DRITTE ABTEILUNG.

DIE
VERWANDTSCHAFT DER KLÄNGE.

TONLEITERN UND TONALITÄT.

Dreizehnter Abschnitt.

Übersicht der verschiedenen Prinzipien des musikalischen Stils in der Entwickelung der Musik.
Bis hierher ist unsere Untersuchung rein naturwissenschaftlicher Art gewesen. Wir haben die Gehörempfindungen analysiert, wir haben die physikalischen und physiologischen Gründe der gefundenen Erscheinungen, der Obertöne, Kombinationstöne, Schwebungen aufgesucht. In diesem ganzen Gebiete hatten wir es nur "mit Naturerscheinungen zu tun, die rein mechanisch und ohne Willkür bei allen lebenden Wesen ebenso eintreten müssen, deren Ohr nach einem ähnlichen anatomischen Plane konstruiert ist, wie das unsere. In einem solchen Gebiete, wo mechanische Notwendigkeit herrscht und alle Willkür ausgeschlossen ist, kann man auch von der Wissenschaft verlangen, daß sie feste Gesetze der Erscheinungen aufstelle, und einen strengen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung streng nachweise. Wie in den Erscheinungen, welche die Theorie umfaßt, nichts Willkürliches ist, so darf auch in den Gesetzen, unter welche diese Erscheinungen gefaßt werden, in den Erklärungen, die wir ihnen unterlegen, schließlich nichts Willkürliches bleiben. Und so lange so etwas noch darin wäre, hätte die Wissenschaft die Aufgabe (wie meistens auch die Mittel), durch fortgesetzte Untersuchungen es auszuschließen.

Indem wir uns in dieser dritten Abteilung unserer Untersuchungen hauptsächlich der Musik zuwenden, und zur Begründung der elementaren Regeln der musikalischen Komposition übergehen wollen, betreten wir einen andern Boden, der nicht mehr rein naturwissenschaftlich ist, wenn auch die von uns gewonnene Einsicht in das Wesen des Hörens hier noch mannigfache Anwendung finden wird. Wir schreiten hier zu einer Aufgabe, die ihrem Wesen nach in das Gebiet der Ästhetik gehört. Wenn wir bisher in der Lehre von den Konsonanzen von Angenehm und Unangenehm gesprochen haben, so handelte es sich nur um den unmittelbaren sinnlichen Eindruck des isolierten Zusammenklanges auf das Ohr, ohne alle Rück- sicht auf künstlerische Gegensätze und Ausdrucksmittel, also nur um sinnliches Wohlgefallen, nicht um ästhetische Schönheit. Beide sind streng zu trennen, wenn auch das erstere ein wichtiges Mittel ist, um die Zwecke der letzteren zu erreichen.

Die geänderte Natur der fortan zu behandelnden Gegenstände verrät sich schon durch ein ganz äußerliches Kennzeichen, nämlich dadurch, daß wir fast bei jedem einzelnen derselben auf historische und nationale Geschmacksverschiedenheiten stoßen. Ob ein Zusammenklang mehr oder weniger rauh ist als ein anderer, hängt nur von der anatomischen Struktur des Ohres, nicht von psychologischen Motiven ab. Wie viel Rauhigkeit aber der Hörer als Mittel musikalischen Ausdrucks zu ertragen geneigt ist, hängt von Geschmack und Gewöhnung ab; daher die Grenze zwischen Konsonanzen und Dissonanzen sich vielfältig geändert hat. Ebenso sind die Tonleitern, Tonarten und deren Modulationen mannigfachem Wechsel unterworfen gewesen, nicht bloß bei ungebildeten und rohen Völkern, sondern selbst in denjenigen Perioden der Weltgeschichte und bei denjenigen Nationen, wo die höchsten Blüten menschlicher Bildung zum Aufbruch kamen.

Daraus folgt der Satz, der unseren musikalischen Theoretikern und Historikern noch immer nicht genügend gegenwärtig ist, daß das System der Tonleitern, der Tonarten und deren Harmoniegewebe nicht bloß auf unveränderlichen Naturgesetzen beruht, sondern daß es zum Teil auch die Konsequenz ästhetischer Prinzipien ist, die mit fortschreitender Entwickelung der Menschheit einem Wechsel unterworfen gewesen sind und ferner noch sein werden.

Daraus folgt nun noch nicht, daß die Wahl der genannten Elemente musikalischer Technik rein willkürlich sei, und sie keine Ableitung aus einem allgemeineren Gesetze zuließen. Im Gegenteil, die Regeln eines jeden Kunststils bilden ein wohl zusammenhängendes System, wenn derselbe überhaupt zu einer reichen und vollendeten Entwickelung gekommen ist. Ein solches System von Kunstregeln wird zwar von den Künstlern nicht aus bewußter Absicht und Konsequenz entwickelt, sondern mehr durch herumtastende Versuche und durch das Spiel der Phantasie, indem sie ihre Kunstgebilde bald so, bald anders sich ausdenken oder ausführen, und durch den Versuch allmählich ermitteln, welche Art und Weise ihnen am besten gefalle. Aber die Wissenschaft kann die Motive doch zu ermitteln suchen, seien sie nun psychologischer oder technischer Art, die bei diesem Verfahren der Künstler wirksam gewesen sind. Der wissenschaftlichen Ästhetik werden hierbei die psychologischen Motive zur Untersuchung zufallen, der Naturwissenschaft die technischen. Wenn der Zweck richtig festgestellt ist, dem die Künstler einer gewissen Stilart nachstreben, und die Hauptrichtung des Weges, den sie dazu eingeschlagen haben, so läßt sich übrigens mehr oder weniger bestimmt nachweisen, warum sie gezwungen waren diese oder jene Regel zu befolgen, dieses oder jenes technische Mittel zu ergreifen. In der Musiklehre namentlich, wo eigentümliche physiologische Tätigkeiten des Ohres, die nicht unmittelbar vor der bewußten Selbstbeobachtung offen darliegen, eine große Rolle spielen, bleibt der wissenschaftlichen Erörterung ein breites und reiches Feld offen, um die Notwendigkeit der technischen Regeln für eine jede einzelne Richtung in der Entwickelung unserer Kunst zu erweisen.

Die Charakterisierung freilich der Hauptaufgabe, welche jede Kunstschule verfolgt, und des Grundprinzips ihres Kunststils kann nicht Aufgabe der Naturwissenschaft sein, sondern diese muß ihr aus den Resultaten der historischen und ästhetischen Forschungen gegeben werden.

Der Vergleich mit der Baukunst, welche ebenso wie die Musik wesentlich von einander verschiedene Richtungen eingeschlagen hat, wird das Verhältnis deutlicher zu machen geeignet sein. Die Griechen ahmten in ihren steinernen Tempeln die ursprünglichen Holzbauten nach; das war das Grundprinzip ihres Baustils. Man erkennt noch deutlich in der ganzen Gliederung und in der Anordnung der Verzierungen diese Nachahmung der Holzkonstruktion. Die senkrechte Stellung der tragenden Säulen, die meist horizontale des getragenen Gebälks zwangen, auch alle untergeordneten Teile überwiegend nach horizontalen und vertikalen Linien zu gliedern. Für die Zwecke des griechischen Gottesdienstes, dessen Hauptakte unter freiem Himmel geschahen, genügten solche Bauten, deren innere Räumlichkeit natürlich durch die Länge der verwendbaren steinernen oder hölzernen Balken eng begrenzt war. Die alten Italiener (Etrusker) dagegen erfanden das Prinzip des ans keilförmigen Steinen zusammengesetzten Gewölbes. Durch diese technische Erfindung wurde es möglich, viel weitläufigere Gebäude mit gewölbten Decken zu überdachen, als die Griechen es mit ihren horizontalen Balken tun konnten. Unter diesen gewölbten Gebäuden sind bekanntlich die Gerichtshallen (Basiliken) für die spätere Entwickelung der Baukunst bedeutend geworden. Mit der gewölbten Decke tritt nun der Rundbogen in der romanischen (byzantinischen) Kunst als Hauptmotiv der Gliederung und Verzierung auf. Die Säulen verwandelten sich der schwereren Last entsprechend in Pfeiler, denen sich nach voller Entwickelung dieses Stils Säulen nur noch in sehr verjüngten Dimensionen und halb in die Maße des Pfeilers eingesenkt, als eine verzierende Gliederung desselben, und als untere Fortsetzung der Gewölberippen, die vom oberen Ende des Pfeilers nach der Decke ausstrahlten, anschlössen.

In dem Gewölbe drängen die keilförmig gehauenen Steine gegeneinander; weil sie aber alle gleichmäßig nach innen drängen, verhindert jeder den anderen wirklich zu fallen. Den stärksten und gefährlichsten Druck üben die Steine in dem horizontalen Teile des Gewölbes, die gar keine, auch keine schief gestellte Unterlage mehr haben, sondern nur noch durch ihre Keilform und die größere Dicke ihres oberen Endes am Fallen gehindert werden. Bei sehr großen Gewölben ist also der horizontal liegende mittlere Teil der gefährlichste, der bei der kleinsten Nachgiebigkeit der Nachbarsteine zusammenstürzt. Als nun die mittelalterlichen Kirchenbauten immer größere Dimensionen annahmen, verfiel man darauf, den mittleren horizontal liegenden Teil des Gewölbes ganz wegzulassen, und die Seiten unter mäßigerer Steigung aufwärts laufen zu lassen, bis sie oben im Spitzbogen zusammenstießen. Nun wurde dem entsprechend der Spitzbogen das herrschende Prinzip. Das Gebäude gliederte sich äußerlich durch die hervortretenden Strebepfeiler. Diese, wie der überall hindurchbrechende Spitzbogen, gaben harte Formen, die Kirchen wurden im Innern enorm hoch. Beides aber entsprach dem kräftigen Sinne der nordischen Völker, und vielleicht erhöhte sogar die Härte der Formen den Eindruck des Gewaltigen und Mächtigen, weil sie vollständig beherrscht sind von der wunderbaren Konsequenz, die sich durch die bunte Formenpracht der gotischen Dome hinzieht.

So sehen wir hier, wie die an die wachsenden Aufgaben sich anschließenden technischen Erfindungen nach einander drei ganz verschiedene Stilprinzipien, nämlich das der geraden Horizontallinie, des Rundbogens und des Spitzbogens, erzeugten, und wie mit jeder neuen Änderung in dem Hauptplane der Konstruktion des Gebäudes auch alle untergeordneten Einzelheiten bis in die kleinsten Verzierungen hinein sich ändern; daher sind auch die einzelnen technischen Konstruktionsregeln nur aus dem Konstruktionsprinzipe des Ganzen zu begreifen. Obgleich der gotische Stil die reichsten und in sich konsequentesten, die mächtigsten und ergreifendsten Architekturformen entwickelt hat, ungefähr wie unser modernes Musiksystem unter den übrigen, so wird es doch nicht leicht Jemandem einfallen behaupten zu wollen, der Spitzbogen sei die natürlich gegebene Urform aller architektonischen Schönheit, und müsse überall eingeführt werden. Und gegenwärtig weiß man sehr wohl, daß es eine künstlerische Absurdität ist, einem Gebäude in griechischer Tempelform gotische Fenster einzusetzen, sowie sich auch umgekehrt leider Jedermann in unseren meisten gotischen Domen davon überzeugen kann, wie abscheulich die vielen kleinen, in griechischem oder römischem Stile ausgeführten Kapellen aus der Renaissancezeit zum Ganzen passen. Ebenso wenig, wie den gotischen Spitzbogen, müssen wir unsere Durtonleiter als Naturprodukt betrachten, wenigstens nicht in anderem Sinne, als daß beide die notwendige und durch die Natur der Sache bedingte Folge des gewählten Stilprinzips sind. Und ebenso wenig, wie wir in einen griechischen Tempel gotische Verzierungen setzen, müssen wir die in Kirchentonarten geschriebenen Kompositionen dadurch verbessern wollen, daß wir ihre Töne nach dem Schema unserer Dur- und Mollharmonie mit Versetzungszeichen versehen. Bisher hat freilich dieser Sinn für historische Kunstauffassung bei unseren Musikern und selbst bei den musikalischen Historikern noch wenig Fortschritte gemacht. Sie beurteilen alte Musik meist nach den Vorschriften der modernen Harmonielehre und sind geneigt, jede Abweichung von der letzteren für bloßes Ungeschick der Alten zu halten, oder für barbarische Geschmacklosigkeit11).

11) Namentlich in den an fleißig gesammelten Tatsachen sonst so reichen historisch musikalischen Schriften von R. G. Kiesewetter herrscht ein offenbar übertriebener Eifer, alles zu leugnen, was nicht in das Schema der Dur- und Molltonart paßt.
 
 

Ehe wir also an die Konstruktion der Tonleitern und der Regeln für das Harmoniegewebe gehen können, müssen wir die Stilprinzipien wenigstens der Hauptentwickelungsphasen der musikalischen Kunst zu bezeichnen suchen. Wir können sie für unsere Zwecke nach drei Hauptperioden unterscheiden.

1. Die homophone (einstimmige) Musik des Altertums, an welche sich auch die jetzt bestehende Musik der orientalischen und asiatischen Völker anschließt.

2. Die polyphone Musik des Mittelalters, vielstimmig, aber noch ohne Rücksicht auf die selbständige musikalische Bedeutung der Zusammenklänge, vom 10. bis in das 17. Jahrhundert reichend, wo sie dann übergeht in

3. die harmonische oder moderne Musik, charakterisiert durch die selbständige Bedeutung, welche die Harmonie als solche gewinnt. Ihre Ursprünge fallen in das 16. Jahrhundert.

l. Die homophone Musik.

Die einstimmige Musik ist bei allen Völkern die ursprüngliche gewesen. Wir finden sie noch bei den Chinesen, Indern, Arabern, Türken und Neugriechen in diesem Zustande, trotzdem diese Völker zum Teil sehr ausgebildete Musiksysteme besitzen. Daß die Musik der hellenischen Blütezeit, abgesehen vielleicht von einzelnen Instrumentalverzierungen, Kadenzen und Zwischenspielen, durchaus einstimmig gewesen ist, oder die Stimmen mit einander höchstens in der Oktave gingen, kann jetzt wohl als festgestellt gelten. In den Problemen des Aristoteles12) wird gefragt: "Weshalb wird die Konsonanz der Oktave allein gesungen? Diese spielen sie auf der Magadis (einem harfenähnlichen Instrumente), aber keine von den anderen Konsonanzen." An einer anderen Stelle bemerkt er, daß die Stimmen von Knaben und Männern, die in Wechselgesängen zusammenwirken, das Intervall einer Oktave zwischen sich lassen.
 
 

12) Probl. XIX, 18 und 39. Gegen das Ende der Gesänge seheint zuweilen die Instrumentalbegleitung sich von der Stimme getrennt zu haben. Man scheint dies unter dem Namen der Krusis

verstehen zu müssen. Siehe Arist. Probl. XIX, 39 und Plutarch de Musica XIX, XXVIII. Daß sie übrigens die Wirkung der Konsonanzen kannten, aber nicht liebten, zeigt die Stelle Aristoteles de Audibilibus. Ed. Bekker S. 801: "Deshalb verstehen wir auch besser, wenn wir nur einen hören, als wenn viele dasselbe sagen. Ebenso auf den Saiten. Und noch viel schlimmer ist es, wenn gleichzeitig die Kithara gespielt und dazu die Flöte geblasen wird, weil die Stimmen dann mit den anderen zusammenfließen. Besonders ist dies bei den Konsonanzen deutlich. Beide Töne verbergen sich nämlich unter einander.
 
 

Einstimmige Musik, allein und für sich genommen ohne Begleitung der Poesie, ist zu arm an Formen und Veränderungen, als daß sich darin größere und reichere Kunstformen entwickeln könnten. Daher ist die reine Instrumentalmusik in diesem Stadium notwendig beschränkt auf kurze Tanzstückchen oder Märsche; mehr findet sich in der Tat nicht vor bei den Völkern, welche keine harmonische Musik haben. Zwar haben Flötenvirtuosen13) in den pythischen Spielen wiederholt den Sieg davongetragen, aber Virtuosenkünste lassen sich auch in knappen Kompositionsformen, z. B. in Variationen einer kurzen Melodie, ausführen. Daß übrigens das Prinzip der Variationen (meiabolh ) einer Melodie mit Berücksichtigung des dramatischen Ausdrucks (meiabolh) den Griechen bekannt war, geht ebenfalls aus Aristoteles (Problem 15) hervor. Er beschreibt die Sache sehr deutlich und bemerkt, daß man die Chöre müsse die Melodien in den Antistrophen einfach wiederholen lassen, weil viele Variationen anzubringen einem leichter sei, als vielen. Die Wettkämpfer aber und die Schauspieler könnten dergleichen ausführen.

13) Vielleicht waren die Variationen unseren Oboen ähnlicher.
 
 
Umfangreichere Kunstwerke kann homophone Musik nur als Gesang in Verbindung mit der Poesie bilden, und in dieser Weise ist die Musik auch im klassischen Altertum angewendet worden. Nicht nur Lieder (Oden) und religiöse Hymnen wurden gesungen, sondern selbst Tragödien und große epische Gesänge wurden in einer gewissen Weise musikalisch vorgetragen und mit der Lyra begleitet. Wir können uns jetzt schwer eine Vorstellung davon machen, wie das geschah, da wir nach unserer modernen Geschmacksrichtung gerade im Gegenteil von einem guten Deklamator oder Vorleser dramatische Naturwahrheit im Sprechton verlangen, und singenden Ton als einen der größten Fehler betrachten. In dem singenden Tone der italienischen Deklamatoren, in den liturgischen Rezitationen der römisch-katholischen Priester mögen wir Nachklänge des antiken Sprechgesanges haben. Übrigens lehrt eine etwas aufmerksamere Beobachtung bald, daß auch im gewöhnlichen Sprechen, wo der singende Ton der Stimme hinter den Geräuschen, welche die einzelnen Buchstaben charakterisieren, mehr versteckt wird, wo ferner die Tonhöhe nicht genau festgehalten wird und schleifende Übergänge in der Tonhöhe häufig eintreten, sich dennoch gewisse, nach regelmäßigen musikalischen Intervallen gebildete Tonfälle unwillkürlich einfinden. Wenn einfache Sätze gesprochen werden ohne Affekt des Gefühls, so wird meist eine gewisse mittlere Tonhöhe festgehalten, und nur die betonten Worte und die Enden der Sätze und Satzabschnitte werden durch einen Wechsel der Tonhöhe hervorgehoben. Das Ende eines bejahenden Satzes vor einem Punkte pflegt dadurch bezeichnet zu werden, daß man von der mittleren Tonhöhe um eine Quarte fällt. Der fragende Schluß steigt empor, oft um eine Quinte über den Mittelton. Zum Beispiel eine Baßstimme spricht:

Akzentuierte Worte werden ebenfalls dadurch hervorgehoben, daß man sie etwa einen Ton höher legt als die übrigen, und so fort. Beim feierlichen Deklamieren werden die Tonfälle mannigfacher und komplizierter. Das moderne Rezitativ ist durch Nachahmung dieser Tonfälle in gesungenen Noten entstanden. Darüber spricht sich sein Erfinder Jacob Peri in der Vorrede zu seiner 1600 herausgegebenen Oper Eurydice ganz deutlich aus. Man suchte damals durch das Rezitativ die Deklamation der antiken Tragödien wieder herzustellen. Nun ist allerdings die antike Rezitation von unserem modernen Rezitative dadurch einigermaßen verschieden gewesen, daß jene das Metrum der Gedichte genauer festhielt und ihr die begleitenden Harmonien des letzteren fehlten. Indessen können wir doch aus unserem Rezitative, wenn es gut vorgetragen wird, einen besseren Begriff davon erhalten, wie sehr durch eine solche musikalische Rezitation der Ausdruck der Worte gesteigert werden kann, als durch die monotone Rezitation der römischen Liturgie, obgleich die letztere der Art nach vielleicht der antiken Rezitation ähnlicher ist, als das Opernrezitativ. Die Feststellung der römischen Liturgie durch Papst Gregor den Großen (590 bis 604) reicht zurück in eine Zeit, wo Reminiszenzen der alten Kunst, wenn auch verblaßt und entstellt, durch Tradition noch überliefert sein konnten, namentlich wenn, wie man wohl als wahrscheinlich annehmen darf, Gregorius im Wesentlichen nur die Normen für die schon seit der Zeit des Papstes Sylvester (314 bis 335) bestehenden römischen Singschulen endgültig festgestellt hat. Die meisten dieser Formeln für die Lektionen, Kollekten u. s. w. ahmen deutlich den Tonfall des gewöhnlichen Sprechens nach. Sie gehen in gleicher Tonhöhe fort, einzelne akzentuierte oder nicht lateinische Worte werden in der Tonhöhe etwas verändert, für jede Interpunktion sind besondere Schlußformeln vorgeschrieben, z. B. für die Lektionen nach Münsterschem Gebrauche14):

14) Antony, Lehrbuch des Gregorianischen Kirchengesanges. Münster 1829. Nach den von Fétis in seiner Histoire générale de Musique, Paris 1869, Thl. I, Cap. VI zusammengestellten Nachrichten ist es übrigens zweifelhaft geworden, ob dieses System der Deklamation mit vorgeschriebenen Kadenzen nicht vielmehr aus dem jüdischen Ritualgesange herzuleiten ist. Schon in den ältesten Handschriften des alten Testaments finden sich 25 verschiedene Zeichen für solche Kadenzen und melodische Phrasen angewendet. Ja der Umstand, daß die entsprechenden Zeichen der griechischen Kirche ägyptische Schriftzeichen des Demotischen Alphabets sind, deutet auf einen viel älteren ägyptischen Ursprung dieser Notation hin.

Nach der Feierlichkeit des Festes, dem vorgetragenen Gegenstande, dem Range des vortragenden oder darauf antwortenden Priesters sind diese und ähnliche Schlußformeln bald mehr, bald weniger verziert. Man erkennt leicht in ihnen das Streben, die natürlichen Tonfälle der gewöhnlichen Sprache nachzuahmen, aber so, daß sie von ihren individuellen Unregelmäßigkeiten befreit, feierlicher klingen. Freilich wird in solchen feststehenden Formeln auf den grammatischen Sinn der Sätze nicht geachtet, der denn doch die Betonung sehr mannigfaltig abändert. In ähnlicher Weise kann man sich denken, daß die antiken Tragödiendichter ihren Schauspielern die Tonfälle vorschrieben, in denen gesprochen werden sollte, und sie durch musikalische Begleitung darin erhielten. Und da sich die antike Tragödie von unmittelbarer äußerlicher Natur-Wahrheit viel mehr entfernt hielt als das moderne Schauspiel, wie die künstlichen Rhythmen, die ungewöhnlichen volltönenden Worte, die steifen fremdartigen Masken zeigen, so konnte auch ein mehr singender Ton zur Deklamation passen, als er unserem modern gewöhnten Ohre vielleicht gefallen würde. Dann müssen wir bedenken, daß durch Akzentuierung (Vermehrung der Tonstärke) einzelner Worte, durch die Schnelligkeit oder Langsamkeit des Sprechens, durch Pantomimik sich noch viel Leben in eine solche Vortragsweise bringen läßt, die freilich unerträglich monoton wird, wenn der Vortragende sie nicht auf solche Weise zu beleben weiß.

Jedenfalls aber hat die homophone Musik, auch wo sie in alter Zeit ausgedehnte Dichtungen größter Art zu begleiten hatte, immer notwendig eine ganz unselbständige Rolle gespielt. Die musikalischen Wendungen mußten eben durchaus von dem wechselnden Sinn der Worte abhängen, und konnten ohne diesen keinen selbständigen Kunstwert und Zusammenhang haben. Eine eigentliche durchgehende Melodie zum Absingen von Hexametern in den Epen oder von jambischen Trimetern in den Tragödien wäre unerträglich gewesen. Freier dagegen und selbständiger sind wohl diejenigen Melodien (Nomen) gewesen, welche man den Oden und tragischen Chören unterlegte. Für die Oden gab es auch bekannte Melodien, deren Benennungen zum Teil noch aufbewahrt sind, auf welche man immer wieder neue Gedichte machte.

In den großen ausgeführten Kunstwerken also mußte die Musik ganz unselbständig sein, selbständig konnte sie nur kurze Sätze bilden. Damit hängt nun ganz wesentlich die Ausbildung des musikalischen Systems der homophonen Musik zusammen. Wir finden allgemein bei den Nationen, welche dergleichen Musik besitzen, gewisse Stufenleitern der Tonhöhe festgesetzt, in denen sich die Melodien bewegen. Diese Tonleitern sind sehr mannigfacher, zum Teil, wie es aussieht, sehr willkürlicher Art, so daß viele uns ganz fremdartig und unbegreiflich erscheinen, während sie doch von den begabteren unter den Nationen, denen sie angehören, von den Griechen, Arabern und Indern außerordentlich subtil und mannigfaltig ausgebildet worden sind.

Bei der Besprechung dieser Tonsysteme ist nun für unseren vorliegenden Zweck die Frage von wesentlicher Wichtigkeit, ob in ihnen eine bestimmte Beziehung aller Töne der Leiter auf einen einzigen Haupt- und Grundton, die Tonica, zu Grunde gelegen hat. Die neuere Musik bringt einen rein musikalischen inneren Zusammenhang in alle Töne eines Tonsatzes dadurch, daß alle in ein dem Ohre möglichst deutlich wahrnehmbares Verwandtschaftsverhältnis zu einer Tonica gesetzt werden. Wir können die Herrschaft der Tonica als des bindenden Mittelgliedes für sämtliche Töne des Satzes mit Fétis als das Prinzip der Tonalität bezeichnen. Dieser gelehrte Musiker hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß in den Melodien verschiedener Nationen die Tonalität in sehr verschiedenem Grade und verschiedener Weise entwickelt sei. Sie ist namentlich in den Liedern der Neugriechen, in den Gesangsformeln der griechischen Kirche und in dem Gregorianischen Gesange der römischen Kirche nicht in der Art entwickelt, daß diese Melodien leicht zu harmonieren wären, wahrend Fétis15) im Ganzen fand, daß die alten Melodien der nordischen Völker germanischen, keltischen und slawischen Ursprungs sich leicht mit harmonischer Begleitung versehen lassen.

15) Fétis' Biographie universelle des musiciens T. I, p. 126.

In der Tat ist es auffallend, daß in den musikalischen Schriften der Griechen, welche Subtilitäten oft in recht weitläufigerweise behandeln und über alle möglichen anderen Eigentümlichkeiten der Tonleitern den genauesten Aufschluß geben, nichts deutlich gesagt ist über eine Beziehung, welche in dem modernen System allen anderen vorgeht, und sich überall auf das Deutlichste fühlbar macht. Die einzigen Hindeutungen auf die Existenz einer Tonica finden wir nicht bei den musikalischen Schriftstellern, sondern wieder bei Aristoteles16). Dieser fragt nämlich:

“Wenn Jemand von uns den Mittelton (????) verändert, nachdem er die anderen Saiten gestimmt hat, und das Instrument gebraucht, warum klingt alles übel und scheint schlecht gestimmt, nicht nur wenn er an den Mittelton kommt, sondern auch durch die ganze andere Melodie? Wenn er aber den Lichanos oder irgend einen anderen Ton verändert hat, so tritt ein Unterschied nur hervor, wenn man gerade diesen gebraucht. Geschieht dies nicht mit gutem Grunde? Denn alle guten Melodien gebrauchen oft den Mittelton, und alle guten Komponisten kommen oft zum Mittelton hin, und wenn sie von ihm fortgehen, kehren sie bald wieder zurück, zu keinem anderen aber in gleicher Weise." Dann vergleicht er den Mittelton noch mit den Bindewörtern der Sprache, namentlich denen, welche "und" bedeuten und ohne die die Sprache nicht bestehen könne. "So auch ist der Mittelton wie ein Band der Töne, und namentlich der schönen, weil sein Ton am meisten vorhanden ist." An einer anderen Stelle finden wir dieselbe Frage wieder mit etwas geänderter Antwort: "Warum, wenn der Mittelton verändert wird, klingen auch die anderen Saiten wie verdorben? Wenn aber jener bleibt, und von den anderen eine verändert wird, so wird die veränderte allein verdorben. Ist dies so, weil sowohl das Gestimmtwerden allen zukommt, als auch allen ein gewisses Verhalten zum Mittelton, und durch diesen schon die Ordnung einer jeden gegeben ist? Wenn aber der Grund der Stimmung und das Zusammenhaltende weggenommen wird, so scheint Ordnung nicht mehr in gleicher Weise vorhanden zu sein." In diesen Sätzen ist die ästhetische Bedeutung einer Tonica, als welche hier der Mittelton genannt wird, so gut beschrieben, wie es nur irgend geschehen kann. Dazu kommt noch, daß von den Pythagoräern der Mittelton mit der Sonne, die anderen Töne der Leiter mit den Planeten verglichen werden17). Man scheint auch der Regel nach mit dem genannten Mitteltone den Gesang begonnen zu haben, denn im 33sten Probleme des Aristoteles heißt es: "Warum ist es harmonischer, von der Höhe nach der Tiefe, als von der Tiefe zur Höhe zu gehen? Vielleicht weil jenes ist vom Anfange angefangen? Denn der Mittelton ist auch der höchst gelegene Führer des Tetrachordes (nämlich des unteren). Das andere aber hieße nicht vom Anfange, sondern vom Ende anfangen. Oder ist vielleicht das Tiefe nach dem Hohen edler und wohlklingender?" Daraus scheint aber auch hervorzugehen, daß man mit dem Mitteltone, mit welchem man anfing, nicht zu schließen pflegte, sondern mit dem tiefsten Tone, der Hypate, von welcher letzteren wieder Aristoteles im vierten Probleme sagt, daß diese im Gegensatz zu der dicht darüber liegenden Parhypate mit vollem Nachlaß jeder Anspannung gesungen werde, welche bei der anderen noch vorhanden sei. Diese Worte des Aristoteles werden wir jedenfalls auf die nationale dorische Skala der Hellenen anwenden dürfen, welche, von Pythagoras auf acht Töne erweitert, folgende war:
 

 
 
 

Tiefes Tetrachord

E Hypate
F Parhypate
G Lichanos
A Mese (Mittelton).

Höheres Tetrachord



 

H Paramese
C Trite
D Paranete
E Nete.

16) Problemata 20 und 36. Im Anfang des letzteren ist nach einer Konjektur meines Kollegen Stark statt  und was keinen vernünftigen Sinn gibt, zu setzen  und  — Die erste Stelle ist auch von Ambrosch schon teilweise zitiert.

17) Nicomachus Harmonice Lib. I, p. 6. Edit. Meibomii.
 
 
Nach moderner Ausdrucksweise liegt in der zuletzt zitierten Beschreibung des Aristoteles, daß die Parhypate eine Art absteigenden Leitton für die Hypate bildet. In dem Leitton ist die Anstrengung fühlbar, welche mit seinem Übergange in den Grundton aufhört.

Wenn nun der Mittelton der Tonica entspricht, so ist die Hypate deren Quinte, die Dominante. Für unser Gefühl ist es aber viel notwendiger mit der Tonica zu schließen, als mit ihr anzufangen, und wir erklären deshalb gewöhnlich ohne Weiteres den Schlußton eines Satzes für dessen Tonica. Doch läßt die moderne Musik der Regel nach die Tonica auch in dem ersten akzentuierten Taktteile des Anfangs hören. Die ganze Tonmasse entwickelt sich aus der Tonica heraus und kehrt wieder in sie zurück. Eine volle Beruhigung im Schlusse ist nicht möglich, als indem die Tonreihe in das verbindende Zentrum des ganzen Satzes ausläuft.

In dieser Beziehung also scheint die ältere griechische Musik von der unserigen abgewichen zu sein, indem sie auf der Dominante endigte, nicht auf der Tonica. Übrigens steht dies in vollkommener Analogie mit der Betonung beim Sprechen. Wir haben gesehen, daß das Ende der bejahenden Sätze ebenfalls auf der nächst tieferen Quinte des Haupttones gebildet wird. Dieselbe Eigentümlichkeit ist auch in dem modernen Rezitative meist beibehalten, in welchem die Gesangstimme auf der Dominante zu enden pflegt, wo sie von den Instrumenten mit dem Dominantseptimenakkorde aufgenommen wird, dem der Akkord der Tonica folgt, um den für unser musikalisches Gefühl nötigen Schluß in der Tonica zu bilden. Da nun die griechische Musik sich an der Rezitation von epischen Hexametern und jambischen Trimetern herangebildet hat, wird es uns nicht überraschen dürfen, wenn auch in den Melodien für Oden die erwähnten Eigentümlichkeiten des Sprechgesanges so herrschend blieben, daß Aristoteles sie als Regel betrachten konnte18).

18) Unter den angeblich antiken Melodien, welche uns überliefert sind, zeigt das von B. Marcello veröffentlichte Bruchstück aus der homerischen Ode an die Demeter die besprochene Eigentümlichkeit sehr deutlich.

Aus den angeführten Tatsachen geht hervor, worauf es für unseren Zweck besonders ankommt, daß den Griechen, bei denen sich unsere diatonische Leiter zuerst ausgebildet hat, das Gefühl für Tonalität in ästhetischer Beziehung nicht fehlte, daß es aber doch nicht so entschieden ausgebildet war, wie in der neueren Musik, und namentlich, wie es scheint, sich in den technischen Regeln der Melodiebildung durchaus nicht deutlich geltend machte. Daher ist eben Aristoteles, der die Musik als Ästhetiker behandelt, der einzige Schriftsteller, so weit bisher bekannt ist, der davon spricht; die eigentlich musikalischen Schriftsteller erwähnen es gar nicht. Leider sind auch die Andeutungen des Aristoteles so sparsam, daß Zweifel genug übrig bleiben. Namentlich erwähnt er nichts über die Verschiedenheiten der verschiedenen Tongeschlechter in Bezug auf den Hauptton, so daß gerade der wichtigste Gesichtspunkt, aus dem wir den Bau der griechischen Tonleitern zu betrachten hätten, fast ganz im Dunkel bleibt.

Bestimmter findet sich die Beziehung auf eine Tonica ausgesprochen in den Tonleitern der altchristlichen Kirchenmusik. Man unterschied ursprünglich die vier sogenannten authentischen Tonleitern, wie sie vom Bischof Ambrosius von Mailand († 398) festgesetzt waren. Keine von diesen stimmt mit einer unserer Tonleitern überein; die später von Gregorius hinzugefügten vier plagalischen Tonreihen sind keine Tonleitern in unserem Sinne des Wortes. Die vier authentischen Tonleitern des Ambrosius sind:

                    1) DEFGAHCD
                    2) EFGAHCDE
                    3) FGAHCDEF
                    4) GAHCDEFG

Doch war die Veränderung des H in B vielleicht von Anfang an erlaubt; dadurch wurde dann die erste Tonleiter unserer absteigenden Molltonleiter gleich, die dritte eine F-Durtonleiter. Die alte Regel war, daß die Gesänge der ersten Leiter in D schlossen, die der zweiten in E, der dritten in F, der vierten in G. Dadurch waren also diese Töne in unserem Sinne als Tonica charakterisiert. Aber die Regel wurde nicht strenge gehalten. Man konnte auch in anderen Tönen der Leiter, sogenannten Confinaltönen schließen, und schließlich wurde die Verwirrung so groß, daß Niemand mehr recht zu sagen wußte, woran man die Tonart erkennen solle. Es wurden allerlei unzureichende Regeln aufgestellt, und man griff zu dem mechanischen Hilfsmittel, gewisse Anfangs- und Schlußphrasen, die sogenannten Tropen, festzusetzen, welche die Tonart charakterisieren sollten.

Obgleich man also bei diesen mittelalterlichen Kirchentonarten die Regel der Tonalität schon bemerkt hatte, war die Regel selbst doch so unsicher, und erlaubte so viele Ausnahmen, daß wir auch hier nicht zweifeln können, daß das Gefühl für die Tonalität viel unentwickelter gewesen sei, als in der modernen Musik.

Den Begriff der Tonica haben übrigens auch die Indier gefunden, deren Musik ebenfalls einstimmig ist. Sie nennen sie "Ansa"19). Die indischen Melodien, wie sie von englischen Reisenden nachgeschrieben sind, erscheinen übrigens den modernen europäischen Melodien sehr ähnlich. Dasselbe haben Fétis und Coussemaker20) bemerkt in Bezug auf die wenigen bekannten Reste alt germanischer und keltischer Melodien.

19) Jones, Über die Musik der Indier, übersetzt von Dalberg. S. 36 und 37.

20) Histoire de l'Harmonie au moyen ?ge. Paris 1862, p. 5 bis 7.
 

Wenn also auch die Beziehung auf einen vorherrschenden Ton, die Tonica, der einstimmigen Musik nicht ganz fehlt, so ist sie ohne Frage viel schwächer entwickelt gewesen als in der modernen Musik, wo wenige einander folgende Akkorde hinreichen, um festzustellen, in welcher Tonart die betreffende Stelle des Stücks sich bewegt. Es scheint mir dies seinen Grund zu haben in dem unentwickelten Zustande und in der untergeordneten Rolle, welche der homophonen Musik notwendig zukommen. Melodien, die sich in wenigen leicht übersehbaren Tönen auf und ab bewegen, die ihren Zusammenhang durch ein nicht musikalisches Hilfsmittel, nämlich die Worte der Poesie, schon haben, bedürfen keines konsequent durchgeführten musikalischen Bindemittels. Auch in dem modernen Rezitative wird die Tonalität viel weniger festgehalten, als in anderen Kompositionsformen. Die Notwendigkeit einer festen Bindung der Tonmassen durch rein musikalische Beziehungen drängt sich dem Gefühl erst dann deutlicher auf, wenn große Massen von Tönen, die eine selbständige Bedeutung ohne Hilfe der Poesie haben sollen, künstlerisch zusammen zu schließen sind.

2. Polyphone Musik.

Der zweite Entwickelungsabschnitt der Musik ist die polyphone Musik des Mittelalters. Gewöhnlich wird als die zuerst erfundene vielstimmige Musik das sogenannte Organum oder die Diaphonie angeführt, wie sie der flandrische Mönch Hucbald im Anfange des zehnten Jahrhunderts zuerst beschrieben habe. Dabei sollen zwei Stimmen in Quinten oder Quarten neben einander hergegangen, zuweilen auch Verdoppelungen einer oder beider in der Oktave hinzugefügt seien. Es gibt dies eine für uns unerträgliche Musik. Nach O. Paul21) hat es sich dabei aber nicht um eine gleichzeitige Ausführung beider Stimmen gehandelt, sondern um eine beantwortende Wiederholung einer Melodie in transponierter Lage, und Hucbald wäre somit als der Erfinder dieses später in der Fuge und Sonate so wichtig gewordenen Prinzips anzusehen.

21) Geschichte des Klaviers. Leipzig 1868, S. 49. Die erste unzweifelhafte Form prinzipmäßig mehrstimmiger Musik war der sogenannte Discantus, welcher um das Ende des elften Jahrhunderts in Frankreich und Flandern bekannt wurde. Die ältesten aufbewahrten Beispiele dieses Discantus sind von der Art, daß zwei ganz verschiedene Melodien — und zwar schien man sie gern so verschiedenartig wie möglich zu wählen — aneinander gepaßt wurden durch kleine Veränderungen des Rhythmus oder der Tonhöhen, bis sie ein einigermaßen konsonierendes Ganzes bildeten. Zuerst scheint man namentlich gern eine liturgische Formel mit irgend einem schlüpfrigen Liedchen gepaart zu haben. Die ersten derartigen Beispiele können nicht wohl irgend eine andere Bedeutung gehabt haben, als daß es musikalische Kunststückchen zur gesellschaftlichen Unterhaltung waren. Es war eine neue Entdeckung, an der man sich amüsierte, daß zwei ganz verschiedene unabhängige Melodien neben einander gesungen werden konnten und gut zusammen klangen.

Das Prinzip des Discantus war fruchtbar und von solcher Art, daß jene Zeit es entwickeln konnte; ans ihm ist die eigentlich polyphone Musik hervorgegangen. Verschiedene Stimmen, jede für sich selbständig und eine eigene Melodie tragend, sollten vereinigt werden, so daß sie keine, oder wenigstens nur schnell vorübergehende und sich auflösende Mißklänge bildeten. Die Konsonanz an sich war nicht Zweck, nur ihr Gegenteil, die Dissonanz, sollte vermieden werden. Alles Interesse konzentrierte sich auf die Bewegung der Stimmen. Um die verschiedenen Stimmen zusammenzuhalten, war strenges Einhalten des Taktes nötig, es entwickelte sich deshalb unter dem Einflusse des Discantus in reicher Mannigfaltigkeit das System der musikalischen Rhythmik, welches wiederum dazu beitrug die Melodiebewegung kräftiger und eindringlicher zu machen. Der Gregorianische Cantus firmus kannte keine Takteinteilung, und die Rhythmik der Tanzmusik war wohl äußerst einfach gewesen. Außerdem wuchs der Reichtum und das Interesse der melodischen Bewegung in dem Maße, als sich die Stimmen vervielfältigten. Um aber zwischen den verschiedenen Stimmen einen künstlerischen Zusammenhang herzustellen, welcher anfangs, wie wir sahen, gänzlich fehlte, war noch eine neue Erfindung nötig. Diese tauchte zuerst in kleinen Anfängen auf, erlangte aber schließlich eine die ganze moderne Kompositionskunst beherrschende Wichtigkeit. Sie bestand darin, daß man die musikalische Phrase, welche eine Stimme vorgetragen hatte, durch eine andere wiederholen ließ; es entstanden also kanonische Nachahmungen, wie wir sie vereinzelt schon in Discanten aus dem zwölften Jahrhundert finden22). Diese entwickelten sich allmählich zu einem höchst künstlichen Systeme, namentlich bei den niederländischen Komponisten, die freilich schließlich oft mehr Berechnung als Geschmack in ihren Kompositionen zeigten.

22) Coussemaker l. c. Déchant: Custodi nos. Pl. XXVII, Nro. IV. Übersetzt in p. XXVII, Nro. XXIX.

Aber durch diese Art der polyphonen Musik, die Wiederholung derselben Melodiewendungen hinter einander in verschiedenen Stimmen, war jetzt zuerst die Möglichkeit gegeben, große breit angelegte musikalische Sätze zu komponieren, welche ihren künstlerischen Zusammenhang nicht mehr in der Verbindung mit einer fremden Kunst, der Poesie, sondern in rein musikalischen Mitteln fanden. Es paßte diese Art der Musik auch in hohem Grade für kirchliche Gesänge, in denen der Chor die Empfindungen einer ganzen, aus verschiedenartigen Individuen zusammengesetzten Gemeinde auszudrücken hatte. Aber man wendete sie nicht allein auf kirchliche Kompositionen an, sondern auch auf weltliche Gesänge, Lieder (Madrigale). Man kannte eben noch keine andere Form harmonischer Musik, welche künstlerisch ausgebildet gewesen wäre, als die auf kanonische Wiederholungen gegründete. Verschmähte man diese, so war man auf homophone Musik beschränkt. Daher finden sich denn auch eine Menge Lieder als strenge Kanons oder in kanonischen Wiederholungen komponiert, deren Inhalt ganz und gar nicht für eine so schwerfällige Weise geeignet ist. Auch die ältesten Beispiele mehrstimmiger Instrumentalkompositionen, Tanzstücke aus dem Jahre 152923), sind in dem Stile der Madrigale und Motetten komponiert, einer Kompositionsweise, die sich in freierer Behandlung übrigens bis in die Suiten aus S. Bach's und Händel's Zeit hinüberzieht. Selbst in den ersten Versuchen zu musikalischen Dramen im sechzehnten Jahrhundert hatte man noch keine andere Form, die handelnden Personen ihre Gefühle musikalisch aussprechen zu lassen, als daß man durch einen Chor Madrigale in fugiertem Stile hinter oder auf der Bühne absingen ließ. Man kann sich von unserem Standpunkte aus kaum in den Zustand einer Kunst hineinversetzen, welche die kompliziertesten Stimmgebäude in ihren Chören aufbaut, und dabei nicht im Stande ist, zu einer Liedermelodie oder zu einem Duett eine einfache Begleitung zu setzen, um die Harmonie vollständig zu machen. Und doch wenn man liest, wie die Erfindung des Rezitativs mit einfacher Akkordbegleitung durch Jacob Peri gefeiert und bewundert wurde, welche Streitigkeiten sich über den Ruhm dieser Erfindung erhoben, welches Aufsehen Viadana erregte, indem er zu einstimmigen und zweistimmigen Gesängen einen Basso continuo zu setzen erfand, als eine in sich unselbständige Stimme, die nur der Harmonie dienen sollte24), so kann man nicht zweifeln, daß diese Kunst, eine Melodie durch Akkorde zu begleiten, die jetzt jeder Dilettant in einfachster Weise zu lösen weiß, den Musikern bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts noch vollständig verborgen war. Erst im sechzehnten Jahrhundert fing man an, sich der Bedeutung bewußt zu werden, welche die Akkorde als Teile des Harmoniegewebes unabhängig von der Stimmführung besitzen.
 
 

23) Winterfeld, Johannes Gabrieli und sein Zeitalter. Bd. IT. S. 41.

24) Winterfeld, l. c. Bd. II, S. 19 und S. 59.
 
 

Diesem Zustande der Kunst entsprach der Zustand des Tonsystems. Es wurden im Wesentlichen die alten Kirchentonarten beibehalten, von denen die erste die Tonreihe von D bis d, die zweite von E bis e, die dritte von F bis f, die vierte von G bis g umfaßte. Unter diesen war die von F bis f gehende zur harmonischen Bearbeitung unbrauchbar, weil sie statt der Quarte F—B den Tritonus F—H enthielt. Andererseits war kein Grund vorhanden, die Reihen von C bis c und von G bis g auszuschließen. So veränderten sich die Kirchentonarten unter dem Einfluß der polyphonen Musik. Da man aber trotz der Veränderung die alten unpassenden Namen beibehielt, entstand eine arge Verwirrung in der Auffassung der Tonarten. Erst als das Ende dieser Periode herannahete, unternahm es ein gelehrter Theoretiker, Glareanus in seinem Dodecachordon (Basel 1547), die Lehre von den Tonarten wieder in Ordnung zu bringen. Er unterschied 12 solche, 6 authentische und 6 plagalische, und teilte ihnen griechische Namen zu, die aber unrichtig übertragen waren. Doch ist seine Nomenklatur für die Kirchentonarten später allgemein beibehalten worden. Die authentischen Kirchentöne des Glareanus mit ihren griechischen Namen sind folgende sechs:

Jonisch:         CDEFGAHC
Dorisch:        DEFGAHCD
Phrygisch:     EFGAHCDE
Lydisch:        FGAHCDEF
Mixolydisch: GAHCDEFG
Aeolisch:      AHCDEFGA
Jonisch entspricht unserem Dursystem, Aeolisch unserem Moll; Lydisch ist in polyphoner Musik wegen der falschen Quarte kaum gebraucht worden, und immer nur mit allerlei Veränderungen.

Wie wenig man die musikalische Bedeutung des Harmoniegewebes zu beurteilen wußte, zeigt sich nun in der Lehre von den Tonarten wieder darin, daß bei Beurteilung der Tonart einer polyphonen Komposition immer nur einzelne Stimmen berücksichtigt wurden. Glareanus schreibt in gewissen Kornpositionen den verschiedenen Stimmen, dem Tenor und Basse, dem Sopran und Alt verschiedene Tonarten zu; Zarlino nimmt den Tenor als Hauptstimme, nach welcher die Tonart zu beurteilen sei.

Die praktischen Folgen dieser Nichtbeachtung der Harmonie zeigen sich mannigfaltig in den Kompositionen. Man beschränkte sich im Ganzen auf die Töne der diatonischen Leiter; Versetzungszeichen wurden wenig angewendet. Die Erniedrigung- des Tones H in B war schon bei den Griechen in einem eigenen Tetrachorde, dem der Synemmenoi, eingeführt und wurde beibehalten. Außerdem wird zuweilen ein ‡‡ vor f, c und g gebraucht, um in den Cadenzen Leittöne zu gewinnen. Es fehlte also die Modulation in unserem Sinne aus der Tonart einer Tonica in die einer anderen mit anderen Vorzeichnungen fast ganz. Ferner blieben die bevorzugten Akkorde bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts die aus Oktaven und Quinten ohne Terz gebildeten, welche uns leer klingen, und die wir zu vermeiden suchen. Sie erschienen den Tonsetzern des Mittelalters als die wohlklingendsten, weil sie nur das Bedürfnis möglichst vollkommener Konsonanzen hatten; namentlich durften nur solche im Schlußakkorde vorkommen. Die vorkommenden Dissonanzen sind allgemein solche, welche durch. Vorhalt und Durchgangstöne eintreten, die Septimenakkorde, welche in der neueren Harmonie eine so große Wichtigkeit für die Bezeichnung der Tonart, für die Bindung und die Beschleunigung der harmonischen Schritte haben, fehlten.

So groß also auch die künstlerische Ausbeute dieses Zeitraumes in der Rhythmik und in der Kunst der Stimmführung gewesen ist, für die Harmonik und das Tonsystem hat es wenig mehr geleistet, als daß es eine Menge noch ungeordneter Erfahrungen zusammengehäuft hat. Da Akkorde durch die verwickelten Stimmgänge in mannigfachen Umlagerungen und Folgen entstanden, so konnten die Musiker dieses Zeitraumes nicht umhin, diese Akkorde zu hören und ihre Wirkung kennen zu lernen, wenn sie auch noch wenig Geschicklichkeit zeigen, solche Wirkungen zu benutzen. Jedenfalls bereiteten die Erfahrungen dieses Zeitraumes die Entwickelung der eigentlich harmonischen Musik vor, und machten es den Musikern möglich, eine solche zu produzieren, als äußere Einwirkungen auf eine solche Erfindung hindrängten.



3. Die harmonische Musik.

Die moderne harmonische Musik ist dadurch charakterisiert, daß in ihr die Harmonie eine selbständige Bedeutung für den Ausdruck und für den künstlerischen Zusammenhang der Komposition erhält. Die äußeren Anstöße zu dieser Umformung der Musik waren mehrfacher Art. Der erste ging vom protestantischen Kirchengesange aus. Es lag im Prinzip des Protestantismus, daß die Gemeinde selbst den Gesang übernehmen mußte; man konnte ihr aber nicht zumuten, die künstlichen rhythmischen Verschlingungen der niederländischen Polyphonie durchzuführen. Dagegen waren die Stifter der neuen Konfession, Luther an ihrer Spitze, zu sehr durchdrungen von der Macht und Bedeutung der Musik, um dieselbe sogleich auf einen schmucklosen einstimmigen Gesang zurückzuführen. Es entstand deshalb für die Komponisten des protestantischen Kirchengesanges die Aufgabe, einfach harmonierte Choräle zu setzen, in denen alle Stimmen gleichzeitig fortschritten. Dadurch waren die kanonischen Wiederholungen der gleichen melodischen Phrasen in verschiedenen Stimmen abgeschnitten, und diese waren es ja, welche hauptsächlich die Einheit des Ganzen zusammengehalten hatten. Es mußte nun im Klange der Töne selbst ein neues Verbindungsprinzip gesucht werden, und dies ergab sich durch die strengere Beziehung auf eine herrschende Tonica. Erleichtert wurde das Gelingen dieser Aufgabe dadurch, daß die protestantischen Kirchenlieder zum großen Teil schon bestehenden Volksmelodien angeschlossen wurden, und die Volkslieder der germanischen und keltischen Stämme, wie schon früher bemerkt wurde, ein festeres Gefühl für Tonalität im modernen Sinne verrieten, als die der südlichen Völker. So entwickelte sich schon in den protestantischen Kirchenliedern des 16. Jahrhunderts das System der Harmonie der jonischen Kirchentollart, unseres heutigen Dur, ziemlich korrekt, so daß wir in diesen Chorälen auch heute nichts Fremdartiges für unser Gefühl finden, wenn auch manche später erfundenen Hilfsmittel zur festen Bezeichnung der Tonart, wie z. B. die Septimenakkorde, noch fehlen. Dagegen dauerte es viel länger, ehe die übrigen Kirchentonarten, in deren Harmonisierung noch viel Unsicherheit herrschte, in unser Mollsystem verschmolzen. Das protestantische Kirchenlied jener Zeit war von mächtiger Wirkung auf die Gemüter der Zeitgenossen, und diese wird von allen Seiten in den lebhaftesten Worten hervorgehoben, so daß man nicht zweifeln kann, der Eindruck einer solchen Musik sei für sie ein ganz neuer und besonders mächtiger gewesen.

Auch in der römischen Kirche verlangte man nach einer Änderung des Kirchengesanges. Die Ausschreitungen der polyphonen Kunst zerrissen den Sinn der Worte, machten diese unverständlich und machten es dem ungeübten, häufig wohl auch selbst dem gelehrten und gebildeten Hörer schwer, das Gewirr der Stimmen aufzulösen. In Folge der Verhandlungen des Tridentinischen Konzils und im Auftrage des Papstes Pius IV. hat Palestrina diese Vereinfachung und Verschönerung des Kirchengesanges vollführt, und soll durch die einfache Schönheit seiner Kompositionen die vollständige Verdrängung des mehrstimmigen Gesanges aus der römischen Liturgie verhindert haben. Palestrina, der für kunstgeübte Sängerchöre schrieb, ließ die verwickeltere Stimmführung der polyphonen Musik nicht ganz fallen, aber durch passende Abschnitte und Einteilungen gliederte er sowohl die Masse der Töne als die Masse der Stimmen, welche letzteren meist in mehrere Chöre gesondert erscheinen. Mehr oder weniger häufig treten auch die Stimmen choralmäßig neben einander hergehend auf, und zwar dann überwiegend in konsonanten Akkorden. Dadurch machte er seine Sätze übersichtlicher, verständlicher und im Allgemeinen außerordentlich wohlklingend. Nirgends tritt aber die Abweichung der Kirchentonarten von den für die harmonische Behandlung ausgebildeten neueren Tonarten so auffallend hervor, wie bei Palestrina und den gleichzeitigen italienischen Kirchenkomponisten, unter denen Johannes Gabrieli, ein Venezianer, noch hauptsächlich zu nennen ist. Palestrina war der Schüler eines in der Bartholomäusnacht zu Lyon ermordeten Hugenotten, des Claude Goudimel, von dem harmonische Bearbeitungen der französischen Psalmen aasgeführt sind, die von der modernen Art und Weise nicht sehr viel abweichen, namentlich wo sie sich in Dur bewegen. Die Psalmenmelodien waren aber entweder Volksliedern entnommen oder solchen wenigstens nachgebildet. Durch seinen Lehrer war also Palestrina jedenfalls mit dieser Weise der Behandlung bekannt, er hatte es aber zu tun mit Thematen aus dem Gregorianischen Cantus firmus, die in Kirchentonarten sich bewegten, deren Charakter streng festgehalten werden mußte, auch selbst in solchen Sätzen, deren Melodien er selbständig erfand oder umbildete. Diese Tonarten nötigten zu einer ganz anderen Weise harmonischer Behandlung, die uns sehr fremdartig klingt. Als Probe will ich hier nur den Anfang seines achtstimmigen Stabat mater zitieren:

Hier finden wir gleich als Anfang eines Stücks, wo wir feste Bezeichnung der Tonart verlangen würden, eine Reihe Akkorde aus den verschiedensten Tonarten von A-Dur bis F-Dur anscheinend regellos durch einander gewürfelt, gegen alle unsere Regeln der Modulation. Und wer würde ohne Kenntnis der Kirchentonarten aus diesem Anfang die Tonica des Stückes erraten können? Als solche erscheint am Ende der ersten Strophe D, und auf das D weist auch die Erhöhung des C zu Cis im ersten Akkorde hin, und die Hauptmelodie, welche der Tenor zu führen hat, läßt von Anfang an D als Tonica erkennen. Aber erst im achten Takte des Satzes erscheint ein D-Mollakkord, den ein moderner Komponist auf den ersten guten Taktteil des ersten Taktes hätte setzen müssen.

Es spricht sich in diesen Zügen sehr deutlich aus, wie abweichend die Natur des ganzen Systems der Kirchentonarten von unseren modernen Tonarten war, denn wir dürfen von Meistern wie Palestrina, sicher voraussetzen, daß ihre Harmonisierung sich auf ein richtiges Gefühl für das eigentümliche Wesen jener Tonarten gründete und nicht auf Willkür und Ungeschick, um so mehr ihnen die Fortschritte, welche inzwischen im protestantischen Kirchenliede gemacht waren, nicht unbekannt sein konnten.

Was wir in solchen Beispielen, wie dies angeführte eines ist, vermissen, ist erstens, daß der Akkord der Tonica nicht gleich im Anfang die hervortretende Rolle spielt, die ihm in der modernen Musik zukommt. In dieser hat der tonische Akkord unter den Akkorden eben dieselbe hervorragende und verbindende Bedeutung wie unter den Tönen der Tonleiter die Tonica. Zweitens vermissen wir überhaupt das Gefühl für die Verwandtschaft der auf einander folgenden Akkorde, welches bewirkt, daß in der Regel die moderne Musik nur Akkorde auf einander folgen läßt, welche durch einen gemeinsamen Ton mit einander verbunden sind. Es hängt dies offenbar damit zusammen, daß, wie wir später sehen werden, in den alten Kirchentonarten nicht so eng unter sich und mit dem tonischen Akkorde verbundene Akkordketten herzustellen sind, wie in der modernen Dur- und Molltonart.

Wenn also auch bei Palestrina und Gabrieli sich schon eine feine künstlerische Empfindung für die ästhetische Wirkung der einzelnen verschiedenartigen Akkorde zu erkennen gibt, und insofern die Harmonien bei ihnen schon ihre selbständige Bedeutung haben, so fehlen doch noch diejenigen Erfindungen, welche den musikalischen Zusammenhang des Akkordgewebes in sich selbst herstellen sollten. Diese Aufgabe erforderte aber eine Beschränkung und Umformung der bisherigen Tonleitern auf unser Dur und Moll. Andererseits ging durch diese Beschränkung diejenige Mannigfaltigkeit des Ausdrucks größtenteils verloren, welche auf der Verschiedenartigkeit der Tonleitern beruhte. Die alten Tonleitern bilden teils Zwischenstufen zwischen Dur und Moll, teils steigern sie noch den Charakter der Molltonart, wie die phrygische Kirchentonart. Diese Verschiedenheit ging verloren und mußte durch neue Hilfsmittel ersetzt werden, nämlich durch die Transposition der Tonleitern in verschiedene Grundtöne und die modulatorischen Übergänge von einer zur anderen Tonart.

Diese Umbildung vollzog sich im Laufe des 17. Jahrhunderts. Den lebhaftesten Anstoß aber erhielt die Ausbildung harmonischer Musik durch die beginnende Entwickelung der Oper, welche angeregt war durch die erneute Bekanntschaft mit dem klassischen Altertume, und geradezu unternommen wurde in der Absicht, die antike Tragödie wieder herzustellen, von der man wußte, daß sie musikalisch rezitiert worden sei. Hier drängte sich unmittelbar die Aufgabe dem Komponisten auf, eine oder wenige Solostimmen musikalische Sätze ausführen zu lassen, welche doch harmonisiert sein mußten, um zwischen die polyphonisch bearbeiteten Chöre hineinzupassen, und in denen die Singstimmen vor allen anderen heraustreten die begleitenden Stimmen ganz untergeordnet gehalten werden mußten. Dadurch ergab sich zunächst die Erfindung des Rezitativs durch Jacob Peri und Caccini um 1600, und arioser Sologesänge durch Claudio Monteverde und Viadana. In der Notenschrift kündet sich die neue Betrachtungsweise der Harmonie dadurch an, daß bei diesen Komponisten die bezifferten Basse erscheinen. Jede solche bezifferte Baßnote repräsentiert einen Akkord, und es werden also die Akkorde bezeichnet, während die Führung der Stimmen in diesen Akkorden dem Geschmack des Spielers überlassen bleibt. Was also in der polyphonen Musik Nebensache war, wird hier Hauptsache, und umgekehrt.

Die Oper machte es auch notwendig, nach stärkeren Ausdrucksmitteln zu suchen, als die Kirchenmusik zugelassen hatte. Bei Monteverde, welcher an neuen Erfindungen ungemein reich war, finden wir die Septimenakkorde zuerst frei einsetzend, worüber er von seinem Zeitgenossen Artusi heftig getadelt wird. Überhaupt entwickelt sich schnell ein kühnerer Gebrauch der Dissonanzen, welche in selbständiger Bedeutung, um schärfere Schattierungen des Ausdrucks zu erreichen, und nicht mehr als zufällige Ergebnisse der Stimmführung eintreten.

Unter diesen Einflüssen begann denn auch schon bei Monteverde die Umgestaltung und Verschmelzung der dorischen, äolischen und phrygischen Kirchentonart in unsere moderne Molltonart, welche im Laufe des siebenzehnten Jahrhunderts sich vollzog, wodurch auch diese Tonarten für die Hervorhebung der Tonica in der Harmonisierung geschickter gemacht wurden, wie wir dies später genauer begründen werden.

Wir haben der Hauptsache nach schon bezeichnet, welchen Einfluß diese Änderungen auf die Natur des Tonsystems hatten. Da das bisherige Bindemittel der musikalischen Sätze, nämlich die kanonische, Wiederholung gleicher melodischer Figuren, überall wegfallen mußte, wo eine der Melodie untergeordnete einfache harmonische Begleitung eintrat, so mußte im Klange der Akkorde selbst ein neues Mittel künstlerischen Zusammenhanges gesucht werden; dies ergab sich, indem man durch die Harmonisierung einmal die Beziehungen der Töne zu der einen herrschenden Tonica viel bestimmter konnte hervortreten lassen, als dies früher der Fall war, und zweitens, indem man den Akkorden selbst durch ihre Verwandtschaft unter einander und zum tonischen Akkorde ein neues Band gab. Wir werden im Fortgang unserer Untersuchung sehen, daß sich aus diesem Prinzip die unterscheidenden Eigentümlichkeiten des modernen Tonsystems herleiten lassen, und daß dieses Prinzip mit großer Konsequenz in unserer jetzigen Musik durchgeführt ist. In der Tat ist die Art, wie das Tonmaterial der Musik jetzt für den künstlerischen Gebrauch zurecht gemacht ist, an sich schon ein bewunderungswürdiges Kunstwerk, an welchem die Erfahrung, der Scharfsinn und der künstlerische Geschmack der europäischen Nationen seit Terpander und Pythagoras nun drittehalb Jahrtausende gearbeitet haben. Die Ausbildung der wesentlichen Züge seiner jetzigen Gestalt ist aber kaum 200 Jahre alt in der Praxis der Tonsetzer, und seinen theoretischen Ausdruck erhielt das neue Prinzip erst durch Rameau im Anlange des vorigen Jahrhunderts. In weltgeschichtlicher Beziehung ist es also ganz und gar Produkt des neueren Zeitalters, national beschränkt auf die germanischen, romanischen, keltischen und slawischen Völker.

Mit diesem Tonsysteme, welches großen Reichtum von Formen bei fest geschlossener künstlerischer Konsequenz zuließ, ist es nun möglich geworden, Kunstwerke zu schaffen, viel größer an Umfang, viel reicher in Formen und Stimmen, viel energischer im Ausdrucke, als irgend eine vorausgegangene Zeit produzieren konnte, und wir sind deshalb gar nicht geneigt, mit den modernen Musikern zu rechten, wenn sie es für das vorzüglichste von allen erklären, und ihm ihre Aufmerksamkeit vor allen anderen ausschließlich zuwenden. In wissenschaftlicher Beziehung dagegen, wenn wir daran gehen, seinen Bau zu erklären und die Konsequenz desselben aufzudecken, dürfen wir nicht vergessen, daß das moderne System nicht aus einer Naturnotwendigkeit entwickelt ist, sondern aus einem frei gewählten Stilprinzip, daß neben ihm und vor ihm andere Tonsysteme aus anderen Prinzipien entwickelt worden sind, in deren jedem gewisse beschränktere Aufgaben der Kunst so gelöst worden sind, daß der höchste Grad künstlerischer Schönheit erreicht wurde.

Die Beziehung auf die Geschichte der Musik wird in der vorliegenden Abteilung unseres Werkes auch deshalb nötig, weil wir hier Beobachtung und Experiment zur Feststellung der von uns aufgestellten Erklärungen meist nicht anwenden können, denn wir können uns, erzogen in der modernen Musik, nicht vollständig zurückversetzen in den Zustand unserer Vorfahren, die das Alles nicht kannten, was uns von Jugend auf geläufig ist, und es erst zu suchen hatten. Die einzigen Beobachtungen und Versuche also, auf die wir uns berufen können, sind diejenigen, welche die Menschheit in ihrem Entwickelungsgange über musikalische Dinge angestellt hat. Wenn unsere Theorie des modernen Tonsystems richtig ist, muß. dieselbe auch die Erklärung für die früheren unvollkommeneren Stadien der Entwickelung abgeben können.

Als Grundprinzip für die Entwickelung des europäischen Tonsystems stellen wir die Forderung auf, daß die ganze Masse der Töne und Harmonieverbindungen in enge und stets deutliche Verwandtschaft zu einer frei gewählten Tonica zu setzen sei, daß aus dieser sich die Tonmasse des ganzen Satzes entwickele und in sie wieder zurücklaufe. Die antike Welt entwickelte dieses Prinzip an homophoner Musik, die moderne an harmonischer. Dieses Prinzip ist aber, wie man sieht, ein ästhetisches, kein natürliches.

Wir können seine Richtigkeit nicht von vorn herein erweisen, wir müssen sie an seinen Konsequenzen prüfen. Auch ist die Entstehung solcher ästhetischer Grundprinzipien nicht einer Naturnotwendigkeit zuzuschreiben, sondern sie sind Produkte genialer Erfindung, wie wir vorher an den Prinzipien der architektonischen Stilarten als Beispielen erläutert haben.