von dem Ganzen der Naturordnung herbeigeführt wird. Warum sollten daher nicht auch im Baue des menschlichen Gehirns Prädispositionen zu Handlungsweisen liegen, deren Zielpunkte noch unwirklich sind, und nur durch den gleichfalls von einer allgemeinen Macht geordneten Verlauf der Geschichte allmählich erzeugt werden? Dem Prinzip nach hat daher Napoleon Unrecht; dass er im Einzelnen Recht hat in Bezug auf Trunksucht, Diebsinn und Anderes, geben wir gern zu. Aber Jedermann sieht, dass der Fehler der Phrenologie hier nur in der Ungenauigkeit besteht, gewisse allgemeine und elementare Neigungen des Geistes, die wirklich organisch präformiert sind, z. B sinnliche Genußsucht überhaupt, in einer bestimmten und speziellen Form der Äußerung präformiert zu denken, die sie freilich erst annehmen, wenn ihnen ein bestimmter Gegenstand als Ziel ihrer Tätigkeit gegeben ist. Wohl setzt Diebssinn oder Mordlust die Existenz von Eigentum und Gesellschaft voraus, aber beide können wenigstens möglicherweise auch aus allgemeineren Tendenzen des Egoismus fließen, die mittelbar oder unmittelbar durch körperliche Mitwirkung begründet oder unterstützt werden dürften.