§. 8.
Verschiedene Begründungsweisen geistiger Verrichtungen durch körperliche Beihilfe.

83. Von den verschiedenen Bestandteilen des Körpers steht bekanntlich nur das Nervensystem in so enger Beziehung zur Seele, dass seine Zustände unmittelbar ihre Erregungen veranlassen; doch liegen auch in dem Bau und den Funktionen der übrigen Teile mitwirkende Bedingungen genug, durch die allein eben dem Nervensystem selbst jene Reize zugeführt werden, die es weiter auf die Seele fortpflanzen soll. Hier ist es nun nötig, von Anfang an eine Mehrheit möglicher Verhältnisse zu berücksichtigen und sich nicht auf eine zwar nahe liegende, aber doch einseitige Betrachtungsweise zu beschränken. In der Naturbeobachtung pflegt die gewöhnliche Auffassung die Farben der Körper auf ein besonderes färbendes Prinzip, ein Pigment, zurückzuführen. Diese Meinung ist häufig richtig; es sind in der Tat, wenigstens in der organischen Welt, meistens besondere chemische Verbindungen, von deren Einlagerung die an sich meist farblosen Gewebe der Blumen und anderer Teile ihr Kolorit empfangen. In andern Fällen ist diese Vermutung unrichtig, und die Färbung rührt nicht von einem besondern Stoff, sondern unmittelbar von den Eigenschaften der Hauptsubstanz selbst her, die eine bestimmte Gattung farbiger Strahlen in unser Auge zurückwirft. In der physiologischen Psychologie hat man sich viel zu einseitig an eine jener Pigmentenlehre analoge Ansicht gewöhnt; wo irgend geistige Ereignisse von körperlichen Bedingungen abhängen, setzt man sofort ein körperliches Organ voraus, das gleich dem Pigmente, ausdrücklich und ausschließlich zur Herstellung dieser bestimmten Funktion vorhanden sei. Aber eine sehr ausgedehnte und wirksame Begründung geistiger Tätigkeiten durch körperliche Funktionen kann vorhanden sein, ohne dass diese Hilfe von einem bestimmten eigens dafür gebildeten Organe auszugehen brauchte.

84. Wir haben bisher keine Veranlassung gehabt, die Summe der Seelenerscheinungen zu klassifizieren; wir vermeiden auch hier eine solche detaillierte Aufzählung von Vorgängen, die in ihrem Äußerlichen Jedem leidlich bekannt sind, und begnügen uns für unsern gegenwärtigen Zweck mit folgenden Bemerkungen. Unter den zahlreichen Ereignissen des innern Lebens lassen sich zunächst gewisse einfache, nur der Qualität und der Größe ihres Inhalts nach bestimmte Elemente unterscheiden, in denen keinerlei Zusammensetzung, keine kombinierende, scheidende oder ordnende Tätigkeit der Seele zum Vorschein kommt. Als reinstes Beispiel derselben nennen wir die elementaren Empfindungen der Farben, der Töne und aller übrigen Sinne. Um sie hervorzubringen, ist nur nötig, dass die Seele durch eine bestimmte und eigentümliche Erregung eines Nervenelements einen qualitativ ebenso bestimmten Eindruck erfahre. Es ist wahrscheinlich, dass für jede qualitativ zusammengehörige Gruppe solcher Empfindungen auch ein eigentümliches Nervenelement vorhanden sei, das immer nur die ihnen entsprechende Klasse der Erregungen ausschließlich der Seele zuführt, und dessen verschiedene Zustände sich nur durch quantitative oder durch mathematische Differenzen überhaupt unterscheiden. Ein solches Nervenelement, also etwa eine Sinnesnervenfaser, entspricht der Vorstellung, die wir mit dem Namen eines Organs zu bezeichnen pflegen, noch wenig; es bildet einfach einen Weg, einen Conductor für den Reiz, entbehrt jedoch jeder inneren Mannigfaltigkeit der Organisation und jeder zusammengesetzten Tätigkeit, durch die es die Reize umgestaltete, kombinierte, oder auf andere Weise der Seele zu einer Verarbeitung derselben diente.

85. Diese einfachen Empfindungen nun finden wir zweitens in eine räumlich zeitliche Ordnung gebracht, welche gänzlich unabhängig von dem Inhalte derselben und nur an die zufällige Reihenfolge gebunden ist, in welcher die ihnen vorangehenden Reize auf die Seele wirken. So kann im Sehfeld jede Farbe jeden Ort, und zwar in jeder Ausdehnung und jeder Helligkeit einnehmen. Der Grund, warum die einzelnen Farbenpunkte in der bestimmten Nebeneinanderlagerung erscheinen, in der wir sie wahrnehmen, liegt daher nicht in der Seele, welche vielmehr sich selbst überlassen, die Farben nur nach ihrer qualitativen Verwandtschaft ordnen würde; er liegt auch nicht in jenen einzelnen Elementen, den sensiblen Nervenfäden, denn von ihnen ist jeder für jeden Farbeneindruck gleich empfänglich; er kann also nur in der Ordnung liegen, in welcher die äußern Farbstrahlen ein System nebeneinander liegender Fasern treffen. Auf welche Weise nun aus diesen Umständen die Stellung der Punkte im Sehfeld hervorgeht, ist keineswegs sehr einfach; wir werden vielmehr dieser Frage später eine ausführliche Untersuchung widmen müssen. Aber wir sehen an diesem Beispiel schon hier, welche Aufgabe die Seele zu lösen hat, und wie aus ihr die Notwendigkeit eines eigenen Organs entsteht. Die Seele bedarf einer systematischen Zusammenstellung mehrerer Elemente, deren Zustände unter einander in gesetzmäßiger Verknüpfung und Wechselwirkung stehen, und ihr dadurch eine gesetzliche Kombination von Elementen möglich machen, in deren bloßer Qualität und Stärke sie an sich keinen Grund zu einer bestimmten Verbindungsweise mit Ausschluß aller übrigen finden könnte. Dieselbe Notwendigkeit kehrt überall wieder, wo der Seele eine Verflechtung mannigfaltiger Eindrücke aufgegeben ist, die nach andern Prinzipien erfolgen soll, als nach der qualitativen Verwandtschaft ihrer Inhalte. Sie findet dagegen im Allgemeinen nicht statt, wo diese besonderen Aufgaben der Seele nicht gestellt sind. In der gewöhnlichen Assoziation der Vorstellungen sehen wir z. B. das Fremdartigste sich mit einander verbinden, weil es gleichzeitig zur Wahrnehmung kam; aber zu dieser Verknüpfung bloß gleichzeitiger Eindrücke reicht die Einheit der Seele hin, auf die sie wirken, denn zwischen diesen assoziierten Eindrücken wird keine andere, eigentümlichen Prinzipien folgende Ordnung hergestellt; sie werden vielmehr prinziplos alle in gleichem Sinne, und jeder einzelne in der Größe und Stärke mit andern verbunden, die ihm an sich, oder mit Rücksicht auf seinen Wert für den momentanen Zustand des Gemütes zukam. Ebenso wenig haben wir Grund, ein eigentümliches Organ des Gedächtnisses anzunehmen; denn das Gedächtnis stiftet keine andere Ordnung zwischen den Eindrücken und verarbeitet nichts; es ist nur die Konservation einer früher getanen Arbeit. Entweder ist es daher von körperlichen Tätigkeiten unabhängig, und einfach eine Fähigkeit der Seele, die ihren verinnerlichten Gewinn festhält, nachdem die ihn erzeugenden Körperfunktionen längst aufgehört haben; oder wenn es von leiblichen Bedingungen abhängt, so hängt es doch nur von der Fortdauer aller der einzelnen Tätigkeiten ab, welche jene Arbeit der räumlichen Anordnung, der Assoziation äußerer Eindrücke vollzogen. Es würde dann das Gedächtnis die Endwirkung einer großen Anzahl verschiedener Organe sein können, und man würde begreifen, dass es häufig in Krankheiten nicht im Ganzen, sondern stückweis in Bezug auf die Eindrücke und Kombinationen erlischt, deren unterhaltende Organe in ihrer Funktion gehindert sind.

86. Neben der Empfindung und der Anschauung, wie wir die beiden bisher berührten Kreise des geistigen Lebens nennen können, finden wir drittens eine eigentümliche Verarbeitung der Eindrücke, welche den wesentlichen Bestandteil der höheren Geistestätigkeiten oder des Intellektuellen Lebens im engeren Sinne bildet. Das Eigentümliche aller dieser Tätigkeiten des Geistes besteht in einer Verknüpfung der gegebenen Eindrücke nach Maßgabe der Verwandtschaft, die ihr Inhalt entweder an sich zeigt, oder erlangt, sofern er unter allgemeinen Gesichtspunkten zusammengefaßt wird, an deren Anwendung nur der Geist vermöge der eigentümlichen Gesetze seiner Natur Interesse haben kann. Was die gewöhnliche Ansicht als Äußerungen des Verstandes und der Vernunft, als Denken überhaupt zu bezeichnen pflegt, gehört zu diesem Gebiete, dessen Grenzen wir hier nicht näher bestimmen wollen, aus dem wir vielmehr nur einige bekannte Punkte hervorheben, um an ihnen ein neues Verhältnis körperlicher Mitwirkung klar zu machen. Schon wenn wir sinnliche Eindrücke nicht in der zufälligen Verbindung zusammen lassen, in der sie uns in der Wahrnehmung vorkommen, sondern diese Verknüpfung zerstören und die einzelnen Empfindungen nach der Verwandtschaft ihrer Qualitäten neu zusammenstellen, wenn wir z. B. die Skala der Töne oder der Farben in ihrer systematischen Ordnung vorstellen, vollziehen wir eine solche intellektuelle Tätigkeit, an welcher körperliche Mitwirkung einen nur mittelbaren Anteil hat. Damit wir Töne von verschiedener Stärke und gesetzmäßig verschiedenen Intervallen empfinden können, ist es ohne Zweifel notwendig, dass unsere Zentralorgane Erregungen erfahren, deren Differenzen bezüglich der Stärke und Form jenen Unterschieden der Töne proportional sind. Nachdem jedoch die Tonvorstellungen einmal entstanden sind, wird unsere geistige Tätigkeit, welche die verschiedenen Eigenschaften derselben unter einander vergleicht und sie demgemäß in eine Reihe ordnet, gerade hierin einer Unterstützung durch körperliche Mitwirkung weder fähig noch bedürftig sein. Denn das Material, welches sie vergleichen soll, besitzt sie in der Erinnerung; um aber sich bewußt zu werden, dass ein Ton um ein bestimmtes Intervall höher sei als der andere, ist sie notwendig ganz auf sich selbst angewiesen, da alle körperlichen Erregungen ihr doch stets nur entweder beide Töne, oder irgend eine mittlere resultierende Erregung zuführen könnten. Täten sie das Letztere, so würde dies durchaus keine Vergleichung zweier Töne, kein Bewußtsein über ihr gegenseitiges Verhältnis, sondern nur irgend eine einfache, dritte Wahrnehmung herbeiführen; tun sie das Erste, und in der Tat besteht vielleicht hierin ein wirklicher Beitrag, den sie liefern, so überlassen sie eben die Hauptsache, die Vergleichung, doch wirklich wieder der Seele. In diesen und allen ähnlichen Fällen würde daher die Mitwirkung körperlicher Organe entweder ganz überflüssig oder nur mittelbar nützlich sein. Überflüssig dann, wenn die Seele durch selbständige Tätigkeit das zu verarbeitende Material in der Erinnerung hinlänglich lebhaft aufbewahren könnte: nützlich nur dann, wenn ihr dies unmöglich wäre; und nur mittelbar nützlich deswegen, weil auch dann doch die körperliche Mitwirkung sich völlig auf die erneuerte Hervorbringung des Tatbestandes beschränken müßte, an dem die Seele ihre intellektuelle Tätigkeit der Vergleichung, Beziehung und Verarbeitung ausüben soll.

87. Dieselben Verhältnisse kehren noch deutlicher in den verwickelteren Fällen ästhetischer und moralischer Beurteilungen wieder. Niemand kann so sehr, wie wir, überzeugt sein, dass ein großer Teil des Eindruckes, den uns schöne Gegenstände machen, auf Erregungen oder Mitwirkungen nervöser Elemente beruht; dennoch würde man entweder jede Eigentümlichkeit des ästhetischen Gefühls und jeden Unterschied desselben von sinnlichen Gefühlen leugnen, oder zugeben müssen, dass auch hier die körperliche Hilfe nur in Festhaltung eines Tatbestandes besteht, über den das ästhetische Urteil doch ganz allein von der Seele gefällt wird. Wer die erste Annahme billigt, wird in dem Wohlgefallen an einem harmonischen Akkord nichts weiter sehen, als das sinnliche Wohlgefühl, welches das Zusammentreffen zweier Erregungen begleitet, die in so einfachen Verhältnissen zu einander stehen, dass ihre Gleichzeitigkeit die Funktion des Nerven nicht stört, sondern belebt. Eine Dissonanz mißfiele gleich allen sinnlichen Schmerzen, weil sie zwei andere Erregungen verbände, deren Simultaneität der Leistungsfähigkeit des Nerven nicht entspricht, sondern sie zu stören droht. Schönheit und Häßlichkeit einer Melodie würde sich darnach richten, ob Art und Folge der Übergänge von einem Ton zum andern den Bedingungen wohl oder schlecht genügt, unter denen ein Nerv ohne Schaden für seine Substanz, Mischung und Funktion aus einer Lage der Erregung in eine andere übergehen kann. Wir wollen diese Ausführung nicht weiter fortsetzen; sie läuft darauf hinaus, den ästhetischen Eindruck einer zusammengesetzten Erscheinung als ein Mosaik einzelner sinnlicher Schmerz - oder Lustgefühle von unbeträchtlicher Stärke darzustellen. Wer dagegen in dem Schönen noch etwas Anderes erblickt, und in der ästhetischen Lust neben dem gewiß nicht fehlenden Elemente subjektiven Wohlgefühls noch eine unabhängige Billigung und Wertschätzung des schönen Gegenstandes sieht, wird nun dieses Mehr auch gänzlich der Seele zurechnen müssen. Denn in der Tat kann aus aller körperlichen Mithilfe der Organe mehr nicht hervorgehen, als die eben geschilderte Ansicht aus ihr zu deduzieren suchte. Wir haben früher schon das Beispiel des Komischen erwähnt. Unmöglich wird das eigentümliche ästhetische Gefühl, das seinen Eindruck begleitet, auf den Verhältnissen beruhen, die zwischen den gleichzeitigen Farbenerregungen der Netzhaut bestehen, welche der Anblick des lächerlichen Gegenstandes erweckt. Denn seine komische Seite tritt erst hervor, wenn wir diese optischen Eindrücke nach ihrem Sinne ausdeuten, und sie in Zusammenhang mit einer Welt von Gedanken, Ansichten und Voraussetzungen bringen, die nur aus dem geistigen Leben der Seele fließen, mit bestimmten Bewegungsformen des Nervensubstrats dagegen in gar keiner Beziehung stehen.

88. Gehen wir endlich zu der sittlichen Beurteilung von Handlungen über, so können wir zugeben, dass auch sie mittelbar sehr wesentlich mit bestimmt wird durch die Genauigkeit, mit welcher unsere sinnliche Auffassung ihren Tatbestand darstellt, und durch die Lebhaftigkeit, mit welcher nach dem beständigen oder momentanen Zustande unseres Nervensystems sich an diesen Tatbestand sowohl Assoziationen anderer Vorstellungen, als namentlich auch Gefühle sinnlicher Art anknüpfen. Aber dennoch wird keine Erregung eines körperlichen Organs der Seele in dem wesentlichsten Punkte, in der Fällung des moralischen Urteils selbst beistehen können; die Mithilfe der Nerven wird stets nur den angenehmen oder unangenehmen Gefühlswert der betrachteten Handlung für das subjektive Leben des Individuum, aber niemals die von aller persönlichen Lust und Unlust entblößte Beurteilung ihrer objektiven Güte oder Schlechtigkeit begründen können. Wie groß daher auch die Mitwirkung der körperlichen Funktionen für die höhern Geistestätigkeiten sein mag, so besteht sie doch gewiß nicht darin, dass diesen eigentümliche Organe für das Spezifische ihrer Leistung zugeordnet wären, sondern nur darin, dass, um manche nötige Voraussetzungen für die Ausführung dieser Leistungen zu realisieren, die ungeschmälerte Funktionsfähigkeit anderer vorbereitender Organe verlangt wird.

89. Man würde jedoch überhaupt das geistige Leben falsch beurteilen, wenn man in ihm neben dem Material, das seiner Bearbeitung unterliegen soll, nur gewisse allgemeine Fähigkeiten und Vermögen annehmen wollte, die stets lediglich nach einem abstrakten Gesetze ihres Wirkens diese Bearbeitung vollzögen. Vielmehr geschieht alle Verbindung und Umgestaltung der Eindrücke wesentlich unter der Herrschaft von inhaltvollen Gedankenkreisen, Vorstellungsmassen und Maximen, in denen eine mannigfaltige Anwendung jener allgemeinen und abstrakten Fähigkeiten auf bestimmten und konkreten Inhalt bereits enthalten ist. Die Obersätze der Beurteilung, die allgemeinen Gesichtspunkte, denen wir im Leben wirklich jeden neu gewonnenen Inhalt der Erfahrung unterwerfen, sind fast durchgehends von dieser eigentümlichen Natur. Die richtige Behandlung jeder später eintretenden Erfahrung hängt daher gar sehr von der Richtung ab, nach welcher frühere den allgemeinen Fähigkeiten des Geistes einmal eine entschiedenere Neigung und größere Beweglichkeit gegeben haben. Am auffallendsten zwar treten die Einflüsse, die in dieser Hinsicht ausgeübt werden, in der Erziehung, sowohl durch absichtliche Pädagogie, als durch die Schicksale des Lebens hervor; aber auch der Körper bringt ähnliche und weitgreifende Einwirkungen sowohl durch seine beständige Bildung als durch seine allmähliche Entwickelung herbei. Nicht in allen Organismen ist die chemische Zusammensetzung des Blutes, sind ferner jene Hilfsmittel der Zirkulation, der Respiration und andere, von denen Größe und Lebendigkeit der Nervenerregungen abhängt, dieselben; auch die Masse und die Feinheit der Ausbildung einzelner Nervenpartien mag vielfach verschieden sein. Damit ist auch die Summe der Eindrücke, welche die Seele erhält, ihre Stärke und die Geschwindigkeit ihrer Abwechselung verschieden; die Feinheit ihrer Kombination nicht minder; dem Einen führt eine vorzugsweise entwickelte Funktion seines Körpers, dem Andern eine verkümmerte ganz verschiedene Stimmungen des Gemeingefühls, sehr abweichende Lebendigkeit willkürlicher und unwillkürlicher Verrichtungen, und dadurch mittelbar selbst reichere oder ärmere, mehr oder minder abwechselnde Kreise der Erfahrung zu. Ein Gleiches findet in der allmählichen Entwickelung des Körpers statt; eben in ihrer Bildung oder auf dem Höhepunkt ihrer Vollendung begriffene Funktionen werden zu dem allgemeinen Gefühle des Daseins und Lebens stärkere und durch ihre eigentümliche Qualität ausgezeichnete Beiträge geben, und so muß sich aus der unendlichen Kombination dieser vielfältigen Bedingungen für jede Seele ein ganz individueller Gesichtskreis ausbilden. Dass hieraus entschiedene Anlagen des Geistes für bestimmte Arten der Tätigkeit und eben so große Unfähigkeit zu andern hervorgehen müsse, ist unvermeidlich; dennoch finden diese Einflüsse statt, ohne dass es für die einen ein bestimmtes Organ gäbe, das für die andern, widernatürlich fehlte. Die Mitwirkung des Körpers besteht hier in der Verbindungs- und Sukzessionsform von Reizen, welche durch die verschiedensten Organe der Seele zugeführt werden, und die Richtung bestimmen, die ihre Tätigkeit nimmt.

90. Alle diese höheren Entwickelungen des geistigen Lebens setzen nun, um überhaupt möglich zu werden, die Festhaltung früherer Eindrücke durch das Gedächtnis und ihre Wiedererinnerung voraus. In wieweit beide Fähigkeiten körperlich mitbedingt sind, müssen wir späteren, spezielleren Betrachtungen zu entscheiden überlassen, doch sehen wir so viel schon hier, dass wenigstens die Annahme eines besonderen Gedächtnisorgans sehr unwahrscheinlich sein würde. Denn das Gedächtnis ist nicht eine durch eigenen qualitativen Inhalt bezeichnete Tätigkeit des Geistes neben anderen, sondern eine allgemeine Form des Schicksals, welches allen Elementen des Seelenlebens widerfahren kann, und von ihnen so wenig abtrennbar ist, als eine Bewegung ohne bestimmte Richtung und Geschwindigkeit existieren kann. Im Übrigen können wir hier nur noch eines grundlosen Räsonnements gedenken, das über diesen Gegenstand sehr gewöhnlich ist. Spiritualistische Ansichten finden die Begründung des Gedächtnisses durch eine unendliche Fortdauer aller Eindrücke in den Nervenelementen unmöglich, weil sie befürchten, dass diese unzähligen Erregungen einander stören, oder bis zur Unkenntlichkeit sich vermischen würden. Allein Millionen Bewegungen, die mit verschiedenen Richtungen und Geschwindigkeiten denselben Punkt treffen, können wohl momentan sich an ihm zu einer einfachen Resultante mischen, oder sich gar in ein Gleichgewicht der Ruhe setzen, in welchem sie völlig verschwunden scheinen; sobald jedoch einer von diesen Einflüssen aufhörte, würde sofort die früher durch ihn balancierte Bewegung wieder zum Vorschein kommen, und sich als eine völlig unverlorene erweisen. In der Atmosphäre durchkreuzen sich die Schwingungen vieler Lichtquellen und die unzähligen zurückgeworfenen Strahlen, die Schallwellen, die von zahllosen Körpern ausgehen, nebst den Bewegungen, welche die Luft durch mancherlei Tätigkeit lebendiger Wesen erhält, und doch entsteht im Allgemeinen keine trübe Verwirrung. Ebenso würde die größte Mannigfaltigkeit der Erregungen kein absolutes Hindernis für ihre ungestörte Koexistenz im Nervenmark sein. Allerdings entstehen in der äußern Natur aus jener Durchkreuzung auch Mischungen der Bewegungen, Interferenzen und Brechungen aller Art; aber gleiche Umwandlungen erfährt ja in der Tat auch die Summe unserer Sinneseindrücke; manches verschmilzt im Gedächtnis, setzt sich zusammen oder geht neue Verbindungen ein, die ihm ursprünglich fremd waren. Die Annahmen des Materialismus sind daher in diesem Punkte nicht an sich unmöglich, im Gegenteil kann man einen Augenblick bedauern, ihnen nicht anhängen zu können, da sie eine erwünschte Gelegenheit eröffnen, produktiv zu sein, und mit Worten und Bildern eine weit ausgesponnene Theorie zu bereiten, umgekehrt freilich darf natürlich auch der Materialismus nicht der entgegengesetzten Annahme einwerfen, dass die unendliche Fortdauer unzähliger Eindrücke in der Seele die Einheit derselben gefährde. Denn auch nach der vorigen Annahme muß jeder eine und unteilbare Punkt der materiellen Nervenmasse unzähligen Prozessen zugleich unterliegen; dasselbe zu leisten kann daher der Einheit der Seele nicht schwerer fallen. Außerdem aber würde die fortdauernde Koexistenz der Erregungen im Nervenmark der Seele nicht einmal diese Leistung ersparen, denn was dort als eine Summe gleichzeitiger physischer Erregungen vorhanden ist, das müßte sie doch nun noch einmal als eine Summe gleichzeitiger psychischer Zustände in sich nacherzeugen. Die Entscheidung dieser Frage ist deshalb spezielleren Betrachtungen vorzubehalten.