XLII. Prinzip der ästhetischen Mitte.

    Wenn ein Gegenstand zufälligen Abänderungen der Größe oder Form für unsere Anschauung unterliegt, so scheint unter sonst gleichen Umständen der mittlere Wert ästhetischerseits bevorzugt, oder erscheint mit dem Charakter vorwiegender Wohlgefälligkeit als Normalwert gegen die übrigen, indes diese nach Maßgabe ihrer Abweichung vom mittleren minder wohlgefällig und bei Überschreitung gewisser Grenzen selbst mißfällig erscheinen können.

    Ich glaube freilich nicht, daß genau das arithmetische Mittel dieser Normalwert sei, sondern der Wert, von dem die Abweichungen um so seltner werden, je größer sie in Verhältnis zu demselben sind, und den ich im 33. Abschn. bei Betrachtung der Gemäldedimensionen als Normalwert ins Auge gefaßt habe; indes läßt sich das nicht sicher beweisen; und in Verhältnis zum ganzen Spielraum der Abweichungen liegen beide (seither überhaupt nicht unterschiedene) Werte immer nahe an einander, ja können bei manchen Gegenständen merklich zusammenfallen. Lassen wir also die praktisch wenig interessierende Frage nach der genauen mathematischen Bestimmtheit des, als ästhetische Mitte zu fassenden, Wertes bei Seite, indem wir nur im Allgemeinen darauf fußen; daß es einen, wenn nicht mit dem arithmetischen Mittel ganz zu identifizierenden, doch nahe daran liegenden Wert gibt, welcher unter sonst gleichen Umständen wohlgefälliger als die davon abweichenden Werte sind.

    Insofern die Werte nach Maßgabe, als sie sich unserem mittleren nähern, auch häufiger werden, mithin sich unserer Anschauung öfter darbieten, fällt dies Prinzip mindestens zum Teil mit dem Prinzip der Gewöhnung zusammen, und es fragt sich selbst, ob es nicht ganz davon abhängig gemacht werden kann. Bei der schwer zu erlangenden vollen Klarheit über das Verhältnis beider Prinzipe, und weil doch das jetzige einen besonders wichtigen und eigentümlichen Hauptfall des Prinzips der Gewöhnung bilden würde, erscheint es jedenfalls angemessen, es auch als ein besonderes hervorzuheben. Namentlich ist es bei Beurteilung der Menschenschönheit wichtig, dabei jedoch folgender Konflikt in Rücksicht zu ziehen.

    Es kann der Fall sein, daß gewisse Vorzüge sich häufiger mit einem Übersteigen oder Untersteigen des mittleren Wertes als mit diesem selbst oder der Annäherung daran assoziieren, und, insofern sich dies in unserer Erfahrung hinreichend geltend macht, knüpft sich auch nach dem Assoziationsprinzip der ästhetische Vorzug vielmehr an das, was über oder unter dem Mittel ist, als an dieses selbst.

    Allgemein scheint auf unser Prinzip zurückgeführt werden zu müssen, daß uns bei jedem Geschlechte eine gewisse Mitte zwischen zu langen und zu kurzen, zu dünnen und zu dicken, zu mageren und zu fetten Formen am besten gefällt, auch der ästhetische Vorzug des griechischen Profils vor dem Profil mit Habichtsnase wie mit Stülpnase darauf zu beruhen.

    Die Größe der Statur insbesondere anlangend, so scheint uns eine gewisse mittlere Größe des erwachsenen Mannes und Weibes im Allgemeinen als die normale, und es gefällt uns eine Person besser, insofern sie diese Größe besitzt, als insofern sie größer oder kleiner ist; nur hat die Abweichung ins Größere insofern einen Vorteil vor der Abweichung ins Kleinere voraus, als wir bei übrigens vorhandner Proportionalität der Form an die große Gestalt auch die Vorstellung einer größeren Kraft oder Leistungsfähigkeit, hiergegen an die kleinere die Vorstellung einer geringeren knüpfen; doch reicht das nicht hin, die riesenhafte Größe eines Menschen wohlgefällig erscheinen zu lassen, weil bei zu weiter Abweichung von der Mitte die Mißfälligkeit aus dem Grunde unseres Prinzips das Übergewicht gewinnt. Inzwischen hindert das nicht, daß wir recht gern einmal einen Riesen wie Zwerg sehen, wenn sich ein solcher sehen läßt, sogar danach laufen, dafür bezahlen, um so mehr, je mehr der eine oder andere von der Normalgröße abweicht, man kann sagen, je häßlicherer dadurch wird, ohne daß man doch einen Widerspruch gegen das Prinzip der ästhetischen Mitte darin sehen kann; denn wir möchten, wie schon früher (Th. I,) gelegentlich geltend gemacht wurde, doch weder die Riesen- noch Zwergesgröße an schönen menschlichen Personen überhaupt sehen, und nach Maßgabe, als sie sich wiederholt, geht der Reiz der Seltenheit und Neuheit verloren, indes wir die mittlere Größe mindestens angenähert an jeder schönen Person wieder verlangen. Das Gefallen an der Riesen- und Zwergesgröße ist in der Tat nur ein Gefallen an der Seltenheit und Neuheit der Größe oder Kleinheit, nicht an dieser selbst.

    So zu sagen die idealen Vorzüge der Menschengestalt verlassen jedoch die Mitte. Ein Gesichtswinkel, welcher sich dem rechten Winkel nähert, gefällt uns besser, als der mittlere unter denen, die wir vor Augen haben. Ein Auge, das größer ist, ein Mund, ein Fuß, die kleiner sind als die mittleren, sind in ästhetischem Vorteil. Aber nicht deshalb, weil sie die Mitte verlassen, sondern nur sofern sie uns Zeichen von einer höheren edleren, feineren, idealeren Konstitution sind, dadurch sind, daß wir gewohnt sind, sie in Verbindung damit zu sehen.