XXX. Vorzugsstreit zwischen Kunst und Natur.

    Sollen sich Kunst und Natur um ihren Vorzug streiten? Sie selbst tun es natürlich nicht; aber die Menschen tun es für sie, und so wollen wir auch über diesen Streit Einiges sagen.

    Der Schah von Persien, als er auf seiner Reise eine Londoner Ausstellung besuchte, wunderte sich, daß ein gemalter Esel 100 Pfund kosten sollte, während ein wirklicher für 8 Pfund zu haben, da man doch auf dem wirklichen reiten könne, auf dem gemalten nicht, und ging damit ganz auf Plato’s Unterschätzung der Kunst gegen die Natur (Abschn. XXII.) ein. Hingegen behauptet Hegel, das Kunstschöne als aus dem Geist geboren stehe um so viel höher als das Naturschöne, als der Geist und seine Produktionen höher stehen als die Natur und ihre Erscheinungen. Und die Welt scheint damit, daß sie wirklich für einen gemalten Esel mehr als für einen wirklichen bezahlt, Hegel Recht zu geben.

    Dabei darf man freilich nicht vergessen, daß in die Preisbestimmung einer Sache die Seltenheit oder Schwierigkeit der Beschaffung, abgesehen vom Werte derselben, wesentlich mit als Faktor eingeht. Wenn es eine Million gut gemalter Esel gäbe, hiergegen nur einen oder ein paar gute wirkliche Esel, statt daß jetzt das umgekehrte Verhältnis statt findet, so würde sich das Preisverhältnis ganz anders stellen, als es der Schah von Persien gefunden hat, und möchten danach die wirklichen Esel wirklich deshalb höher bezahlt werden, weil man darauf reiten kann. Nun aber trägt der Umstand, daß Kunstwerke allgemein gesprochen seltener sind, als entsprechende Naturgegenstände, selbst wesentlich zu der gemeinhin statt findenden Überschätzung der Kunst gegen die Natur bei.

    Im Grunde wird jeder zugeben, daß sich ohne Kunst aber nicht ohne Natur leben läßt. Und daß überhaupt die Natur der Kunst im Ganzen an Nützlichkeit voransteht, darüber läßt sich eigentlich nicht streiten; sondern nur darüber, ob und inwiefern es die Natur der Kunst auch an Schönheit gleich tun oder gar sie darin übertreffen könne. In dieser Beziehung mögen Viele den Vorteil eben so selbstverständlich und unbedingt auf Seiten der Kunst finden. Doch liegt er nach unbefangener Betrachtung nicht in jeder Beziehung so.

    Vielmehr so sehr die Leistungen der Kunst durch die Reinheit und Höhe der Befriedigung, die sie unmittelbar zu erwecken vermögen, die gewöhnlichen Naturleistungen überbieten und ihrem Prinzip nach überbieten müssen, weil sie auf dieses Überbieten gerichtet sind, so vermag hingegen die kunstlose Wirklichkeit, die wir der Kunst gegenüber Natur nennen, ausnahmsweise nicht nur die höchsten Kunstleistungen in menschlicher und landschaftlicher Schönheit zu erreichen, sondern auch — während die Kunst nur diese oder jene Seite des Seins, Lebens, Wirkens auf einmal zu höchster Vollendung gesteigert bieten kann, — ausnahmsweise alle zur günstigst möglichen Wirkung zu vereinigen, und dadurch die Kunst zugleich an Kraft und Fülle der Wirkungen weit zu übertreffen. Mit all’ dem vermag sie freilich keine Kompositionen von höherem idealen Charakter aus Gott, Christus, Maria, Engeln und Heiligen herzustellen, muß vielmehr der Kunst hierin wirklich einen Vorrang lassen; doch ist es vielmehr der Vorrang einer gedankenmäßig angestrebten als einer anschaulich erreichten Höhe, vielmehr ein Überflattern als Überfliegen der Natur; und so viel die Kunst an Höhe darüber hinaus gewinnt, verliert sie an Kraft.

    Um der Schönheit der wirklichen Helena willen ward Troja zerstört; mit allem Aufwande der Idealisierung und Stilisierung hätte ein Porträt oder eine Statue von ihr das nicht zuwege gebracht; ja, war Helena einmal die schönste der Frauen, so konnte das Gemälde, die Statue nicht einmal ihre Farbe und Gestalt schöner wiedergeben, als die Wirklichkeit sie gab, und mußte Alles weglassen, was, mit der Farbe und Gestalt zusammenwirkend, den überwältigenden Eindruck auf ein Heldenvolk zu machen vermochte. Nur gegen die nicht vollkommen schönen Frauen der Wirklichkeit ist das Gemälde freilich in Vorteil dadurch, daß es ihre Leberflecken, ihre Pockengruben weglassen, das Rot ihrer Wangen, das Feuer ihrer Augen erhöhen, ihren Zügen Regelmäßigkeit verleihen, Geist und Leben einhauchen und uns dadurch in Gestalt und Farbe das Ideal einer schönen Frau bleibend darstellen kann, was die Wirklichkeit, obwohl dessen an sich nicht unfähig, doch fast immer uns darzubieten verweigert, oder nur vorübergehend darbietet. Wie denn überhaupt die höchstmögliche natürliche Schönheit des Menschen das Ideal der Kunstschönheit ist. Denn nicht das ist prinzipiell der schönste Mensch, welcher der schönsten griechischen Statue am ähnlichsten ist, sondern das ist die schönste Statue, welche dem schönsten Menschen, den die Wirklichkeit hervorzubringen vermöchte, am ähnlichsten ist.

    Erinnern wir in dieser Beziehung in folgender Einschaltung an einige Beispiele, welche unserem Ungehorsam gegen das idealistische Verbot, natürliche Schönheit, an deren Erzeugung der Menschengeist nichts getan, so schön als Kunstschönheit zu finden, zu Hilfe kommen.

    "Die erhabene Schönheit des Demetrius Poliorcetes konnte, wie es bei Plutarch in dessen Leben heißt, weder von den Malern noch von den Bildhauern seiner Zeit erreicht werden, ungeachtet dazumal die größten Künstler lebten. — Athenäus sagt, daß Apelles seine Venus, die aus dem Meere steigt, nach der Phryne, als sie an dem Feste, das dem Neptun zu Ehren gehalten wurde, entkleidet ins Meer gestiegen, geschildert habe; und Arnobius versichert, daß man in ganz Griechenland die Bilder der Venus nach dieser berühmten Schönheit gemalt habe."

    "Im Winter des J. 1822/23 hatten die deutschen Künstler in Rom in der Werkstatt eines Schuhmachers einen dem Jüngling nahen Knaben aufgefunden, der ihren gemeinsamen Studien zum Modell diente und in allen Teilen eine Schönheit zeigte, welche allen Anforderungen der Kunst zu genügen und an die edelsten Jugendgebilde der Alten zu erinnern im Stande war. Eben so ist bekannt, wie Thorwaldsen durch die Schönheit eines Hirtenknaben aus der Campagna, der ihm beim Ganymedes als Modell diente, darauf geleitet ward, jene bewunderungswürdige Bildsäule nach ihm zu bilden, die er schon 8-mal in Marmor zu wiederholen die Gelegenheit gehabt hat. Eines Tages ging ich (Thiersch) in Rom mit zwei jungen Künstlern, einem Maler und Bildhauer, vom Vatikan die lange Via Julia nach der Farnesina hinauf. Plötzlich hielt der Maler an. Ein junger Mensch von ungewöhnlicher Schönheit aus gemeinem Stande hatte seine Aufmerksamkeit und sein Erstaunen erregt. Er war sogleich mit ihm im Gespräch, und wir teilten bald die Bewunderung des Malers. Er war der Lehrling eines Bäckers. Wir folgten ihm zu seinem Hause in der Nähe, und die Künstler waren bald mit seinem Meister und Angehörigen über Ort und die Bedingung einig, unter der sie ihn für ihre Arbeit brauchen wollten. Keine einzige Jugendgestalt von allen, die ich in Rom gesehen, schien mir den Charakter der männlichen Jugend besonders der Engel und den seelenvollen Ausdruck ihrer Unschuld und Sitte in dem raphael’schen Gemälde so treu und so rein wiederzugeben, als dieser Knabe." (Thiersch, Kunstbl. 1831. 180.)

    "Denn es wird, wenn sie solches nur ernstlich bestreben, nicht an Gelegenheiten fehlen, wie jene, welche eine sinnvolle Gönnerin, die Freifrau von Rheden, vor wenig Jahren herbeigeführt, als sie die schöne Victoria von Albano nach Rom brachte, um dort von den besten Künstlern modelliert, gemalt und gezeichnet zu werden. Wer damals zu Rom verweilte, wird sich des Aufsehens erinnern, welches das schönste Antlitz hervorgebracht, und der allgemeinen Übereinkunft, daß solches, in Ansehung der Übereinstimmung seiner Verhältnisse, oder der Reinheit seiner Formen, sowohl alle Kunstwerke Roms übertreffe, als auch den nachbildenden Künstlern durchaus unerreichbar bleibe." (Rumohr ital. Forsch. I. S. 62.)

    Nun mag der Künstler an den wunderschönen Modellen, von denen in diesen Beispielen die Rede war, immer noch eine Kleinigkeit geändert haben; aber hat er sie dadurch wirklich schöner gemacht; aber war es der Rede wert? Er mag Engel, Göttinnen daraus gemacht, und hierzu ihnen eine Bewegung, einen Ausdruck verliehen haben, den die Modelle nicht hatten. Und gewiß ist es ein großer Vorteil der Kunst, daß sie das vermag; aber vermag der Künstler in den anmutigsten Bewegungen, dem idealsten Ausdrucke mehr als die Natur überhaupt vermag? Es wird sich nur eben nicht leicht treffen, daß die vollkommensten Gestalten auch zugleich die anmutigste Bewegung, den idealsten Ausdruck haben, oder gerade vor dem Künstler präsentieren. Selbst aber, wo der edelste Ausdruck, dessen die Natur fähig ist, sich in einem nicht vollkommen schönen lebendigen Gesichte spiegelt, wird die Kunst sich unfähig erklären müssen, gleiche Wirkung mit ihren starren Mitteln zu erreichen.

    Was von der menschlichen Schönheit, gilt nicht minder von der landschaftlichen Schönheit. Der Künstler muß froh sein, wenn es ihm glückt, Beispiele und Momente solcher Schönheit, wie sie eine günstige Natur von selbst zu bieten vermag, annäherungsweise in abflachendem Scheine wiederzugeben; nur daß er den Vorteil hat, nicht zwar als Lehrer sondern als Schüler der Natur, schöne Scheine der Art auch selbst schaffen und verewigen zu können. Es mag sein, daß eine Landschaft sehr selten so beschaffen ist, daß nicht der Künstler noch etwas ihr zusetzen, davon weglassen, darin modifizieren oder modulieren möchte, um einen möglichst einheitlichen und konzentrierten vorteilhaften Eindruck zu erzeugen; doch begegnet man mitunter Ansichten, von denen man sich sagt, sie gäben, so wie sie sind, ein Bild; ja man fahndet wohl auf Reisen nach solchen Ansichten. Wo aber die natürliche Landschaft dem Künstler zum Bilde nicht genug tut, vermag sie nach Beziehungen, die dem Künstler ganz unzugänglich sind, so viel darüber hinaus zu tun, daß es keine gemalte Landschaft gibt, deren Anblick dem, in Kunstinteressen nur nicht ganz aufgehenden, Menschen eine lohnende Aussicht von einem Berge, eine Aussicht auf das Meer in schöner Beleuchtung, bei aller Unfähigkeit ein gutes Bild zu geben, ersetzen könnte. Will man es nicht zugeben, so frage man doch jemand, ob er lieber einmal stehend am Golf von Neapel die Landschaft, die sich da vor dem Blicke breitet, oder eben so einmal die schönste Landschaft von Claude Lorrain oder Poussin angesehen haben, oder auch lieber jene Landschaft immer vor seinem Fenster oder diese in seinem Zimmer haben möchte; würde er nicht das Erste unbedingt vorziehen? Wogegen er freilich vielleicht die Landschaft von Claude Lorrain lieber dauernd besitzen, als den viel reicheren und intensiveren Eindruck einer ähnlichen natürlichen Landschaft einmal vorübergehend haben möchte. Aber das sind unvergleichbare Fälle. Jedenfalls gewährt die gemalte Landschaft vor der wirklichen den Vorteil, wirklich besessen werden zu können, und dann immer von Neuem der Betrachtung zu Befehl stehen zu müssen.

    Auch das kunsthistorische und kunstkritische und Kunstschulinteresse, was der spezifische Kunstkenner an der gemalten Landschaft nehmen mag, das Interesse, was wir Alle an der gelungenen Nachahmung der Natur im Bilde nehmen, kann uns keine wirkliche Landschaft ersetzen. Überhaupt ordnet sich die gemalte Landschaft der Gesamtheit von Erzeugnissen des Menschengeistes ein und unter, gewinnt Bedeutung und Beziehung dadurch, die der natürlichen Landschaft abgeht; eine Landschaft selbst gemacht zu haben, macht sie dem Menschen werter als die natürliche Landschaft; in der natürlichen findet er keinen Anlaß, die eigene Leistung des Menschen zu bewundern. Also behält die gut gemalte Landschaft immer nach gewissen Beziehungen Interesse und Wert über die schönste wirkliche hinaus; aber eben nur nach gewissen Beziehungen; im Ganzen vermag sie nicht, es ihr gleich zu tun.

    Wenden wir uns zu den höchsten Leistungen der Kunst, so kann uns die Natur ein Weltgericht nicht anschaulich vorführen, wie die Kunst; aber führt uns denn die Kunst ein solches wirklich vor? Wir müssen an den sichtbaren Schein, den sie gibt, erst seine Vorstellung knüpfen, fraglich, wie viel wir daran knüpfen; ja die Meisten, die sich auf Kunst verstehen, werden vielmehr an Stil, Gruppierung, Farbenwirkung des Bildes, als an das Weltgericht dabei denken, wohl gar diesen Gehalt des Bildes ganz unwesentlich für seine Kunstleistung finden; und die sich nicht auf Kunst verstehen, werden gar nicht wissen, was sie aus der wunderlichen Szene machen sollen; in jedem Falle aber wird das Bild nicht so tief und gewaltig in das Gemüt des Menschen greifen, als ein, die Kunst gar nichts angehender, wirklicher Akt göttlicher Gerechtigkeit, der gegen ihn oder solche, an deren Geschick er Teil nimmt, geübt wird, indes dieser dafür freilich den Menschen nach Seiten ungerührt läßt, nach denen die Kunst ihn durch das Bild rührt; ohne mit der stärksten Rührung, die sie durch Bilder überhaupt zu erzeugen vermag, den Wert und die Stärke der wertvollsten und stärksten natürlichen Rührungen erreichen zu können.

    Bei dem allen hatten wir die bildende Kunst vor Augen; ähnlich aber als mit dieser verhält es sich mit der Poesie. Alle Gefühle, welche durch Gedichte erweckt werden können, sind nur Abklänge derer, welche das Leben selten mit solcher Reinheit und Einstimmigkeit, aber mit unverhältnismäßig größerer Kraft zu erwecken vermag. Auch gibt es eine Poesie des Lebens wie der Worte. Zwar zwischen unseren Geschäften, zwischen Büchern, Akten, Dampfmaschinen, bei unseren konventionellen Regeln und Gesprächen, unserer Schulbildung durch Wortformen, verlernen wir leicht ganz, daß es eine solche gibt, und glauben leicht, was Poesie ist, sei nur in den Büchern, die von Goethe, Schiller, Uhland, Heine herausgegeben sind, zu finden, die doch selbst erst aus der Poesie des Lebens geschöpft haben. Erinnert sich aber nicht der Eine oder Andere einer Zeit, wo er selbst unmittelbar aus dem Leben schöpfte, was er in der Poesie der Dichter nur wieder geschöpft fand.

    Es reist jemand durch die Berge; er ist gesund, sein Sinn ist offen, die große und mannigfache Natur, die Einfachheit und doch Neuheit der Sitten des Volkes, die wechselnde Reisegesellschaft, die Alpenwirtschaft, das braune Mädchen, der sonderbare Engländer, das Einschlafen beim Rauschen des Waldes, beim Rieseln der Bergwässer mit dem Gedanken an die Heimat, mit der Erwartung der Szenen des folgenden Tages, am Morgen die frische Bergluft, die aufsteigende Sonne, der Duft der Kräuter, die Kraft der Glieder, die innere Lust; ist die Gesamtwirkung davon nicht auch Poesie, und wer wird diese Poesie der Wirklichkeit für das schönste Gedicht geben wollen.

    Und doch verkennen wir auch wieder nicht die Vorzüge des Gedichtes. Was ich da anführte, konnte Alles in einer Reise zusammensein und zusammenwirken, aber ist es denn so leicht der Fall und ist es denn so rein der Fall. Kann uns nicht das Gedicht alle abstumpfende Müdigkeit, alle Langeweile, alle Unreinlichkeit, allen Zank mit Gewinnsucht und Gemeinheit, alle Widerlichkeit ersparen, die wir bei der wirklichen Reise, und wäre es übrigens die schönste, mit in den Kauf nehmen müssen. Rein faßt es zusammen, was zu einer rein befriedigenden Wirkung auf das Gemüt zusammenstimmt, begleitet es mit der Musik des Verses und kann als Reiselied die Reise selbst verschönern helfen. Dazu können wir es statt der seltenen und kostspieligen Reise in jedem Augenblicke umsonst haben. Und endlich können Gedichte unsere Vorstellung in höhere Gebiete als die der Wirklichkeit führen, in welche sich eben nur mit der Vorstellung reisen läßt.

    Und so ist es im Grunde müßig, daß sich Kunst und Natur um ihren Vorzug und Vorteil im Allgemeinen streiten, wenn doch jede der anderen Vorteile nach gewissen Beziehungen einräumen muß. Diese gilt es klar ins Auge zu fassen und richtig zu würdigen.

    Sehen wir uns nun aber weiter um, so werden wir allerdings zuzugeben haben, daß es sich mit Musik und Architektur anders verhält, als mit der bildenden Kunst und Poesie, sofern jene Künste zu den Leistungen des kunstlosen Lebens neue Leistungen hinzubringen, von denen dieses kein Äquivalent und kaum ein Analogon bietet. Was wollen alle natürliche Höhlen und Lauben gegen das einfachste Wohnhaus, und der Gesang der Nachtigall (abgesehen von seiner Einordnung in den Frühling) gegen den Gesang einer klaren menschlichen Stimme sagen. Ja, indes die bildende Kunst einen langen Weg der Entwickelung zu gehen hat, ehe sie nur die gemeine Natur erreicht, übersteigen Musik und Architektur dieselbe von ihren ersten Schritten an; und so findet im Grunde auch keine Rivalität zwischen dem natürlichen Leben und diesen Künsten statt, weil jenes vom Anfange herein hinter diesen zurückbleibt. Lassen wir also auch im Folgenden den Bezug darauf bei Seite, um dafür das Verhältnis der bildenden Kunst zur Natur noch aus einem anderen Gesichtspunkte als bisher zu betrachten.

    So wenig sich die Kunst in jeder Beziehung über die Natur zu stellen hat, so wenig hat sie sich von ihr abzulösen, sondern eben so in ihr fortgehends zu wurzeln, als Früchte für sie zu tragen. Alle Regeln, welche die Kunst sich geben mag, sind ihr durch eine Natur der Menschen und Dinge, die vor der Kunst da war und außer der Kunst besteht, vorgegeben; es gilt nur, sie in Beziehung zum Zweck der Kunst rein und klar herauszuschälen. Alle Motive und Formen hat die Kunst nicht nur ursprünglich aus der Natur zu schöpfen, sondern auch fortgehends neue daraus zu schöpfen, sonst erstirbt sie in Manier und konventionellem Wesen. Man verurteilt die reine Nachahmung der Natur durch die Kunst; aber schlimmer ist die reine Nachahmung der Kunst durch die Kunst, vor der eben nur ein immer neuer Rückgang zur Natur bewahrt.

    Nicht, daß die Kunst immer ganz von Neuem aus der Natur anzufangen hätte; dann würde sie immer mit gleicher Rohheit anfangen. In der früheren Kunst liegt ein großes Kapital, womit die spätere zu wirtschaften hat; aber so wenig ein Geldkapital sich dadurch vermehrt, daß man die vorhandenen Geldrollen in immer neuer Ordnung auftürmt, ist es mit dem gesammelten Kunstkapital der Fall; nur aus den Schachten, den Feldern und Wäldern des natürlichen Lebens vermehrt sich’s, wie es eben daher seinen ursprünglichen Bestand hat, den freilich der Geist der Künstler daraus erzielen mußte, doch nicht aus seinem eigenen Bestande erzielen konnte.

    Natürlich, da das Rechte hier in der Verbindung zweier Gesichtspunkte liegt, fehlt es wieder nicht an Einseitigkeiten, welche bald den einen bald den anderen mit Vernachlässigung oder gar Verneinung des gegenteiligen zur Geltung bringen.

    Leonardo da Vinci sagt in seinem Traktat von der Malerei (Abh.32): "ein Maler soll niemals die Manier eines Andern nachmachen, widrigenfalls wird er nur ein Enkel, nicht aber ein Sohn der Natur heißen. Denn die Dinge in der Natur sind in so großem Überfluß vorhanden, daß man seine Zuflucht vielmehr zu dieser Natur selbst, als zu anderen Meistern nehmen soll, die doch ebenfalls bei ihr in die Schule gegangen sind." Hingegen sagt Squarcione 1), einer der Künstler, denen im 15. Jahrh. der hohe Wert antiker Kunst aufgegangen: "es sei sehr töricht, das Schöne, Hohe, Herrliche mit eigenen Augen in der Natur zu suchen, es mit eigenen Kräften ihr abgewinnen zu wollen, da unsere großen griechischen Vorfahren sich schon längst des Edelsten und des Darstellungswertesten bemächtigt, und wir also aus ihren Schmelzöfen schon das geläuterte Gold erhalten könnten, das wir aus Schutt und Gruß der Natur nur mühselig ausklaubend als kümmerlichen Gewinn eines vergeudeten Lebens bedauern müssen." 2).

1) Nach Goethe’s K. u. Alt., Werke, Band 39. S. 145.

2) Ein Meister der französischen Kunst der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts verbot sogar seinen Schülern, die Natur zu studieren, "um sich nicht den Geschmack zu verderben". (Meyer, Gesch. d. franz. Malerei.)
 
 

    Beide Aussprüche erscheinen in vollem Widerspruche miteinander, und sind doch gleich triftig, wenn sie nur triftig verbunden werden. Jeder neue Erwerb kann der Kunst nicht minder als der erste nur aus der Natur d. i. kunstlosen Welt kommen, aber nur auf und über der Grundlage des früheren Erwerbs zu bedeutender Kraft und Höhe ansteigen.

    Hätte der Künstler nichts mehr von der Natur zu lernen, so wäre die Kunst zugleich auf ihrem Gipfel und an ihrem Ende; sie wird aber dies Ende schon deshalb nicht erreichen können, weil die Natur, worin wir ja hier gegenüber der Kunst das ganze Leben außerhalb der Kunst mit verstehen, nie zu Ende kommt, sondern sich fort und fort entwickelt; und wenn wir zugestehen müssen, daß sich die Idealgestalten der griechischen und der Raphael’schen Kunst nicht übertreffen lassen, ja verhältnismäßig nur geringe Variationen gestatten, um nicht von dem darin erreichten Gipfel wieder abzusteigen, so werden sich doch eben diese Variationen nur aus der Natur schöpfen lassen, und nur vermöge solcher Variationen die Kunst, die sich in solchen Idealgestalten bewegt, noch Interesse behalten. Nun aber ist ja die Kunst nicht bloß auf das Gebiet von Idealgestalten beschränkt; zum Idealisieren gibt es auch ein Charakterisieren; und je tiefer die Kunst mit ihrer Aufgabe in die realen Gebiete des Lebens hineingreift, desto mehr Stoff und Form wird sie daraus ziehen können und zu ziehen haben; ja es wird, wie ich früher (Abschn. XXVII.) andeutete, vielleicht eine Zeit kommen, wo man die Idealität, die man in einzelnen Gestalten nicht höher zu treiben weiß, als sie getrieben ist, doch im Eindruck dadurch wird erhöhen können, daß man sie mehr auf den Gipfelpunkt der Darstellungen beschränkt, und von der Idealisierung der ihrer Idee nach niedriger stehenden Figuren mit Vorteil für die Charakteristik nachläßt.

    Wie nun die Kunst aus der natürlichen Wirklichkeit herauszuwachsen, immer neue Triebkräfte aus ihr zu ziehen hat, so hat sie auch möglichst allseitig in sie zurückzugreifen. Das kann sie aber nur, wenn sie sich den natürlichen Interessen nicht entfremdet, sich vielmehr der Interessen der Welt, des Lebens, des Glaubens, die abgesehen von Kunst bestehen, als eigener Interessen mit Liebe annimmt, statt bloß eine gleichgültige Unterlage für ihre Formgebung darin im Sinne so vieler Kunstenthusiasten zu sehen. An Angriffspunkten dazu fehlt es nicht. Die Religion nimmt den Pinsel und Meißel für Gegenstände der Andacht in ihren Tempeln, die Geschichte zur Vorführung und Befestigung erhebender Beispiele und Erinnerungen in öffentlichen Gebäuden und Hallen in Anspruch. Die dankbare Anerkennung der Verdienste großer Männer will sich in Denkmalen aussprechen; die Paläste der Großen sich mit Bildwerken in großem Stil und die Wohnungen der Kleinen mit solchen in kleinem Stil in Angemessenheit zu den Verhältnissen und Neigungen der Bewohner schmücken. So wird die Kunst statt ein Reich über dem Leben, ein schmückendes Element des Lebens selbst.

    Unstreitig galt das von der antiken Kunst viel mehr als der unseren, die hauptsächlich in Kunstakademien, Kunstvereinen, Kunstsammlungen, Kunstzeitschriften ihre Existenz, abseits vom übrigen Leben, führt; indes die antike Welt von diesen Absonderungs-Plätzen und Anstalten der Kunst noch nichts wußte.

    Muß man nun jenes frühere Verhältnis im Allgemeinen ein günstigeres nennen, als das, was heute bei uns besteht, sofern die Kunst durch ihr Einwurzeln im Leben selbst mehr Lebenskraft, das Leben mehr Schmuck hatte, so kann man doch das alte Verhältnis nicht wieder hervorzaubern, und nicht durch Negationen die positiven Vorteile des früheren Verhältnisses gewinnen wollen. Gesetzt man beseitigte die Kunstakademien, Kunstvereine u. s. w., so würde man damit die Kunst selbst beseitigen. Auch würde es doch zu weit gegangen sein, wollte man die Kunst bloß dem übrigen Leben dienstbar machen und zu einem sklavischen Anschlusse daran verurteilen; es war das selbst im Altertum nicht der Fall. Es gibt ja auch eine eigene Freude an der Kunst. Man kann nur sagen: je mehr die Kunst sich vom übrigen Leben ablöst, desto mehr verliert sie von natürlichen Stützen und gerät in Gefahr, so zu sagen in ihren eigenen Interessen zu versumpfen.

    Ist solchergestalt die Kunst eine der höchsten Spitzen, welche die Wirklichkeit oder Natur, im angegebenen Sinne gefaßt, aus sich hervortreibt; so ist sie doch nicht die höchste Spitze. Das wird immer die Religion bleiben, die sicher nicht der Kunst ihren Ursprung verdankt, die nun aber selbst der Kunst die höchste Triebkraft verleiht und von ihr wichtige Rückwirkungen empfängt.