XXXVIII. Prinzipe der Summierung, Übung, Abstumpfung, Gewöhnung, Übersättigung.

    Jeder, also auch ästhetische, Reiz bedarf einer gewissen Dauer der Einwirkung, ehe seine Wirkung überhaupt spürbar wird, was man als einen Erfolg des Gesetzes der Schwelle betrachten kann, sofern die Wirkung des Reizes sich zum Übersteigen der Schwelle erst bis zu gewissen Grenzen summieren und die Empfindlichkeit für seine Aufnahme gestimmt werden muß. Auch nimmt der Eindruck selbst bei kontinuierlich gleich bleibendem Reize bis zu gewissen Grenzen, welche wir als die der aufsteigenden Wirkung bezeichnen können, mit der Dauer der Wirkung zu. Die damit erreichbar höchste Stärke des Eindrucks nennen wir kurz dessen volle Stärke.

    Wird die Einwirkung des Reizes in der Periode des Aufsteigens, also vor Erreichung der vollen Stärke des Eindruckes, unterbrochen, um später von Neuem zu beginnen, so überträgt sich eine Nachwirkung davon auf die zweite Wirkung und verkürzt die Periode des Aufsteigens dabei, falls beide Wirkungen nicht zu weit in der Zeit auseinanderliegen und die Nachwirkung der ersten Wirkung nicht durch zwischenfallende Wirkungen aufgehoben wird.

    In vielen Fällen aber kann sich die Epoche des Aufsteigens der Wirkung in einen so kurzen Moment zusammenziehen, daß gleich der erste Eindruck als der stärkste erscheint; daher man häufig sogar geneigt ist, Frische und Stärke des Eindrucks für solidarisch zu halten, was doch nicht allgemein, und in aller Strenge sogar nirgends, als richtig gelten kann. Denn was auch Gefallen oder Mißfallen durch seine Einwirkung auf uns wecken mag; ein unteilbarer Moment der Einwirkung reicht nicht hin, es in vollem oder nur in merklichem Grade auszulösen. Ja es gibt Fälle, wo es einer längeren Fortsetzung oder öfteren Wiederholung des Reizes oder einer Übung in Auffassung desselben bedarf, um den Eindruck zur vollen Stärke zu bringen.

    Namentlich sind es feinere und höhere Eindrücke, welche uns weder bei ihrer ersten Begegnung noch in den ersten Momenten ihrer Wirkung, wofern nicht hinreichende Übung vorausgegangen ist, am stärksten affizieren, indem die Aufmerksamkeit erst in Bezug darauf gespannt, das Auffassungsvermögen geübt werden muß. Der Begriff der Übung in Auffassung von Eindrücken aber liegt darin, daß durch fortgesetzte oder wiederholte Aufmerksamkeit auf feinere Modifikationen oder höhere Beziehungen in einem gegebenen Gebiete die feinere Auffassung derselben erleichtert wird. Ohne vorausgegangene Übung entgehen daher dem Menschen viele feinere und höhere ästhetische Eindrücke, indes es eine hinlängliche Übung dahin bringen kann, daß der Eindruck selbst sehr feiner Modifikationen und höhere Beziehungen in den ersten Momenten scheinbar unmittelbar zur vollen Stärke gelangt, die er überhaupt zu erlangen vermag.

    Es läßt sich jedoch der ästhetische, gleich viel ob niedere oder höhere, Eindruck durch Verlängerung oder Wiederholung seiner äußern Ursache, kurz des Reizes, nie über gewisse Grenzen steigern. Fährt vielmehr der Reiz nach Eintritt der vollen Stärke seiner Wirkung fort, in derselben oder einer ähnlichen Art einzuwirken oder sich zu wiederholen, und hat sich nicht etwa durch eine längere Zwischenzeit die ursprüngliche Empfänglichkeit merklich wiederhergestellt, so mindert sich der Eindruck, was man als Sache einer Abstumpfung der Empfäng-lichkeit bezeichnet, die um so eher und stärker eintritt, je andauernder und öfter und in je größerer Stärke der Eindruck erfolgt ist.

    Als eine Eigentümlichkeit aber kann man dabei bemerken, daß starke Unlustreize sich durch Dauer oder Wiederholung verhältnismäßig weniger leicht und schnell abstumpfen, als starke Lustreize, obschon eine gewisse mildernde Gewöhnung selbst an erstere einzutreten nicht verfehlt, indes schwache oder mäßige Unlustreize sich eben so wohl, nur im Allgemei-nen in längerer Zeit bis zur Indifferenz abstumpfen können, als äquivalente Lustreize. Über-haupt gehen Unlustreize in der Weise der Befolgung der hier in Betracht kommenden Gesetze den Lustreizen nicht ganz parallel.

    Sei beispielsweise die Unlust eines Zahnschmerzes anfangs nicht größer als die Lust irgend eines sinnlichen Genusses, insoweit eine vergleichende Schätzung überhaupt möglich ist; so ist doch gewiß, daß, wenn der Reiz, der den Zahnschmerz, und der Reiz, der den sinnlichen Genuß verursacht, welcher Art er immer sein mag, gleichmäßig einzuwirken fortfahren, der letzte sich längst abgestumpft oder zur Übersättigung geführt haben wird, während der Zahnschmerz bis zu gewissen Grenzen, je länger er währt, immer unausstehlicher wird, indem sich die Periode der Frische langer erhält. Muß ihn aber der Mensch aushalten, so gewöhnt er sich doch in gewissem Grade so an denselben, daß er ihn besser als früher verträgt, und so bei jedem anderen Unlustreize.

    Man kann fragen, inwiefern Entsprechendes als von sinnlichen auch von höheren Quellen der Lust und Unlust gilt. In einem anmutigen Spiele oder einer ernsthaften, aber fördernden geistigen Beschäftigung kann man doch in Betracht der Wechsel, die sie einschließen, lange mit Lust verharren, ohne daß eine Abstumpfung sehr merklich ist. Sei es aber, daß die Lust in Betreff der leichten Abstumpfung allgemein in Nachteil gegen die Unlust ist; so ist die Unlust gegenteils in Nachteil gegen die Lust dadurch, daß nicht nur alle bewußte Tendenz, sondern selbst die (nach unserem Glauben nur höher als menschlich bewußte) Tendenz, die sich in der Teleologie der Natur verrät, dahin geht, die Quellen der Lust zu erhalten, zu mehren und zur Verhütung der Abstumpfung zu wechseln, hiergegen die der Unlust zu mindern und zu beseitigen. Auf die so schweren allgemeinen Fragen, die sich überhaupt über die Lust- und Unlustökonomie in der Welt aufwerfen lassen, kann hier natürlich nicht näher eingegangen werden.

    Bei einer in Verhältnis zur Dauer hinreichend starken Einwirkung oder in Verhältnis zur Stärke hinreichenden Dauer oder Wiederholung der Wirkung eines Lust- oder Unlustreizes kann die Schwächung der anfänglichen Wirkung selbst bis zum Umschlag in den Gegensatz gehen. Es erfolgt aber ein solcher Umschlag auch weniger leicht bei Unlustreizen als Lustreizen, wo er als Übersättigung oder selbst Ekel bezeichnet wird, ist bei vielen Unlustrei-zen überhaupt nicht zu erzielen; insoweit es aber der der Fall ist, nicht, wie bei Lustreizen, durch Verstärkung über ein gewisses Maß hinaus, sondern Fortsetzung oder Wiederholung in schwachem oder mäßigem Grade erzielbar. Diese Unterschiede im Verhalten von Lust- und Unlustreizen sind als faktisch anzuerkennen, indes eine bestimmte Erklärung derselben un-streitig nur aus einer genaueren Erkenntnis der psychophysischen Grundbedingung der Lust und Unlust und Einrichtung unserer Organe bezüglich darauf hervorgehen könnte, als uns zu Gebote steht.

    Daß durch noch so große Verstärkung, noch so lange Fortdauer, noch so häufige Wiederholung der Ursache, welche einen Zahnschmerz hervorruft, oder dem Menschen die Unlust einer Sorge bereitet, die Unlustwirkung derselben sich je in eine Lustwirkung verkehren könne, wird nicht anzunehmen sein, doch fehlt es nicht ganz an Beispielen des Umschlages auch bei Unlustquellen. Das Tabakrauchen macht Jedem Anfangs Unlust; nach öfterer Wiederholung macht es Lust. Die Bitterkeit des Bieres mißbehagt den meisten Kindern, nach öfterem Trinken kann sie zur Annehmlichkeit des Biergenusses beitragen. Der Pechgeschmack, den der Wein in Griechenland durch Aufbewahrung in gepichten Schläuchen annimmt, widert beim ersten Trinken einen Jeden an, wird hiergegen von dem daran Gewöhnten mit Unlust vermißt.

    Man darf daraus, daß ein Reiz durch verlängerte Einwirkung seinen Eindruck ändert, nicht schließen, daß die durch den Reiz in uns ausgelöste Grundursache der Lust und Unlust, welcher Art sie auch sei, ihren Wert für die Empfindung durch ihre Dauer ändere, sondern vielmehr, daß sie sich selbst ändert, indem sie durch einen dauernden konstanten Reiz doch in abnehmender Stärke ausgelöst wird, wonach das, hier in Bezug auf die Reize als äußere Ursachen der Lust und Unlust ausgesprochene Gesetz nicht auf die letzte Grundursache derselben als übertragbar angesehen werden kann.

    Bei jeder Unterbrechung der Dauer einer Einwirkung stellt sich die ursprüngliche Empfänglichkeit ganz oder teilweise wieder her, oder tritt in ein früheres Stadium zurück; und insofern wiederholte Einwirkungen Unterbrechungen voraussetzen, wird auch jede neue Einwirkung einem bis zu gewissem Grade aufgefrischten Empfänglichkeitszustande begeg-nen, der jedoch bei relativ rasch wiederholter Einwirkung nie in das Stadium der ersten Frische zurückführt.

    Nach Maßgabe als ein Lustreiz länger fortwirkt oder öfter wiederholt eintritt, ohne bis zur Übersättigung zu gedeihen, und nach Maßgabe als der Punkt der Übersättigung noch ferne liegt, macht sich ein Bedürfnis der ferneren Fortsetzung oder ferneren Wiederholung in der Art geltend, daß eine Unlust entsteht, wenn die Fortwirkung unterbrochen, oder die Wiederholung seltener oder gar nicht erfolgt, ohne daß doch die Fortsetzung oder Wiederholung dieselbe Lustwirkung als im Zustande der Frische äußert, was so weit gehen kann, daß sie nur noch zureicht, den Eintritt der Unlust zu verhüten, ohne positive Lust zu schaffen. Nach Maßgabe anderseits als ein Unlustreiz länger fortdauert oder sich öfter wiederholt, ohne bis zum Punkte des Umschlages zu gedeihen, tritt der Erfolg ein, daß schon der Wegfall des Unlustreizes hinreicht, positive Lust zu wecken, indes die Wirkung desselben keine gleich starke Unlust als anfangs hervorruft oder selbst bis zur Indifferenz abgestumpft sein kann. Diese beiden Erfolge, daß ein Lustreiz durch öftere Einwirkung oder Wiederholung in angegebener Weise zum Bedürfnis wird, und daß ein Unlustreiz dadurch leichter erträglich wird, befaßt man gemeinsam unter dem Ausdrucke der Gewöhnung an den Reiz. Doch kann Gewöhnung in einer weiteren Bedeutung auch an Reize, die von vorn herein indifferent sind, in der Art statt finden, daß eine Fortsetzung oder Wiederholung derselben sie zum Bedürfnis werden läßt, indem sich der Organismus allmälig darauf einrichtet.

    An unzählige Genüsse und Bequemlichkeiten, die, zuerst geboten, uns positive Annehmlichkeit gewährten, gewöhnen wir uns in der Weise, daß wir sie mit Unlust vermissen, wenn sie uns fehlen, ohne daß ihr Dasein doch positive Lust gewährt; wie umgekehrt an manche erst als unangenehm empfundene Einflüsse, als z. B. den Aufenthalt in schlechter Luft, in der Weise, daß wir die Unannehmlichkeit nicht mehr empfinden, es aber mit Lust empfinden, wenn wir einmal in bessere Verhältnisse, bessere Luft, kommen.

    Wenn die Einwirkung eines Lustreizes bis zur Übersättigung gedeiht, so tritt die Wirkung der Gewöhnung, ein Bedürfnis der Fortsetzung oder Wiederholung mitzuführen, nicht nur nicht ein, sondern es kann auch selbst eine schon eingetretene Gewöhnung dadurch zeitweise oder dauernd aufgehoben werden. Wonach ein sichereres Mittel, die Gewöhnung an einen Lustreiz zu hindern oder eine vorhandene aufzuheben, darin liegt, daß man den Reiz übertreibt, als daß man ihn entzieht, nur daß die Übertreibung oft nicht ohne dauernde Nachteile geschehen kann, und nicht überall vor einem späteren Wiedererwachen der älteren Gewöh-nung schützt.

    Bekanntlich bedienen sich die Konditoren zur Verhütung fortgesetzter Näschereien ihrer Lehrlinge des Mittels, ihrem Appetit von vorn herein freien Lauf zu lassen, wo es dann nicht fehlt, daß dieselben durch Übersättigung mit den Süßigkeiten bald einen Ekel davor bekommen.

    Auch der ausgepichte Trinker wird im Zustande des sog. Katzenjammers das Trinken verwünschen, und es nachher längere Zeit unterlassen, als er es sonst unterlassen haben würde, nur daß in diesem Falle die alte Gewöhnung über kurz oder lang wieder in ihre Rechte einzutreten pflegt.

    Ganze Zeiten können sich an eine Mode oder einen Kunststil so gewöhnen, daß sie nichts gestatten, was nicht im Sinne desselben ist, und endlich durch Übertreibung so davon übersättigt werden, daß sie in die Neigung zum Entgegengesetztesten verfallen.

    Bei Unlustreizen kann nach Eintritt des Umschlagpunktes, wo ein solcher überhaupt zu erzielen ist, eine neue Gewöhnung an den Reiz als an einen Lustreiz und durch Übersättigung ein neuer Umschlag eintreten.

    So bringt das Tabakrauchen erst Unlust hervor. Bei öfterer Wiederholung kann statt dessen durch Überschreiten des Umschlagspunktes Lust eintreten; dann kann man sich daran gewöhnen, daß man vom Rauchen selbst keine oder nur eine sehr verminderte Lust, vom Fehlen des Rauchens aber eine starke Unlust empfindet. Wollte man aber die Stärke und Dauer des Rauchens übertreiben, so würde ein neuer Umschlagspunkt eintreten.

    An den Aufenthalt in schlechter Luft kann man sich bemerktermaßen erst so gewöhnen, daß man ihre Unannehmlichkeit minder, den Eintritt in bessere Luft aber kontrastmäßig noch wohlgefälliger als ohne jenen vorgängigen Aufenthalt empfindet. Sehr langer Aufenthalt in mäßig schlechter Luft aber kann durch Überschreiten des Umschlagspunktes auch zu einer solchen Gewöhnung daran führen, daß wir den Wegfall der schlechten Luft unangenehm spüren, wie denn Manche sich so an eingesperrte Stubenluft gewöhnt haben, daß sie jedes Offnen der Fenster scheuen; sollte aber die üble Beschaffenheit der Luft gewisse Grenzen überschreiten, so würde doch das Fenster lieber geöffnet werden.

    Insofern ein Gegenstand zugleich niedere und höhere ästhetische Eindrücke zu erwecken vermag, wie dies im Allgemeinen von Kunstgegenständen gilt, gehen die Verhältnisse der Übung. Abstumpfung, Gewöhnung, Übersättigung bezüglich beider einander nicht notwendig parallel, stehen vielmehr häufig, doch nicht notwendig, in Antagonismus; es soll aber in eine Kasuistik in dieser Hinsicht hier nicht näher eingegangen werden.

    Insofern wir nicht bloß rezeptiv (durch Einwirkung von Reizen), sondern auch selbsttätig aktiv lustvoll oder unlustvoll beschäftigt sein können, übertragen sich die vorigen, bezüglich der ersten Art von ästhetischer Beschäftigung erörterten, Gesetze auf die zweite.

    Die ästhetische Gewöhnung und Übung spielt in allen ihren Stadien eine außerordentlich wichtige Rolle bei der niederen wie höheren Geschmacksbildung des Menschen, und insofern es Gewöhnungen und Übungen gibt, welche ganze Zeiten und Völker im Zusammenhange betreffen, wird auch der Geschmack derselben im Zusammenhange dadurch bestimmt. Hierüber aber ist schon früher (im XVIII. Abschnitt) gehandelt.