XXIII. Über die Größe von Kunstwerken, insbesondere Gemälden,
aus ästhetischem Gesichtspunkte.

    An jedem Kunstwerke kann man so zu sagen eine äußere und innere Größe unterscheiden. Die äußere ist leicht, äußerlich gemessen, die innere ist durch den Umfang, die Höhe und Tragweite der Vorstellungen und Gefühle, die durch den Inhalt des Kunstwerkes ins Spiel gesetzt werden, als bestimmt anzusehen, und für die gesamte lebendige Wirkung hiervon, wir wollen sie die Bedeutung des Inhaltes oder Bedeutung schlechthin nennen, haben wir wenigstens einen ungefähren inneren Maßstab. Jeder wird zugestehen, daß durchschnittlich, — und um Durchschnittliches soll es sich hier hauptsächlich handeln, — die Bedeutung des Inhaltes religiöser Bilder größer als die von weltlich historischen Bildern, und wieder die Bedeutung weltlich historischer Bilder größer als die von Genrebildern ist. Auch wird man innerhalb jeder dieser Klassen leicht Unterschiede der Bedeutung zwischen verschiedenen Bildern machen, oft freilich auch über die Rangordnung in Zweifel bleiben können; aber wir halten uns an Fälle, wo wir nicht in Zweifel sind.

    Im Allgemeinen nun verlangt das Stilgefühl, die äußere Größe eines Kunstwerkes der inneren anzupassen, daher die Kolossalität von Kunstwerken, die eine erhabene Bedeutung haben, gegenüber den genrehaften Darstellungen von wenigen Quadratfußen. Vielerlei, namentlich äußere, Motive können freilich Ausnahmen hiervon bewirken, aber es müssen eben besondere Motive zur Ausnahme da sein, und es wird in jedem Falle nach diesen Motiven zu fragen sein; sonst hat die Regel einzutreten, und im Durchschnitt, im Ganzen und Großen bleibt sie gültig. Unter Anpassung der äußern Größe an die innere kann freilich nicht Proportionalität damit, sondern nur Einhaltung gleicher Rangordnung verstanden sein. Denn nach den Grenzen der äußern Größe und Kleinheit zu, welche von Kunstwerken wegen äußerer Bedingungen nicht überschritten werden können, ändert sich die äußere Größe langsamer als die innere oder Bedeutung. Ein religiöses Bild, welches das jüngste Gericht vorstellt, hat unsäglich größere Bedeutung als ein Genrebild, was eine Schenkenszene darstellt; aber es ist deshalb nicht unsäglich größer; es ist nur überhaupt viel größer oder verdient es doch zu sein.

    Was wir hier die innere Größe oder Bedeutung eines Kunstwerkes nur der Kürze halber in dem oben erklärten Sinne nennen, fällt noch gar nicht mit dem qualitativen Werte oder der artistischen Bedeutung desselben zusammen, weshalb auch Wert und äußere Größe sich nicht wesentlich bedingen. Ein sehr kleines und mit Recht klein gehaltenes Bild kann doch ein Juwel sein. Ein Genrebild kann uns durch Gemütlichkeit, friedliches Behagen in hohem Grade ansprechen, ein interessantes Vorstellungsspiel von beschränkter Tragweite anregen, dazu in der Charakteristik und technischen Ausführung vollendet sein, und durch eine Verbindung solcher Vorzüge einen großen Wert, eine große artistische Bedeutung erlangen; aber den Anspruch auf äußere Größe gewinnt es mit all’ dem noch nicht, weil es mit all’ dem noch nicht den Charakter innerer Größe oder Bedeutung im obigen Sinne trägt.

    Setzen wir z. B. den Huss vor dem Scheiterhaufen von Lessing und die goldene Hochzeit von Knaus einander gegenüber. Niemand wird zweifelhaft sein, daß ersteres Bild einen weit bedeutenderen Inhalt hat, als letzteres. Jenes stellt eine Katastrophe dar, an die sich der Gedanke der Reformation mit allen ihren Gründen und Folgen knüpft, dieses einen festlichen Gipfelpunkt in einem beschränkten Leben. Aber ob jenes mehr artistischen Wert hat, als dieses, darüber wird man sei es streiten, oder sich dahin äußern können, daß die Vorzüge beider Bilder wegen ihrer Ungleichartigkeit einen quantitativen Vergleich ausschließen. Nichtsdestoweniger wird man die gewaltige Größe des ersten Bildes für die Größe seines Inhaltes ganz angemessen finden, ja besorgen können, daß es bei Darstellung in einem verkleinerten Maßstabe sich dem Eindrucke eines Genrebildes zu nähern anfange, wogegen die goldene Hochzeit, im Maßstabe des Hussbildes ausgeführt, uns einen Teil des idyllischen Charakters, der so viel zum Reize des Bildes beiträgt, zu verlieren scheinen würde.

    Der Grund unserer Stil-Regel dürfte ein doppelter sein. Einmal tritt wegen der durchgreifenden Wechselbestimmtheit aller Momente des Geistes die äußere Größe direkt als mitbestimmender Faktor für den Eindruck der innern auf, und steigert ihn dadurch. Soll nun das Kunstwerk seinem Inhalte nach einen über das Gewöhnliche erhabenen Eindruck machen, so wird derselbe durch eine das Gewöhnliche übersteigende äußere Größe nach diesem Prinzipe unterstützt. Soll es keinen machen, sondern aus anderem Gesichtspunkte befriedigen — und verschiedener Momente in dieser Hinsicht haben wir oben gedacht — so erscheint uns die Bedeutung seines Inhaltes durch die ungewöhnliche äußere Größe unangemessen übertrieben. Bemerken wir dazu, daß die Kunst eines äußeren stilistischen Hilfsmittels, den Grad innerer Bedeutung eines Gegenstandes zur angemessenen Geltung zu bringen, viel mehr als die Natur bedarf, weil sie nicht wie diese die ganzen Präzedentien, die ganze Umgebung und das ganze Leben des Gegenstandes mitgeben kann, welche uns diese Bedeutung verraten. Die äußere Größe tritt also so zu sagen als symbolisches Substitut dafür ein, und scheut sich sogar dabei nicht, die Naturwahrheit aufs Gröbste zu verletzen, indem sie die Figuren und sonstigen Bestandstücke ihrer Werke bald weit über bald weit unter ihrem Naturmaße darstellt.

    »"Es gibt, sagt einmal F. Kugler 1), Gegenstände so großartigen, hochtragischen Inhaltes, daß sie die volle Gewalt und Erhabenheit ihrer Existenz nur in einem gleich großartigen Maßstabe aussprechen können." Er sagt es, indem er den so viel mächtigeren Eindruck, den Kaulbachs Hunnenschlacht, im Großen für die Gallerie des Grafen Raczynski ausgeführt, macht, mit dem vergleicht, welchen der frühere kleinere Cartoon desselben Bildes machte. Bei Modellen erhabener Bauwerke kann sogar der Eindruck der Erhabenheit merklich ganz verloren gehen.

1) Kuglers Museum. 5. Jahrg. no. 40.
 
 
    Zum vorigen inneren Grunde aber tritt ein äußerer. Bildern von bedeutendem Inhalt gönnen wir einen Raum und dürfen denselben einen solchen gönnen, den wir Bildern von unbedeutendem Inhalt nicht eben so gönnen noch gönnen sollen. Jedes Kunstwerk hat sich um seinen Raum mit anderen Kunstwerken und anderen Gegenständen überhaupt zu streiten oder vielmehr zu vertragen. Nimmt es bei geringer Bedeutung seines Inhaltes einen großen Raum in Anspruch, so beschleicht uns sofort das Gefühl der Unangemessenheit dieses Anspruches; wir finden die Bedeutung des Inhaltes durch seinen Umfang übertrieben. Ein Viehstück; eine Schenkenszene soll keine ganze Wand einnehmen, weil die Beschäftigung mit dem, was es vorstellt, keine große Bedeutung in unserem Leben einnimmt. Bilder von bedeutendem Inhalt, religiöse oder historische in großem Stil, sind eigentlich auch nur für Tempel, Hallen, öffentliche Gebäude, kurz große Räume bestimmt, Bilder von unbedeutendem Inhalt, worin Szenen eines beschränkten Lebens und von beschränktem Interesse dargestellt sind, für Privatwohnungen; da haben sie den Raum an den Wänden teils mit anderen Bildern von gleich beschränktem, nur anders gerichteten, Interesse, teils mit häuslichen Gegenständen verschiedener Art zu teilen. Es gehört aber zur Schicklichkeit eines Bildes wie eines Menschen, keine größeren äußeren Ansprüche zu machen, als ihm nach seinem Verhältnisse zu Anderen gebührt, und man darf von einem Bilde viel eigentlicher als von einem Menschen sagen: es soll sich nicht zu breit machen. Daß mit der Größe eines Kunstwerkes auch die Größe der zu seiner Herstellung zu verwendenden Mittel wächst, trägt bei, diese Rücksicht, die ich kurz die Schicklichkeitsrücksicht nennen will, zu verstärken.

    Indem wir nun überhaupt gewohnt sind, nur auf Darstellung bedeutender Gegenstände großen Raum und große Mittel, die mit dem Raume in Verhältnis wachsen, verwandt zu sehen, kommt uns auch das Gefühl, es handle sich um einen solchen, unwillkürlich bei einem kolossalen Kunstgegenstande, und kann durch seine Einstimmung oder seinen Widerspruch mit der wirklichen Bedeutung des Inhaltes unser Gefallen steigern oder Mißfallen erwecken.

    Sehen wir näher zu, so haben freilich nicht alle Bilder von bedeutendem Inhalt wirklich die demselben angemessen scheinende Größe. So lange wir nun ein solches Bild direkt betrachten, sind wir durch den sinnlichen Augenschein gebunden, und eine haltbare Erinnerung wird den Eindruck davon nahe genau reproduzieren; aber, wenn die Erinnerung in dieser Hinsicht nicht treu ist, wird sie geneigt sein, das kleine Werk von bedeutendem Inhalt vergrößert vorzustellen. Mehr als einmal habe ich dies namentlich von dem, wohl keinen Quadratfuß überschreitenden, Gesicht des Ezechiels von Raphael erwähnen hören; und noch jüngst fand ich in einer Besprechung der Bilder der Kasseler Gallerie 2) über ein Bildchen von Rubens, eine Flucht nach Ägypten in großartigster Auffassung darstellend, gesagt: "diese Tafel von kaum 1 ½ Fuß im Geviert wächst gleichsam vor unseren Blicken zum Wandbild, so mächtig und voll Majestät sind die Gestalten." Hier wird der vergrößernde Einfluß des Inhalts sogar von der direkten Anschauung ausgesagt.

2) Berliner Zeit. 1866. no. 234 (Beil.).
 
 
    Ich selbst kannte früher Raphaels vatikanische Schöpfungsgeschichte nur aus einem Kupferstichwerke, und war nach der erhabenen Vorstellung, die ich mir hiernach davon gebildet hatte, ganz erstaunt, als ich nach Rom kam, dafür kleine Bildchen an der Decke der Loggien zu sehen; bin auch überzeugt, daß dieser Nachtheil der äußeren Größe sehr wesentlich zu der wohl allgemeinen Unterschätzung der Raphael’schen gegen die Michelangelo’sche Schöpfungsgeschichte beiträgt.

    Auch das sog. Schwartzs’che Votivbild des älteren Holbein stellte ich mir auf Grund einer Fotografie nach seiner großartigen Komposition als mit lebensgroßen Figuren vor, und fand später zu meiner Verwunderung ein Bild in genreartigem Formate.

    Unstreitig nun beweist der Umstand selbst, daß den hier angeführten kleinen Bildern der Verlust der Größe in der Vorstellung so zu sagen wiedererstattet wird, daß sie eigentlich größer zu sein verdienten.

    Im Allgemeinen aber wird man es begreiflich finden, daß bei Herstellung von Kunstwerken leichter und öfter ins zu Kleine als zu Große gefehlt wird. In der Tat haben wir unzählige Darstellungen der erhabensten Gegenstande im Kleinen, und wo die Darstellung im Original groß ist, gibt doch der Stich sie klein wieder; wogegen kolossale Darstellungen genrehafter Vorwürfe kaum vorkommen. Auch werden wir von verhältnismäßig zu kleiner Darstellung bedeutender Gegenstände, wenn schon sie nicht den vollen Eindruck der größeren Darstellung gewähren können, wenigstens nicht verletzt, indes wir allerdings von der Kolossalität einer genrehaften Darstellung verletzt würden. Der Fehler ins zu Kleine wird nämlich durch einen mit der Kleinheit wachsenden äußeren Vorteil entschuldigt und mehr oder weniger vergütet, der Fehler ins zu Große durch einen mit der Größe wachsenden Nachteil gesteigert. Mit wachsender Kleinheit nimmt die Leichtigkeit und Billigkeit, der Herstellung und Vervielfältigung und die Geringfügigkeit des Raumanspruches zu, mit wachsender Größe findet das Gegenteil statt. Da nun aus diesem äußeren Grunde überhaupt Gegenstände von bedeutendem Inhalte viel öfter klein, als solche von unbedeutendem Inhalte groß dargestellt werden, so gewöhnt man sich auch leichter, jene Unangemessenheit, als diese zu ertragen und durch die Vorstellung zu korrigieren. Immerhin aber bleibt es wahr, daß ein Kunstwerk, was seinem Inhalte nach groß zu sein verdiente, in verkleinerter Darstellung wesentlich vom Eindrucke der Erhabenheit verliert, den es bei vergrößerter machen würde, und zur vollen Entwicklung des vorteilhaftesten Eindruckes, den es überhaupt zu machen vermag, nur durch eine angemessene Größe gelangt.

    Irgendwo findet sich obenhin der Satz ausgesprochen, ein Genrebild dürfe nicht über 4 Quadratfuß Fläche enthalten 3). In einer darüber gepflogenen Unterhaltung wandte Jemand hiergegen die so viel größeren Murillo’schen Bettelbubenbilder ein. Worauf ein Anderer erwiderte, ja, das seien auch Bettelbuben von historischem Charakter. Offenbar aber machte er den Charakter der Größe, welchen historische Bilder sonst in Anspruch nehmen, hier rückwärts zum Charakter des Historischen, denn ich wüßte nicht, warum man jene Bilder sonst mehr historisch nennen sollte, als so viele andere alte Genrebilder von kleinerem Formate, und wenn in jenem Gespräch auch der bräunliche Ton derselben diesem Charakter entsprechend gefunden wurde, so dürfte man doch schwerlich den Charakter des Historischen überhaupt an solche Äußerlichkeiten knüpfen. Nun aber fragt sich allerdings, weshalb man hier die lebensgroßen Figuren nicht ebenso zu groß findet, als man sie in vielen anderen Genrebildern finden würde. Ein Dritter suchte diese Frage so zu beantworten.

            3) Am Schlusse dieses Abschnittes folgen genauere Bestimmungen,. die hiefür substituiert werden können.

    Sollten wir nicht die Größe der Murillo’schen Bettelbubenbilder bloß deswegen dulden, weil wir sie von jeher da zu finden gewohnt sind? Alten Meistern sieht man Manches nach, was man neueren nicht nachsehen würde; und die Gewöhnung läßt uns leicht als recht erscheinen, was an sich keine Berechtigung hat. Hätte ein neuerer Meister dieselben lausigen Bettelbuben in solcher Größe gemalt, als Murillo, so würde man das vielleicht als einen groben Mangel an Gefühl für Angemessenheit und Schicklichkeit getadelt haben, was man jetzt bei ihm ganz in der Ordnung findet, und wofür man tiefere Gründe sucht.

    Möglich, daß diese Auffassung das Rechte trifft; doch könnte der Grund noch etwas anders liegen oder wenigstens ein anderer Grund mit Anteil haben, der überhaupt einen Konflikt bedingt.

    Die Murillo’schen Bilder mit den Bettelbuben nehmen bei voller Lebensgröße der Buben doch noch keinen großen Raum ein, weil es eben Buben sind und der Buben auf einem Bilde immer nur einer oder wenige sind. Selbst in dieser mäßigen Größe aber möchten wir diese Bilder nur in einer Gallerie aufgestellt sehen, wo der Platz, den sie einnehmen dürfen, in keiner gleich wichtigen Abhängigkeit von der Bedeutung ihres Inhaltes steht, als wenn sie an den Wänden einer Privatwohnung Platz finden sollten. Wer möchte da Bettelbubenszenen immer in solcher Ausdehnung vor Augen haben. Zugleich aber macht sich folgende Rücksicht geltend, welche zwar gemeinhin von der Schicklichkeitsrücksicht überwogen wird, doch da, wo sich diese, wie bei Galleriegemälden, nicht zu stark geltend macht, auch wohl einmal das Übergewicht gewinnen kann.

    In Genrebildern ist es hauptsächlich auf treffendste Charakteristik abgesehen, und der Haupteindruck hängt großenteils davon ab. Also wird es, alles Übrige gleich gesetzt, für diesen Eindruck am vorteilhaftesten sein, wenn mit allen anderen Elementen der Wirklichkeit auch die Größe der Gegenstände genau getroffen ist. Ein Betteljunge von halber Größe im Bilde wird uns so zu sagen nur halb als der wirkliche Betteljunge erscheinen, als welcher er uns bei voller Größe erscheint und wird fordern, daß wir ihn in der Vorstellung erst in die wirkliche Größe übersetzen, wovon die Unmittelbarkeit des Eindruckes immerhin etwas leidet. Mithin kommt die Größe den Bettelbubenbildern insofern zu statten, als sie ohne zu starken Widerspruch mit der Schicklichkeitsrücksicht gestattet, die Buben in ihrer natürlichen Größe zu geben, indes wir es unerträglich finden würden, wenn sie nur eine Spur über die voraussetzliche Naturgröße übertrieben würden, da hier der Eindruck der Unnatur mit dem der Unschicklichkeit in gleicher Richtung zusammenträfe.

    Anstatt also die Größe der Murillo’schen Bettelbubenbilder durch ihren historischen Charakter zu erklären, möchte ich sie vielmehr aus gerade entgegengesetztem Gesichtspunkte dadurch erklären, daß der natürliche Anspruch des genrehaften Charakters, die Gegenstände aus dem Leben gegriffen in möglichster Naturwahrheit darzustellen, hier zum Übergewicht der Geltung gekommen ist, während in der Regel eine Zucht der Schicklichkeit jenen Anspruch beschränkt und überwiegt.

    Namentlich wird eine Tendenz zur natürlichen Größe der Figuren da statt finden, wo es weniger die Weise ihres Zusammenspiels als die charakteristische Darstellung der Figuren selbst ist, was uns interessiert, wie dies in der Tat im Allgemeinen bei jenen Murillo’schen Bildern der Fall ist.

    Überall, wo Vorteile in wechselndem Verhältnisse mit einander in Konflikt kommen, pflegt in gewissen Fällen der eine Vorteil den anderen merklich ganz zurückzudrängen; also wird es auch Bilder geben dürfen, die so zu sagen den Vorteil der Naturwahrheit zu erschöpfen suchen, und durch die Vollendung, in der sie dies erreichen, die sonst geltenden Schicklichkeitsansprüche überbieten. Immerhin werden solche Bilder, als an einem Extrem stehend, wie alle Extreme nur Ausnahmen bilden dürfen.

    Der vorige Gesichtspunkt erklärt noch eine andere scheinbare Anomalie. Wenn man die durchschnittliche Größe der Stilleben, einschließlich Blumen- und Fruchtstücke, mit der durchschnittlichen Größe der Genrebilder vergleicht, so findet man erstere nicht nur nicht kleiner, sondern sogar etwas größer, wie man sich aus den, im letzten, dem Anhangsabschnitte, in Tabelle III gegebenen Durchschnittsmaßen der Höhe und Breite von Bildern verschiedener Klassen überzeugen kann; indes man doch nicht in Zweifel sein wird, daß Genrebilder einen bedeutenderen Inhalt haben, als Stilleben. Aber die Forderung einer naturwahren Wiedergabe der Größe tritt bei den Gegenständen der Stilleben mit noch ganz anderem Gewichte auf, als bei denen der Genrebilder. Eine Weintraube, eine Pfirsich, ein geschlachteter Hase, ein Weinkelch in halber Naturgröße dargestellt, würden uns im Bilde leicht einen ähnlichen Eindruck des Zwerghaften oder Verbutteten machen, als in der Natur. Der Reiz solcher Darstellungen hängt vielmehr ganz wesentlich daran, daß der Künstler so zu sagen die Natur selbst in einem nur anmutigen Arrangement und in schöneren Exemplaren als die Wirklichkeit zu zeigen pflegt, zur Anschauung bringt, und es besteht sogar ein Gesichtspunkt der Idealisierung darin, die Blumen und Früchte, wenn auch nicht widernatürlich groß, aber in ungewöhnlich großen Exemplaren darzustellen. Nun müssen die Bilder aber auch, — falls wir überhaupt solche Darstellungen haben wollen — die Größe erhalten, welche zur Aufnahme einer reichlichen Naturgröße und zugleich zu einer gewissen Vervielfältigung der Gegenstände nötig ist, weil sie nur mit Rücksicht auf eine gewisse Mannigfaltigkeit und Zusammenstellung interessieren; und hierdurch werden sie durchschnittlich über die Genrebilder hinaufgetrieben, bei denen das Interesse an dem geistigen Inhalt der Szene und Charakter der Personen unabhängig von der natürlichen Größendarstellung befriedigt werden kann.

    Porträts macht man bekanntlich entweder genau in natürlicher Größe oder beträchtlich unter derselben; nur bei monumentaler Darstellung nicht selten kolossal, nicht gern jedenfalls von einer der Natur sich annähernden Größe. Unstreitig nun macht sich bei Porträts das Interesse an einer getreuen Wiedergabe der Naturgröße von gewisser Seite noch mit größerem Gewichte geltend, als bei den Gegenständen der Stilleben; wir wollen den Menschen im Porträt haben, wie er leibte und lebte; also tritt die Naturgröße überall als Normalgröße für Porträts auf; von anderer Seite aber ist in Verhältnis zu dem Charakter und Ausdruck der Züge die absolute Größe ein so unbedeutendes Moment, daß wir sie der Möglichkeit, jenen getreu aufbewahrt zu sehen, leicht opfern, und daher keinen Anstand nehmen, Porträts in kleinerem Maßstabe, selbst in Miniatur, darzustellen, wo äußere Gründe der Wiedergabe in richtiger Größe entgegenstehen; während wir, wenn bei Stilleben dasselbe Opfer gebracht werden sollte, nicht genug Interesse mehr an der ganzen Darstellung übrig behalten würden, um solche überhaupt noch zu wollen.

    Daß bei monumentaler Darstellung eine Vergrößerung der natürlichen Dimensionen dienen kann, die Bedeutung eines Mannes so zu sagen sinnlich auszuprägen, bedarf keiner Ausführung. Daß man aber ein Porträt lieber viel kleiner als angenähert zur natürlichen Größe darstellt, hat den Grund, daß die angenäherte Größe mit der wirklichen Größe verwechselt werden könnte.

    Bei Landschaften ist von vorn herein selbstverständlich, daß auf die Darstellung ihrer Naturgröße verzichtet werden muß, und man sollte hier den Maßstab der inneren Bedeutung auch am reinsten anwendbar zur Bestimmung der äußern Größe halten; aber es ist überhaupt schwer, den Maßstab der Bedeutung hier vergleichbar anzulegen; indem die Weise wie der landschaftliche Eindruck zu Stande kommt, wenig vergleichbar mit dem von anderen Kunstwerken ist. Immerhin kann man es für den ersten Anblick auffallend finden, daß (nach den Ergebnissen des Anhangs-Abschnittes) durchschnittlich die Landschaft etwas größer als das Genrebild ist; denn man kann doch nicht umhin, das Interesse am Menschlichen für bedeutender zu halten, als an der äußern Natur. Aber wieder gibt es hier einen Konflikt. Die Landschaft bedarf allgemeingesprochen einer großen Ausbreitung von Gegenständen, um überhaupt einen Eindruck zu machen; ein Genrebild kann sich durchschnittlich mehr ins Kurze ziehen.

    Dies sind Beispiele, wie die Regel, die verhältnismäßige Größe der Bilder ihrer verhältnismäßigen Bedeutung anzupassen, durch manche äußere und innere Ursachen Ausnahmen erleiden kann; indes sie immer insoweit bestehen bleibt, als Gründe zu solchen Ausnahmen nicht bestehen.

    Manche Klassen von Bildern sind geneigt sich vielmehr nach der Höhe, andere sich mehr nach der Breite zu strecken; manche schwanken in weiten Grenzen um ihre mittleren Werte; manche in engeren; woran sich wohl noch weitere Betrachtungen knüpfen ließen, auf die ich doch nicht eingehen will, sofern sie nur lose mit dem ästhetischen Interesse zusammenhängen, indes man eine Unterlage dazu in den Maßbestimmungen der Galleriegemälde, welche im letzten, dem Anhangsabschnitte, mitgeteilt sind, finden kann, aus dem ich jedoch hier ein paar Resultate vorwegnehmen will.

    Unstreitig läßt sich bei keiner Bilderklasse von einer einzigen bestimmten Normal-Höhe und -Breite der Bilder in dem Sinne sprechen, daß Abweichungen davon als Fehler zu betrachten wären, da vielmehr die spezialen und wechselnden Bedingungen des Inhalts und der äußeren Umstände verschiedene und wechselnde Größen nach einer wie der anderen Richtung fordern. Allerdings aber läßt sich von einer Normalhöhe und Breite der Bilder gegebener Klassen, wie von Genre, Landschaft, Stillleben, (die ich vorzugsweise untersucht habe), in folgendem Sinne sprechen. Sofern ich dabei Bilder, deren Höhe h größer als die Breite b, und Bilder, deren Breite größer als die Höhe ist, als zwei Abteilungen einer jeden Klasse werde zu unterscheiden finden, sollen erstere mit h > b, letztere mit b > h bezeichnet werden.

    Die im Anhangs-Abschnitt zu besprechenden Untersuchungen haben zu dem Ergebnis geführt, daß es für Bilder einer gegebenen Klasse und Abteilung eine (weder mit dem arithmetischen Mittel noch Verhältnismittel übereinkommende) bestimmte Höhe und Breite gibt, von der man sich so zu sagen um so mehr scheut abzuweichen, in je größerem Verhältnisse dazu die Abweichung geschehen soll, kurz und tatsächlich, in Bezug zu welcher die Abweichungen um so seltner werden, je größer sie im Verhältnis dazu sind, so daß selbst eine Berechnung möglich ist, wie mit der Entfernung davon die Häufigkeit der Exemplare abnimmt. In der Anhangs-Abhandlung habe ich diesen für die Bestimmung der ganzen Verteilung der Exemplare nach Zahl und Maß wichtigsten Wert, so sagen Herzpunkt der Verteilung, allgemein als dichtesten Verhältniswert mit D' bezeichnet, hier mag er für die Höhenrichtung mit H, für die Breitenrichtung mit B bezeichnet werden. Unten folgt eine kleine Tabelle von Bestimmungen darüber für Genre und Landschaft.

    Weiter hat sich gefunden, daß die Zahl der Exemplare, die ins Kleinere, kurz nach Unten, von dem so verstandenen Normalwerte der Höhe oder Breite abweichen, nicht gleich mit der Zahl derer ist, welche ins Größere, kurz nach Oben davon abweichen, ja bei Genre und Landschaft überwiegt die Zahl der letzteren in sehr starkem Verhältnis die der ersteren, indes bei Stilleben ein schwächeres Übergewicht in umgekehrtem Sinne statt findet. (In Tab. X des Anhangs-Abschnittes sind beide Zahlen als d,und d' angegeben.) Nennen wir nun das untere und obere Maß, bis wohin respektive die Hälfte der unteren und oberen Abweichungen vom Normalwert reicht, Kerngrenzen, indem wir den dazwischen befaßten Teil der Maße als Kern fassen 4), so können wir sagen, daß die Maßgrößen um so exzeptioneller werden, je weiter sie nach Unten und Oben über die Kerngrenzen hinausfallen; und die Bestimmung dieser Grenzen hat somit einiges Interesse. Mögen dieselben nach Unten und Oben für Höhe respektive h, h', für Breite b, b' heißen.

4) In anderem Sinne könnte man den Kern mit seinen Grenzen dadurch bestimmen, daß man in einer geordneten Verteilungstafel der Maße ¼ der gesamten Maße von Unten wie von Oben abschnitte. Hierbei würde die verschiedene Wahrscheinlichkeit der Abweichungen vom Normalwert nach Unten und Oben nicht berücksichtigt; sollte man aber doch diese Bestimmungsweise des Kerns in Betracht ihrer einfacheren Herstellung vorziehen, so würde sie annähernd nach den, in Tab. II. des Anhangsabschnittes gegebenen Verteilungstafeln (unter Rücksicht, daß da metrisches Maß gebraucht ist) geschehen können; genauer durch eine Berechnung nach den unter no. 6 jenes Abschnittes besprochenen Regeln. Inzwischen halte ich obige Bestimmungsweise für rationeller, ohne zu verkennen, daß sie überall etwas Willkürliches einschließt.
 
 
    Folgendes nun die aus dem Anhangs-Abschnitte sich ergebenden, hier aber aus metrischem Maße auf preußisches Fußmaß reduzierten, Bestimmungen der betreffenden Werte für Genre und Landschaft, sowohl für h > b und b > h besonders, als für die unterschiedslose Kombination der Bilder beider Abteilungen. Natürlich kann man diese Werte, da sie aus einer, wenn auch großen, doch endlichen, Anzahl von Exemplaren abgeleitet sind, nicht als absolut genau betrachten, doch halte ich ihre Unsicherheit nicht für beträchtlich. Die Zahl der Exemplare, aus der die Ableitung geschehen, ist in der Tabelle oben mit m angegeben. Es sind freilich nur Galleriebilder zur Bestimmung zugezogen; und so könnten sich die Werte etwas ändern, wenn auch Bilder im Privatbesitz hätten zugezogen werden können; doch ist gerade bei Genre und Landschaft kaum vorauszusetzen, daß die Änderung dadurch sehr erheblich sein würde.
 
Genre
Landschaft
h > b
b > h
Combin.
h > b
b > h
Combin.
m 775 702 1477 287 1794 2081
H 1,202 1,389 1,290 1,890 1,571 1,664
h, 0,911 1,015 0,961 1,347 1,076 1,148 
h' 1,901 2,253 3,063 3,038 2,457 2,597
B 0,992 1,737 1,397 1,330 2,271 2,102
b, 0,738 1,267 0,958 1,029 1,539 1,436
b' 1,537 2,902 2,348 2,300 3,534 3,351

    Also ist z. B. der normale Höhenwert, im angegebenen Sinne verstanden, bei einem Genrebilde, dessen Höhe größer als die Breite ist, gleich 1,202 preuss. Fuß; die gesamte Hälfte der Höhenmaße hält sich dabei zwischen 0,911 und 1,901 Fuß, und die Höhe wird um so exzeptioneller, je mehr ersteres Maß in Kleinheit, letzteres in Größe überschritten wird. Hiernach wird man leicht die anderen Bezeichnungen und Zahlen deuten können.

    Um die entsprechenden Werte für den Flächenraum der Bilder h b zu erhalten, die hierfür die einzelnen Dimensionen Höhen und Breite b gegeben sind, kann man so verfahren, daß man die in der Tabelle gegebenen Werte für die beiden Dimensionen mit einander multipliziert; wenigstens hat eine direkte Bestimmung der Werte für den Flächenraum, die ich bei Genre vorgenommen, so nahe mit dieser Regel übereinstimmende Resultate gegeben, daß man die Unterschiede wohl als zufällig betrachten kann. So fand sich der Normalwert von h b direkt bei Genre h > b gleich 1,182 Qu.-F., und die beiden Kerngrenzen 0,688 und 2,916 Qu.-F.; bei b > h anderseits erster Wert 2,279, letztere Grenzen 1,229 und 6,195. Hiernach wird man bei Genre h > b schon mit Bildern über 2,9 Qu., bei Genre b > h erst mit solchen über 6,2 Qu.-F. anfangen ins Exzeptionelle zu geraten.

    Man kann nun fragen: wie kommen gerade die hier angegebenen Werte H, B dazu, vor allen anderen als Normalwerte im angegebenen Sinne aufzutreten. Meine einfache Antwort darauf ist: ich weiß es nicht; nur die Erfahrung beweist, daß sie es sind. Ganz im Allgemeinen aber läßt sich Folgendes sagen: die mannigfachen und wechselnden Rücksichten, welche die Dimensionen eines Gemäldes von bestimmter Klasse und Abteilung bestimmen, müssen doch bei einer großen Zahl von Exemplaren für gewisse Höhen- und Breitendimensionen in günstigerer Weise zusammentreffen, als für andere, und man wird selbst von einer Höhen- und Breitendimension sprechen können, für die sie am allergünstigsten zusammentreffen, weniger günstig aber nach Maßgabe der Abweichung davon, so daß sich die Häufigkeit der Exemplare überhaupt nach ihren Abweichungsverhältnissen von diesem Werte normieren kann. Welches dieser Wert für jede Klasse und Abteilung sei, läßt sich a priori nicht bestimmen; ebensowenig wie sich die Kerngrenzen nach beiden Seiten verhalten; hat man aber die Bestimmungen für Beides (oder äquivalente Bestimmungen) aus der Erfahrung entnommen, so läßt sich dann allerdings auf Grund allgemeiner Zufallsgesetze (mittelst einer Erweiterung des Gauss’ischen Gesetzes zufälliger Abweichungen) das Gesetz angeben, nach welchem die Seltenheit der Exemplare mit der verhältnismäßigen Größe der Abweichung vom Normalwerte wächst, worüber no. 6 der Anhangs-Abhandlung das Nähere enthält.