XLIII. Prinzip der ökonomischen Verwendung der Mittel oder des kleinsten Kraftmaßes. Frage nach dem allgemeinsten Grunde der Lust und Unlust. Prinzip von Zöllner. Prinzip der Tendenz zur Stabilität. Herbartsches Prinzip.

    Wenn ich das, als Prinzip der ökonomischen Verwendung der Mittel bezeichnete, Prinzip zuletzt stelle, so ist es nicht, weil ich es für das unwichtigste hielte, sondern weil ich erst zuletzt und zwar von anderer Hand darauf als auf eins der wichtigsten aufmerksam gemacht worden bin; und da es jedenfalls den bisher besprochenen Prinzipien nicht zwanglos untergeordnet werden kann, so füge ich es denselben noch mit den eigenen Worten hinzu, die mir darüber von Prof. Vierordt in Tübingen im Laufe einer, wesentlich auf andere Dinge bezüglichen, Korrespondenz unter gelegentlicher Bezugnahme auf den ersten Teil dieser Vorschule zugekommen sind, und die ich gern unterschreibe, indem ich zugleich Anlaß davon nehme, einiges Allgemeinere anzuknüpfen.

    "Unter den, einleitend aufgestellten und sehr triftig motivierten Prinzipien möchte ich noch das "der ökonomischen Verwendung der Mittel" oder wie man das sonst ausdrücken wollte, aufgenommen wissen, und das um so mehr, als dasselbe gerade auch vom Standpunkte der Naturforschung und einer objektiven realen Analyse der Kunstobjekte vollkommen gerechtfertigt ist. In ihrer Schrift über die Gehwerkzeuge haben die Gebr. Weber an mehreren Stellen1) und mit schlagenden Beispielen nachgewiesen, daß das ästhetisch Schöne im Ganzen auch das physiologisch Richtige ist; daß beide sich decken, daß immer das den Eindruck des Schönen (Leichten, Ungezwungenen, Freien) macht, was mit dem Aufwand der möglichst geringen Muskelkraft erreicht wird."

1) Namentlich spricht sich das Vorwort S VII in einem besonderen Passus entschieden in diesem Sinne aus. F.
 
 
    "Demnach würde jedes Werk der bildenden Kunst, jedes Gedicht u. s. w. immer nur diejenigen Mittel verwenden dürfen, welche zur Erreichung des Zweckes erforderlich sind. Werden weitere, nicht absolut nötige, wenn auch an sich noch so gerechtfertigte Mittel verwendet, so wirkt ein solcher Pleonasmus ermüdend. Gibt es doch Gedichte, wie das Mignonlied, von denen man sich sagen muß, daß in ihnen nicht ein einziges Wort anders gewählt werden dürfe, d. h. daß die wirklich gewählten Worte die besten sind."

    Unstreitig läßt sich dies Prinzip aus doppeltem Gesichtspunkte fassen. Faktisch sagt es uns selbst zu, mit möglichst geringem Kraftaufwande viel zu leisten, und so wird es uns auch assoziativ nach den im Th. l, gemachten Bemerkungen gefallen, uns gegenüber mit geringem Kraftaufwande viel geleistet zu sehen; aber es werden auch objektive Leistungen der Art mindestens zumeist einen geringeren inneren (psychisch-physischen) Kraftaufwand fordern, um aufgefaßt, begriffen, verfolgt zu werden, und insofern durch eine direkte Einwirkung gefallen, wie sich wohl weiter ausführen ließe.

    Nun könnte man vielleicht daran denken, dies Prinzip an die Spitze der ganzen Ästhetik zu stellen, indem man alle Lust und Unlust überhaupt von ihm abhängig machte; und wenn Vierordt selbst in Hervorhebung der Wichtigkeit des Prinzips nicht so weit geht, dürfte es hingegen im Sinne von Avenarius sein, der in einem interessanten Schriftchen 2) dasselbe Prinzip unter der Bezeichnung "Prinzip des kleinsten Kraftmaßes" an die Spitze der ganzen Philosophie gestellt und dabei mehrfach Gelegenheit genommen hat, Unlustreaktionen im Vorstellungsgebiete mit diesem Prinzip in Beziehung zu setzen. Wirklich mag dies Prinzip in gar manchen der von uns bisher betrachteten, sich ja überhaupt so vielfach verflechtenden, Prinzipien seine Rolle mit spielen; inzwischen scheint mir Folgendes entgegenzustehen, ein Fundamentalprinzip der Ästhetik daraus zu machen.

2) Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung. Leipzig. Fues’s Verlag. 1876.
 
 
    Daß es uns überhaupt gefalle, möglichst geringe Kraft zu brauchen, läßt sich nicht sagen, sondern nur relativ geringe in Verhältnis zu einer bezweckten Leistung. Und so gälte es für ein Fundamentalprinzip der Ästhetik, diese Relation auf einen klaren Gesichtspunkt zu bringen, und zwar einen solchen, der nicht bloß die Beziehung zu bezweckten Leistungen, um die es sich ja nicht bei jeder Lust und Unlust handelt, sondern der alle Fälle der Entstehung von Lust und Unlust unter sich begreift, was in dem Ausspruche und der Entwicklung des Prinzips, so weit sie bis jetzt gediehen ist, nicht liegt. Also wird sich freilich dies Prinzip als ästhetisches Prinzip wie die übrigen bisher besprochenen gefallen lassen müssen, nur unter den anderen mitzuzählen, indes etwas Gemeinsames, nur noch nicht klar und sicher Festgestelltes in allen das eigentlich Zählende bleibt.

    Führen wir die hierüber Th. l gemachten kurzen Bemerkungen noch etwas weiter aus.

    Manche suchen überhaupt den Grund der Lust darin, daß Alles, was unsere Kraft vermehrt, unseren Lebensprozess erhöht oder die Entwicklung unseres Wesens fördert, Lust gibt, hingegen, was die Kraft, den Lebensprozess herabdrückt, die Entwicklung des Wesens hemmt, Unlust gibt. Aber diese Erklärung ist entweder untriftig oder unklar. Bei Annäherung an den Schlaf sinkt die lebendige Kraft des ganzen Körpers, einschließlich der Prozesse, mit welchen die Bewußtseinstätigkeit in funktioneller Beziehung steht 3), doch knüpft sich daran keine Unlust; was wird also bei jener Erklärung unter Kraft verstanden? Der größte Schmerz regt uns oft am heftigsten auf; inwiefern schließt man das von einer Erhöhung unserer Lebenstätigkeit aus ? Übertriebene Genüsse zehren so gut an unserer Lebenskraft als starke Leiden. Was versteht man ferner unter einer Entwicklung unseres Wesens? Sowohl der Begriff der Entwicklung als der Begriff unseres Wesens bleibt hierbei noch zu klären; und wie man dies auch versuchen möge, so wird man dadurch zu keiner scharfen oder zirkelfreien Beantwortung der Frage nach dem letzten Grunde der Lust und Unlust geführt.

3) Vergl. Elem. der Psychophys. 11 S. 442.
 
 
    Von Unbestimmtheit und Unklarheit jedenfalls frei ist die Ansicht, welche Zöllner in seinem Kometenbuche (l. Aufl. 325 ff.) in Zusammenhange mit allgemeineren Ansichten über die physische Begründung psychischer Tätigkeit aufgestellt hat, wonach Verwandlung von Spannkraft, Potenzialenergie in lebendige Kraft mit Lust, die umgekehrte Verwandlung mit Unlust behaftet ist, indem die Ausdrücke hierbei in exakt physikalischem Sinne zu verstehen sind. Insofern jedoch hiernach Wachstum der lebendigen Kraft überhaupt mit Lust, Abnahme mit Unlust verknüpft sein müßte, möchte ich diese Ansicht faktischen Einwürfen wie den obigen nicht entzogen halten.

    Meinerseits bin ich geneigt zu glauben — und von mehr als Glauben läßt sich in diesen Dingen kaum noch sprechen — daß sich von quantitativen Verhältnissen des physischen Prozesses, womit der psychische in funktioneller Beziehung steht 4), kurz des psychophysischen Prozesses, prinzipiell auch nur quantitative Verhältnisse des psychischen abhängig machen lassen, daß hingegen Lust und Unlust, als qualitative Bestimmtheiten, von einer Form oder einem Form Verhältnisse dieses Prozesses abhängig zu machen sind, das wir, noch ohne es zu kennen, als innere Zusammenstimmung oder Harmonie bezeichnen können, um damit gleich in geläufige Begriffs- und Vorstellungsweisen hineinzutreten (vergl. Abschn. XXXI). So wird eine Musik weder durch Größe noch Kleinheit, weder durch Zunahme noch Abnahme der lebendigen Kraft des Schwingungsprozesses, worauf sie äußerlich, und voraussetzlich innerlich, beruht, lustgebend, sondern durch ein Verhältnis des Zusammentreffens und der Wiederkehr zwischen Momenten dieses Prozesses, das mit dem Ausdrucke harmonisch nicht seiner Beschaffenheit, sondern eben nur seiner lustgebenden Wirkung nach bezeichnet ist; so viel aber liegt doch im geläufigen Begriffe des in sich Zusammenstimmenden oder Harmonischen, daß es kein Quantitätsverhältnis ist, um was es sich wesentlich dabei handelt; und ich meine, der geläufige Begriff in dieser Beziehung ist auch der richtige.

4) Daß eine solche Beziehung überhaupt statt finde und bei unserer Frage darauf zurückgegangen werden könne, wird sich nicht leugnen lassen, ohne daß man genötigt ist, diese Beziehung einseitig materialistisch zu fassen.
 
 
    Das hindert nicht, daß Quantitätsverhältnisse hierbei mit ins Spiel kommen, und zwar in doppelter Weise, einmal sofern sie von den für die Entstehung der Lust und Unlust wesentlichen Formverhältnissen mitgeführt werden oder solche mitführen, Einfluß darauf äußern oder davon erfahren, kurz in funktionellem Zusammenhange mit den formalen Entstehungsbedingungen der Lust und Unlust stehen, zweitens, sofern eine größere oder geringere lebendige Kraft in das betreffende Verhältnis eintreten, und dadurch die, ihrer Qualität nach nicht von der Größe der lebendigen Kraft abhängige Lust und Unlust doch quantitativ mitbestimmen kann. So wird jeder unnötige Umweg, jedes Hindernis im geläufigen Vorstellungsgange die innere Zusammenstimmung, worin sie auch bestehe, zugleich beeinträchtigen und den Verbrauch an lebendiger Kraft in Verhältnis zu dem steigern können, der im Wege der größten Zusammenstimmung erzielt worden wäre, hiermit im Sinne der Unlust sein, indes der größere Verbrauch lebendiger Kraft im Sinne eines in sich zusammenstimmenden hiermit förderlichen Vorstellungsganges im Sinne der Lust ist. Prinzipiell oder fundamental aber hängt die Frage, ob Lust oder Unlust, hierbei immer nicht von der Quantität der in Tätigkeit gesetzten lebendigen Kraft, sondern von der Form ab, in der sie sich äußert.

    Hiernach werden überhaupt zwei Gesichtspunkte zu unterscheiden sein, aus denen ein Bewegungszustand lustvoller oder unlustvoller werden kann. Aus einem gewissen Gesichtspunkte wird er um so lustvoller oder unlustvoller sein, je nachdem er in sich zusammenstimmender, harmonischer, oder mehr vom Verhältnisse der Harmonie abweichend ist, worin immer dieses Verhältnis bestehen möge, indes es eine Breite der Indifferenz zwischen beiden Zuständen gibt, worin Lust wie Unlust unter der Schwelle bleiben. Aus einem anderen Gesichtspunkte, in einem anderen Sinne aber wird Lust und Unlust auch wachsen oder abnehmen können, nach Maßgabe als eine stärkere oder schwächere lebendige Kraft in das harmonische oder disharmonische Verhältnis eingeht, und auch von dieser Seite her, nämlich vermöge Schwäche der lebendigen Kraft, unter der Schwelle bleiben können. Zwar kann eine leise Musik uns unter Umständen besser gefallen als eine starke und gefällt sicher besser als die stärkstmögliche. Aber es wird sein, weil unter den gegebenen Umständen die schwächere harmonischer zu dem übrigen System unserer Bewegung ist, und jede zu starke (wie zu lange fortgesetzte) Bewegung gewisser Art in einem Teile unseres Systems Disharmonie in das Ganze bringt; denn ohne Einfluß auf die Formverhältnisse der Bewegung können die Quantitätsverhältnisse derselben nicht sein, aber nur durch diesen Einfluß werden sie lust- oder unlustgebend sein. Übrigens wird lebendige Kraft auf Geschwindigkeiten höherer Ordnung als die erste (Geschwindigkeitsänderungen, die zu unbestimmter Höhe ansteigen können) zu beziehen sein, wenn die Psychophysik Solches überhaupt fordern sollte. (Vergl. Elem, d. Psychoph. II. 32.)

    Wenn bei diesen ganz allgemeinen Betrachtungen die Natur der harmonischen und disharmonischen Bewegungsverhältnisse noch unbestimmt gelassen werden kann, so tritt doch die Frage danach bei jedem Versuche eines näheren Eingehens auf den Grund der Lust und Unlust auf, und ist fundamental für eine psychophysische Begründung der ganzen Ästhetik, um welche Begründung es sich jedoch in dieser Schrift nicht gehandelt hat und bei der Unsicherheit in diesen Dingen nicht handeln konnte. Wenn man aber verlangen sollte, um die vorigen allgemeinen Betrachtungen nicht ganz in der Luft schwebend zu finden, daß wenigstens eine mögliche Ansicht über das betreffende Formverhältnis als Grund von Lust und Unlust aufgestellt werde, so ist eine solche von mir schon früher beiläufig in dem Schriftchen "Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen" aufgestellt worden, und zwar in Abhängigkeit von einem allgemeinen Prinzip, welches ich das Prinzip der Tendenz zur Stabilität nenne. Hierüber einige Worte.

    In Kürze bezeichne ich mit dem Ausdrucke "stabel" einen Bewegungszustand, welcher die Bedingungen seiner Wiederkehr einschließt, also abgesehen von Störungen wirklich periodisch wiederkehrt, indem die Rückkehr zum ersten Zustande auch die Rückkehr zu den Bedingungen einer neuen Wiederkehr ist. Ein solcher Zustand kann nicht nur von einzelnen Teilchen, sondern auch einem Systeme von Teilchen gelten; und die Bedingungen davon hängen für das Einzelne und das Ganze zusammen. Es kann sein, daß er nicht alle Bestimmungen eines Bewegungsprozesses zugleich, sondern nur diese oder jene betrifft, ich suche in obigem Schriftchen zu zeigen, daß die gesamten Prozesse der Welt dahin streben, diesen Zustand zu erreichen oder sich ihm immer mehr zu nähern, daß alle Zweckmässigkeitstendenzen der Natur dieser allgemeinen Tendenz sich unterordnen lassen, daß etwas Einzelnes in das Ganze paßt und das Ganze der Erhaltung des Einzelnen dient, sofern beider Prozesse zu einem stabeln Vorgange zusammenstimmen, und weise endlich darauf hin, daß die faktische Beziehung, die im Reiche des Bewußten zwischen Streben, Lust und Unlust besteht, derartig sein könnte, daß nach Maßgabe der Annäherung an den stablen Zustand über eine gewisse Grenze hinaus Lust, nach Maßgabe der Entfernung davon über eine gewisse Grenze hinaus Unlust bestände, indes ein Indifferenzzustand von gewisser Breite dazwischen bliebe.

    Genauer zugesehen nähert sich ein Zustand der Stabilität in unserem Sinne um so mehr oder wird kurz gesagt um so stabler, eine je regelmäßigere Periode die Bewegungen der einzelnen Teilchen einhalten, und je mehr sich die Perioden der verschiedenen Teilchen der Kommensurabilität unter einander nähern; Erklärungen, die freilich noch nicht Alles sagen, was zur völligen Bestimmtheit nötig ist, aber für ein allgemeines Apercu genügen können.

    Hiermit wäre der harmonische und disharmonische Bewegungszustand dahin erläutert, daß die bis zur Lust gehende Annäherung an den stabeln Zustand mit ersterem, die bis zur Unlust gehende Abweichung davon mit letzterem Namen bezeichnet würde. Mit der Lust an dem harmonischen Zustande ist aber zugleich das Streben ihn zu erhalten oder durch größere Annäherung an die Stabilität zu steigern, mit der Unlust am disharmonischen Zustande das Streben, ihn zu beseitigen, solidarisch.

    Je nach einer beschränktem oder erweiterten Ansicht von den Bewußtseinsverhältnissen der Welt ist diese funktionelle Beziehung der Lust und Unlust zur physischen Unterlage des Psychischen auf Menschen und Tiere zu beschränken oder auf das Gesamtsystem der Weltprozesse auszudehnen, wovon aber nur Letzteres eine konsequente Durchbildung der Ansicht gestattet.

    Jeder Prozeß im Gebiete der Endlichkeit, welcher den Bedingungen der Stabilität für sich genügt, kann doch noch im Verhältnisse der Instabilität zu anderen Prozessen der Welt sein, sofern seine Bewegungen incommensurabel dazu sind; ja so lange nicht die Gesamtheit der Weltprozesse den Bedingungen der Stabilität vollständig genügt, wird kein Teilprozeß derselben solchen vollständig, dauernd und nach allen Beziehungen für sich genügen können, ohne in instabeln Verhältnissen zu anderen Prozessen der Welt zu bleiben, und damit einer Tendenz zur gegenseitigen Anpassung und hiermit Abänderung zu unterliegen, so daß zu Gunsten wachsender Stabilität des Ganzen die des Einzelnen zeitweis leiden kann, bis dasselbe durch die demgemäßen Änderungen an dem Stabilitäts-Gewinn des Ganzen selbst Teil nimmt. Was aber so von dem Gesamtprozesse der Welt in Bezug zu dessen Teilprozessen gilt, gilt auch von dem Gesamtprozesse eines Individuum in Bezug zu seinen Teilprozessen; nur daß der Gesamtprozeß eines Individuum immer noch ein Teilprozeß des gesamten Weltprozesses bleibt. Hierin liegen mannigfache Konflikte zwischen den Bedingungen der Lust und Unlust, zwischen Streben und Gegenstreben begründet.

    Voraussetzlich schließt die Zusammenhaltung der Vorstellung und des Willens auf einen bestimmten Zweck oder Beschäftigung durch eine einheitlich verknüpfte Mannigfaltigkeit Bedingungen der Stabilität des hierbei unterliegenden psychophysischen Prozesses ein; und wo weder Eins noch das Andere vorhanden ist, tritt entweder die Unlust der Langeweile ein, indem der eigene Gang der Vorstellungen kein Band, was sie in ein stables Verhältnis brächte, zu finden vermag, oder die Unlust eines zersplitterten Eindrucks Seitens von außen aufgedrungener Vorstellungen. Wenn aber auch der lustvollste einheitliche Eindruck sich bald abstumpft, so mag sich dies teils darauf schreiben lassen, daß die für denselben disponible lebendige Kraft sich nach der Einrichtung des Organismus erschöpft, teils daß die einseitige Beschäftigung durch diesen Eindruck, wodurch doch nur ein Teil oder eine Seite des psychophysischen Systems in ein stables Verhältnis versetzt wird, dasselbe übrigens mehr und mehr in instabeln Zustand geraten läßt und dadurch ein Streben, die Beschäftigung zu wechseln, hervorruft.

    Obwohl ich glaube, daß in der hier aufgestellten Ansicht jedenfalls ein, freilich genauerer Bestimmung noch sehr bedürftiger, Kern des Richtigen liegt, verzichte ich doch auf eine eingehendere Erörterung derselben und weitere Anwendung auf die ästhetischen Verhältnisse, da ich die Ansicht damit doch nicht ihres hypothetischen Charakters zu entkleiden und durch sichere und klare Ableitungen daraus die bisher entwickelten Spezialprinzipe zu ersetzen und entbehrlich zu machen vermöchte. Überhaupt müßten wir weiter in der Psychophysik sein, in welche die Frage nach der physischen Begründung von Lust und Unlust gehört, als wir sind, ehe der Versuch solcher Ableitungen gelingen könnte, und wäre er gelungen, so würden wir zwar eine psychophysische Ästhetik, aber nicht eine Ästhetik in heutigem Sinne und nach heutigem Bedürfnisse haben, welche von der inneren physischen Unterlage unserer Seelenzustände und Seelenbewegungen überhaupt absieht.

    Nun zweifle ich freilich, daß sich überhaupt auf rein psychischem Gebiete ein letzter verknüpfender Gesichtspunkt für die Entstehung aller Lust und Unlust wird finden lassen, der eine klare und zureichende Ableitung aller ästhetischen Gesetze daraus gestattete. Aber ist nicht vielleicht im Herbart’schen System diesem Bedürfnisse entsprochen? Hat es doch in der Psychologie eine neue Bahn eingeschlagen, und liegt nicht auch das, was wir in dieser Beziehung suchen möchten, auf dieser Bahn?

    Meinerseits vermöchte ich es aus folgenden zwei Gesichtspunkten nicht da zu finden.

    Herbart macht die Entstehung der Lust und Unlust von gegenseitigen Förderungs- und Hemmungsverhältnissen der Vorstellungen abhängig 5), aber er hat nicht klar zu machen vermocht, wie die Entstehung der sinnlichen Lust und Unlust unter diesen Gesichtspunkt tritt. Denn wenn Herbart (Ges. W., V. S. 30) sagt: "Die angenehmen Gefühle im engsten Sinne nebst ihren Gegenteilen [worunter er die rein sinnlichen versteht] müssen betrachtet werden als entspringend aus Vorstellungen, die sich aber nicht einzeln angeben lassen, ja die vielleicht aus physiologischen Gründen gar nicht gesondert können wahrgenommen werden", so liegt hierin einerseits von selbst das Zugeständnis, daß die Anwendbarkeit der Hemmungslehre hier auf einen dunklen Punkt stoße, andrerseits werden physiologische Bedingungen, von denen man abstrahiert sehen möchte, doch zu Hilfe genommen.

            5) Lehrb.. d. Psychol. § 34 ff. und § 95 ff. (ges. W., V. S. 30 ff. u. S. 70 ff.)

    Abgesehen aber hiervon vermöchte ich mich den fundamentalsten Voraussetzungen und Unterlagen der Herbart’schen Hemmungslehre überhaupt nicht zu fügen, indem ich sie mit einer unbefangenen Auffassung und scharfen Analyse der Tatsachen nicht verträglich finden kann.

    Zu solchen Punkten rechne ich :

    1) Daß eine Mehrheit im Bewußtsein unterschiedener Vorstellungen nicht zugleich bestehen kann, also auch von dem, was in räumlicher Ausdehnung zugleich besteht, nur eine Aufeinanderfolge punktueller Vorstellungen möglich ist. — 2) Daß Vorstellungen aus verschiedenen Sinnesgebieten, sog. disparate Vorstellungen, einander abgesehen von ihren Komplexionen nicht zu verdrängen, im Bewußtsein zu beschränken im Stande sind, also z. B. die bei astronomischen Beobachtungen bestehende Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, den Schlag einer Uhr mit dem Durchgang eines Sterns durch den Faden des Fernrohrs gleichzeitig aufzufassen, nur auf Komplikation der Gehörsvorstellung des Uhrschlages mit Vorstellungen aus dem Gebiete der Sichtbarkeit, als wie der Uhr selbst, wenn nicht gar auf Störung von physiologischer Seite her, beruhe. — 3) Daß ungleichartige (nicht disparate) Vorstellungen, welche auf verschiedene Raum- oder Zeitpunkte bezogen, im Bewußtsein zusammentreffen, sich nach Maßgabe ihres Gegensatzes in der Deutlichkeit der Auffassung vielmehr beschränken als kontrastmäßig heben. — 4) Daß die Teilung der Aufmerksamkeit zwischen an sich gleichartigen Vorstellungen, vermöge deren jede minder deutlich aufgefaßt wird, vielmehr auf Ungleichheiten der Lage u. dgl. als auf wirklicher Teilung der auffassenden Kraft beruhe.—5) Daß eine Berücksichtigung physischer (physiologischer) Einflüsse auf das Psychische wohl so weit aber nicht weiter, zugezogen wird, als in unbestimmter Weise auf solche Einflüsse geschoben werden kann, was im reinen Vorstellungsleben zu vorigen Sätzen nicht passen will, ohne dem funktionellen Abhängigkeitsverhältnis zwischen physischer und psychischer Tätigkeit in seiner ganzen Ausdehnung und mit Rücksicht auf die gesamten Erfahrungen gerecht zu werden.

    Daß Herbart mit der formell präzisesten Anwendung, ja Hauptanwendung, die er über-haupt von seiner Hemmungslehre auf ästhetische Verhältnisse gemacht, d. i. auf die musikali-schen Konsonanzen und Dissonanzen 6), Schiffbruch gelitten, wird man kaum mehr in Abrede stellen. Seine auf Exaktheit Anspruch machende Auffassung und Darstellung dieser Verhält-nisse und die diesen Anspruch befriedigende derselben Verhältnisse Seitens Helmholtz sind nämlich völlig disparat, lassen keine Zurückführung auf einander zu, und die Herbart’sche in ihrer wunderlichen Geschraubtheit erscheint dabei so sehr in Nachteil, daß der, übrigens auf Herbart fortbauende, Zimmermann die Auffassung von Herbart gegen die von Helmholtz einfach hat fallen lassen.

            6) Ges. W. II. S. 45. VII. S. 3. 216.

    Nach Allem also halte ich die Frage nach einem allgemeinen Grunde der Lust und Unlust noch nicht erledigt, indem ich die von Anderen darüber aufgestellten Ansichten unzulänglich finde, auch von der Hypothese aber, die ich selbst darüber aufgestellt, die sichere Begründung und klare Durchführbarkeit noch nicht darzutun vermöchte. Immerhin glaube ich, sie einer ferneren Beachtung empfehlen zu dürfen.