XXVI. Stil, Stilisieren.

    Es ist mit Stil wie mit Geschmack. Man spricht von einem schlechten und guten Geschmack; aber in einem engeren Sinne versteht man unter Geschmack nur einen guten Geschmack. Man spricht von schlechtem und gutem Stil; aber in einem engeren Sinne versteht man unter Stil nur den guten Stil. Man lobt einen Menschen damit, daß man sagt, er hat Geschmack; und ein Kunstwerk damit, daß man sagt, es hat Stil; gebraucht geschmackvoll und stilvoll beide nur in gutem Sinne von Gegenständen des Gefallens.

    Was aber ist der Stil in dem weiteren Sinne, wo noch von einem schlechten Stil gesprochen werden kann, das Gemeinsame des Stils in schlechtem und gutem Sinne?

    Ich meine, im weitsten Sinne ist Stil eine, aus irgend einem Gesichtspunkte gemeinsame, Darstellungsform für eine Mehrheit verschiedenartiger Kunstwerke oder Werke überhaupt. Die Gemeinsamkeit kann in der Natur des Subjekts begründet sein, welche seinen verschiedenen Werken dasselbe Gepräge aufdrückt. den Menschen im Werke wiederfinden läßt, in welchem Sinne Büffon sagte: "Le style c’est l’homme", und neuerdings Kirchmann (Ästhetik II. 287) sagt: "Der Stil bezeichnet die künstlerische Behandlung jener Bestandteile des Kunstwerkes, welche ihre Bestimmung nicht aus dem Begriffe und der sachlichen Regel, sondern nur aus der Persönlichkeit des Künstlers erhalten können ... Der Stil ruht sonach immer in der Persönlichkeit des Künstlers." Jeder Mensch hat in diesem Sinne seinen Stil; und in weiterem Sinne hat jede Zeit, welche Kunst treibt, ihren Stil, der gut oder schlecht sein kann; die engere Bedeutung kommt hier noch nicht in Rücksicht. — Die Gemeinsamkeit der Form kann ferner durch die Natur des Objekts, sei es seines Stoffes oder seines ideellen Gehaltes oder der Kunstgattung, der es sich unterordnet, bedingt sein. In ersteren Sinne bestimmt der Marmor, das Erz in der Bildnerei, das Holz, der Stein, das Eisen in der Baukunst ihren Stil, kann man nicht mehr sagen: le style c’est l’homme, und erklärt Rumohr den Stil "als ein zur Gewohnheit gediehenes sich fügen in die innern Forderungen des Stoffes, in welchem der Bildner seine Gestalten wirklich bildet, der Maler sie erscheinen lässt." 1) Im zweiten Sinne bedingt der allgemeine Charakter des historischen, des heroischen, des genrehaften Inhaltes den Stil. Im letzten Sinne spricht man von einem malerischen, plastischen, architektonischen Stil u. s. w. In den Forderungen des Objekts setzt man zwar im Allgemeinen die Forderungen des guten Stils im engeren Sinne voraus, aber der Gesichtspunkt der Gemeinsamkeit liegt nicht darin, und der Stil des Erzes kann auf Marmor, der malerische Stil auf plastische Werke, der Opernstil auf Kirchenmusik übertragen schlecht werden. — Der Gesichtspunkt der Gemeinsamkeit kann endlich in einem bestimmten Charakter der Form rücksichtslos auf die Natur des Subjekts und Objekts der Darstellung liegen, so, wenn man von einem strengen oder laxen, leichten oder schweren, fließenden oder gehackten, niedrigen, großen Stil, Rokokostil, Arabeskenstil u. s. w. spricht.

        1) Italien. Forsch. I. S. 87.

    Allen diesen Spezialitäten des Stils gegenüber kann man nun endlich noch einen Gesichtspunkt der Gemeinsamkeit darin finden, daß der vorgegebenen Idee durch die Darstellungsweise über das bloße Bedürfnis der Richtigkeit oder sachlichen Angemessenheit hinaus in vorteilhafter Weise genügt wird. Das gibt den Stil in dem engeren Sinne des guten Stils, auf dessen Bedingungen wir unten näher eingehen wollen.

    Insofern man nun in diesem engeren Sinne unter Stil schlechthin einen guten Stil versteht, läge es nahe, unter einer stilisierten Darstellung schlechthin auch eine Darstellung in gutem Stile zu verstehen; 2) aber in der Tat braucht man hiefür lieber die Bezeichnung stilvoll oder stilmäßig als stilisiert, es sei denn, daß man zu stilisiert ausdrücklich das Beiwort gut fügt, und nur unter solcher Voraussetzung kann vom Stilisieren als allgemeiner Kunstforderung die Rede sein. Hiergegen hat der Ausdruck stilisieren schlechthin in der Kunstkonversation bezüglich der bildenden Kunst eine etwas eigentümliche Wendung angenommen. Gewiß wird man von einem Genrebilde verlangen, daß es nicht minder in gutem Stil gehalten sei, als ein historisches Bild; doch von den besseren Genrebildern nicht gern sagen, daß sie überhaupt stilisiert seien, indem man faktisch unter einer stilisierten Darstellung in der bildenden Kunst eine solche versteht, in welcher nach einer, in einer bestimmten Kunstrichtung hergebrachten, Weise sei es aus untriftigem oder triftigem Motiv von der Natur über das Notwendige hinaus abgewichen ist. So z.B. nennt man die antiken Pferde stilisiert, die den natürlichen in mehreren Beziehungen nicht gleichen, nicht minder eine Darstellung moderner Gegenstände in mehr oder weniger antikem Gepräge. So gut als in antikem Sinne könnte aber eine Darstellung auch in chinesischem Sinne stilisiert sein. Außerdem gibt es Schuldefinitionen des Stilisierens, wie wenn E. Förster in seiner Vorschule der Kunstgeschichte S. 139 sagt: "Eine stilisierte Form in der bildenden Kunst ist eine auf den einfachsten Ausdruck gebrachte Bezeichnung des Gegenstandes"; was mir jedoch den üblichen Sinn nicht zu treffen scheint; und vollends wäre der gute Stil ein armseliges Ding, wenn man ihn nach dieser Definition seiner Ableitung beurteilen wollte.

        2) Zusammenhangsweise mit Idealisieren ist Stilisieren wesentlich so auf S. 57 verstanden.

    Eine Art Eigensinn des Sprachgebrauches scheint es mir zu sein, wenn man in gewissen Fällen, die sich der weitsten Fassung des Stilbegriffes unterordnen lassen, (indem es sich dabei doch auch um eine, mehreren Kunstwerken aus einem gewissen Gesichtspunkte zukommende Gemeinsamkeit handelt), lieber von Manier als Stil spricht. Einmal versteht man unter Manier eine, in den Bedingungen der technischen Verfahrungsweise oder Handhabung der Mittel oder in der Nachahmung eines gewissen Musters begründete Gemeinsamkeit der Form- oder Farbegebung, so, wenn man von Kreidemanier, Tuschmanier, einer Manier des Farbenauftrags, einem in Raphaels Manier gemalten Bilde u. s. w. spricht, ohne daran wesentlich den Begriff des Fehlerhaften zu knüpfen. Man würde in der Tat statt dessen nicht von Kreidestil, Tuschstil u. s. w. sprechen mögen; wenn schon man meinen sollte, da das Äußerliche der Form und Farbe dem Griffel (Stil) näher liegt als der Hand, hätte die umgekehrte Bezeichnung näher gelegen. In einem anderen Sinne aber setzt man Manier dem Stil im engeren Sinne oder guten Stil als etwas Fehlerhaftes gegenüber, indem man darunter eine, in der Subjektivität des Künstlers oder einer Kunstschule begründete, Gemeinsamkeit der Form- oder Farbegebung versteht, die weder durch sachliche Angemessenheit noch die Vorteile des guten Stils, hiermit überhaupt nicht motiviert, hiermit verwerflich ist. Wieder möchte man fragen, warum Stil schlechthin der Manier gegenüber nur in gutem, Manier dem Stil gegenüber nur in schlechtem Sinne gebraucht wird, da doch die Hand dem Herzen und der Seele des Künstlers näher liegt, als der Griffel. Mögen sich andere an der Aufklärung hiervon versuchen.

    Nachdem wir den begrifflichen Erörterungen über die verschiedenen Wendungen des Stilbegriffes genug getan zu haben glauben, beschäftigen wir uns fernerhin mit der Sache des Stils im engeren Sinne oder des guten Stils, wobei auf Manches in früheren Abschnitten (namentlich XIII. XXII) beiläufig oder kurz Besprochene eingehender wird zurückzukommen sein.

    Der durch einen guten Stil zu erreichende Vorteil hat zwei Seiten. Einmal liegt er in der Klarheit, Deutlichkeit, Bestimmtheit, Leichtigkeit, Unmittelbarkeit, prägnanten Kürze und Schärfe, kurz formalen Angemessenheit, womit uns der Sinn oder ideelle Gehalt eines Werkes zum Bewußtsein gebracht wird, zweitens in einer Wohlgefälligkeit der Form, die abgesehen von sachlicher wie formaler Angemessenheit, gefallt, und wonach von verschiedenen gleich angemessenen Darstellungsweisen einer vorgegebenen Idee vorzugsweise die zur Geltung zu bringen ist, welche auch ohne Rücksicht auf diese Angemessenheit am besten gefällt. Beide Seiten des Stils haben sich zum größtmöglichen Vorteil zu vereinigen.

    Man mag mit viel Einschachtelungen etwas so richtig sagen können, als in klar auseinandergehaltenen Sätzen; aber es ist von erster Seite her mehr Stil in letzter Redeweise. Viel Sätze hinter einander mit demselben Worte anfangen oder schließen, schadet weder der Richtigkeit noch Deutlichkeit, aber es ist von zweiter Seite her wider den Stil.

    In einem Bilde kann die Hauptfigur ganz richtig dargestellt sein, aber so in den Hintergrund oder zur Seite geschoben, und so wenig beleuchtet, daß sie nicht als Hauptfigur erscheint. Es ist von erster Seite her ein Fehler gegen den Stil. Unter den verschiedenen Weisen, wie ein Gewand fallen kann, gefällt uns, gleich viel aus welchem Grunde, die eine Weise besser als die andere. Der Stil verlangt von zweiter Seite, daß wir die wohlgefälligere vorziehen, insofern sie nicht der sachlichen Angemessenheit zu stark widerspricht; denn in der Darstellung einer liederlichen Person könnte auch ein liederliches Gewand besser passen und würde dann vorzuziehen sein.

    Es wäre erwünscht, wenn wir zwei kurze Bezeichnungen für die eine und andere Seite des Stils oder den Stil im einen und anderen Sinne hätten, da doch beide verschiedenen Gesichtspunkten unterliegen, die sich nur unter dem sehr allgemeinen Gesichtspunkte möglichst vorteilhafter Verwendung der Darstellungsmittel vereinigen. In Ermangelung solcher bezeichnenden Ausdrücke dafür unterscheiden wir beide als erste und zweite Seite des Stils und beschränken uns im Folgenden, beide in Bezug auf die bildende Kunst zu erläutern. Sprechen wir zuerst vom Stil nach seiner ersten Seite.

    Die Natur sorgt im Allgemeinen nicht dafür, uns die Gegenstände unmittelbar unter den für ihre Auffassung günstigsten Verhältnissen darzubieten, verdeckt nach Umständen die Hauptfigur durch die Nebenfiguren oder stellt sie gegen diese bei Seite oder zurück, stimmt den Eindruck der Farben, der Linien im Einzelnen nicht harmonisch mit dem Totaleindrucke, den das Ganze machen soll, und bemüht sich überhaupt um keine positiven Hilfsmittel, die Auffassung zu erleichtern, die Hauptstimmung zu unterstützen, bedarf freilich auch einer solchen Unterstützung nicht in gleichem Grade als die Kunst, da sie ihre Gegenstände nicht aus dem Zusammenhange mit der übrigen Welt herausreißt, sondern in zeitlicher und räumlicher Verbindung damit darbietet, die von selbst erläuternd und das Verständnis unterstützend zum Eindruck der Gegenstande hinzutritt. Was nun der Kunst in dieser Hinsicht von Vorteilen der Natur abgeht, muß sie durch den Stil nach seiner ersten Seite nicht nur ersetzen, sondern wo möglich überbieten.

    Zum Beispiel: die Hauptfigur soll sich als Hauptfigur geltend machen. Es gibt viele Mittel dazu, zwischen denen so zu wählen sein wird, daß der naturwahren Charakteristik und den anderen Stilforderungen noch möglichst genügt wird. Die Hauptfigur kann durch Stellung, Isolierung, Größe, Farbe, Beleuchtung, vollendete Ausführung, auch wohl durch mehrere dieser Umstände zugleich bevorzugt sein. Irgendwie aber muß sie bevorzugt sein, sonst ist es ein Fehler gegen den Stil. Sie wird die vorteilhafteste Stellung in dieser Hinsicht behaupten, wenn sie sich in der Mitte des Gemäldes und über die anderen Figuren erhöht oder vorragend darstellt. So sehen wir es z. B. in der Sixtina und Holbein’schen Madonna. Damit macht sich in sehr vielen Fällen eine pyramidale Gruppierung fast von selbst geltend. Aber ein Christkind kann als Hauptfigur oder als wichtigste Nebenfigur bei der Madonna nicht wohl über den Köpfen Anderer erhoben dargestellt werden; es läuft zu sehr gegen die sachliche Angemessenheit, mit welcher sich die formale des Stils nicht oder nur um sehr überwiegender Vorteile willen in Widerspruch setzen darf; also wird es durch Helligkeit bevorzugt; fast immer ist das Christkind der hellste Fleck im ganzen Bilde. Dazu hilft seine Nacktheit oder die weiße Bekleidung, die es in älteren Darstellungen trägt, und oft auch ein Lichtschein, der von ihm ausgeht. So, indes es von der Madonna als seiner Mutter überragt wird, überglänzt es als himmlisches Kind die Mutter 3); und so wird der Stil überhaupt immer unter den verschiedenen Mitteln, die ihm zu Gebote stehen, das vorzuziehen haben, was sich am besten mit der sachlichen Angemessenheit verträgt und worin sich beide Seiten des Stils am besten vertragen. Nun kann man bemerken, daß bei einem Kegel mit abwärts gekehrter Spitze die Spitze zwar nicht mehr wie bei der Aufwärtskehrung symbolisch einen Gipfel der Bedeutung repräsentieren kann, immer aber noch als Vereinigungspunkt, Schlußpunkt der Seiten einen ausgezeichneten Punkt darstellt, zu welchem die Seitenlehnen des Kegels an beiden Seiten führen; und nachdem beim Christkinde jene Bedeutung der Spitze Preis gegeben werden muß, wird gern noch diese Leistung festgehalten und das Kind in die Spitze eines Trichters oder auf den Boden einer Grube gelegt, wozu die sich um dasselbe gruppierenden Personen die Seitenlehnen bilden, so namentlich bei der Geburt Christi oder Anbetung des Christkindes durch Maria, Engel oder Heilige. Aus dem bloßen Gesichtspunkte sachlicher Angemessenheit könnten die Erwachsenen eben so gut bloß zu einer als zwei Seiten des Kindes hierbei stehen, das wird man nicht leicht finden; und zwar kommt bei der zweiseitigen Stellung mit der ersten Stilrücksicht auch die zweite in sofern in Betracht, als in einer Abwägung der Massen zu beiden Seiten des Hauptpunkts ein symmetrisches Moment liegt, was in so weil wohlgefällig ist, als es nicht dem Ausdruck natürlichen Lebens widerspricht. Nun aber wird bei Versenkung des Kindes in eine Grube das Bedürfnis um so dringender, die verlorene Bedeutung der Höhe durch den Glanz zu ersetzen; und wenn in der Nacht Correggio’s und so vielen analogen Darstellungen der Geburt Christi das Kind von seinem ganzen Körper Licht ausstrahlt, während die erwachsenen Personen zu beiden Seiten daneben stehend oder kniend den Blick darauf richten, so ist den sachlichen und stilistischen Forderungen zugleich in angemessenster Weise genügt, indem das Kind hiermit in seinem natürlichen Verhältnis zu den Erwachsenen, von ihnen überragt und als Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit zugleich am günstigsten Punkte für unsere Aufmerksamkeit erscheint, durch sein Licht zugleich symbolisch als in die Welt gekommenes Licht erscheint, und den Blick stilistisch am meisten fesselt. Eine solche einstimmige Befriedigung der sachlichen und stilistischen Forderungen zu erzielen aber gehört zu den Hauptaufgaben der Kunst; sie zu bemerken, zu dem feineren Verständnisse der Kunst

3) Sollte in dem schlechthin so genannten Holbeinschen Madonnenbilde das obere Kind ein Christkind, das untere ein Kind der Stifterfamilie sein, wie es die gewöhnliche Ansicht der Kenner ist, so wäre gründlich gegen den Stil gefehlt, worin man sonst Holbein für einen Meister hält, indem das untere Kind nicht nur um eine Spur heller als das obere ist, sondern auch durch vorteilhafteres Aussehen und Behaben die Aufmerksamkeit, mehr auf sich zieht.
 
 
    Lotze zwar widerspricht in seiner Abhandlung über die Bedingungen der Kunstschönheit der stilistischen Regel, den Hauptgegenstand einer Darstellung in der Mitte des Bildes anzubringen, zuvörderst bei Landschaften (S. 55), dann aber allgemeiner (S. 74) wie folgt:

    "Die Mitte eines Landschaftsbildes soll nicht durch die Gegenstände eingenommen werden, die mit der meisten Kraft unsere Aufmerksamkeit anziehen; sie verlangen vielmehr eine exzentrische Stellung, denn es ist eine unwahrscheinliche Absichtlichkeit für den Beobachter, daß er sich genau in dem Visierpunkte der Welt befinde, von dem aus sie in symmetrische Hälften zerfiele, und eben so unwahr für den Gegenstand, daß um ihn als Mittelpunkt sich die übrige gleichgültige Welt anlege. Man wird leicht bei unbefangener Betrachtung finden, daß jeder Durchblick durch ein Gebüsch wirkungsreicher ist, wenn er außer dem Mittelpunkt der Landschaft in einer sonst vernachlässigten Richtung eine neue Welt unerwartet öffnet, als wenn er gerade auslaufend, was sich von selbst verstand, nur die dritte Dimension der Ausdehnung veranschaulicht. Eine Baumgruppe wird ziemlich eitel und herausfordernd in der Mitte stehen, während sie außerhalb ihrer eine anmutige Unberechenbarkeit in das Ganze bringt. . . ."

    Weiter: "Verbindet man mit jener pyramidalen Gruppierung, die man sonst als unverbrüchliches Gesetz der Komposition betrachtete, den Sinn, daß die Hauptfigur oder Hauptgruppe überall den Mittelpunkt des Gemäldes einnehmen solle, so dürfen wir wohl entschieden widersprechen. Wie in der Landschaftsmalerei, so auch hier ist diese Stellung allzu berechnet und absichtlich; gern geben wir zu, daß sie angewandt sei bei vielen kirchlichen Gemälden, die uns geradezu dem Kirchlichen gegenüberstellen, uns also in den Mittelpunkt der Welt blicken lassen, aber profane Darstellungen werden durch eine Exzentrizität ihrer Hauptfiguren besser die historische Natürlichkeit andeuten, durch welche diese in irgend ein Bruchstück der Welt gesetzt worden sind."

    So beachtenswert diese Bemerkungen eines unserer scharfsinnigsten Ästhetiker sind, möchte ich sie doch nicht ganz unterschreiben, indem ich zwar bis zu gewissen Grenzen die Tatsache zugestehen, aber den Grund derselben anders auffassen möchte. Wenn in einer Landschaft eine exzentrische Stellung des Gegenstandes, der aus irgend welchen Gründen am meisten geeignet ist, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, vorteilhaft erscheint, so liegt meines Erachtens der Hauptgrund darin, daß, wenn eine zentrale Stellung zur übrigen Aufdringlichkeit desselben noch hinzutritt, die Aufmerksamkeit leicht so stark darauf fixiert wird, daß das Bild hauptsächlich um des Gegenstandes willen, die Landschaft nur als dessen nebensächliche Umgebung da zu sein scheint, was dem Gesamteindrucke schadet, da der Eindruck einer Landschaft sich nicht von einem Punkte aus verbreiten sondern aus dem Ganzen zusammenweben soll, wonach es für eine Landschaft prinzipiell gar keinen Hauptgegenstand in demselben Sinne als für ein historisches oder religiöses Bild gibt. Durch die exzentrische Stellung nun wird der auffällige Gegenstand auf den ihm zukommenden landschaftlichen Wert herabgedrückt.

    Andere Bilder als Landschaftsbilder anlangend, so liegt vielfach das Hauptgewicht vielmehr auf einer Hauptszene, Hauptgruppe, Haupthandlang, wozu verschiedene Personen in verschiedenem Verhältnis beitragen, als auf einer einzelnen Figur, wonach dann allerdings keine einzelne Anspruch auf die Stellung in der Mitte hat; aber die Szene, Gruppe, Handlung, um die es sich in der Hauptsache handelt, hat doch die Mitte einzunehmen, und sieht man wirklich im Allgemeinen dieselbe einnehmen. Daß bei religiösen Bildern, wo eine einzelne Person durch ihre Bedeutung das Ganze beherrscht, diese Person die Mitte einnimmt, wird auch von Lotze nicht bestritten, und bei Porträts wie bei isolierter Darstellung von Hauptwerken der Architektur wird man die Stellung in der Mitte selbstverständlich finden, ohne den Eindruck einer störenden Absichtlichkeit davon zu besorgen oder zu erfahren, was sich auch leicht dadurch erklärt, daß wir ja selbst im Leben uns absichtlich jedem Gegenstande, dem wir unser Interesse zuwenden, gerade gegenüberstellen, und unseren Blick nebensächlich von da nach beiden Seiten schweifen lassen.

    Da wir überhaupt von jedem Bilde den Eindruck haben, es sei ein aus der Wirklichkeit heraus geschnittenes Stück; so kann ein Bild mit dem Hauptgegenstande (oder der Hauptgruppe) in der Mitte uns im Grunde weniger leicht den Eindruck einer unnatürlichen Mittelstellung des Gegenstandes als einer zweckmäßigen Weise, das Stück herauszuschneiden und uns darzubieten, machen, was wir vielmehr nur wohlgefällig als mißfällig empfinden können. Wenn freilich eine einzelne Dame im Bilde sich vor dem Spiegel an der Wand putzt, kann sie nicht in die Mitte gestellt werden, um uns nicht den Rücken zuzukehren; und so kann es überhaupt manche Nebenmotive geben, welche nötigen, von der Mittelstellung der Hauptsache abzuweichen; als Hauptregel scheint sie mir doch festzuhalten.

    U. a. gedachten wir auch der Größe als eines stilistischen Mittels, die Bedeutung einer Hauptfigur gegen andere Figuren hervorzuheben. Es kann aber eine vorwiegende Größe der Hauptfigur teils dadurch erzielt werden, daß sie mehr in den Vordergrund gerückt wird und hiermit optisch größer erscheint, teils dadurch, daß sie mit symbolischer Bedeutung als wirklich größer dargestellt wird.

    Die Hauptfigur jedenfalls nicht in den Hintergrund zu schieben, vereinigen sich überhaupt mehrere stilistische Gründe. Indem sie sich damit verkleinert, uns entfernter scheint, das Detail derselben sich verwischt, zieht sie unsere Aufmerksamkeit weniger auf sich, läuft auch mehr Gefahr, durch Nebenfiguren verdeckt zu werden; doch wird man sie außer in dem Falle, daß sie als Halbfigur geradezu vom unteren Bildrande durchschnitten wird, nicht leicht im äußersten Vorgrunde an diesem Rande erblicken. Denn einmal wird abgesehen von besonderen Bestimmungsgründen das Auge nicht am meisten vom Rande, sondern von der Mitte des Bildes angezogen, und die Hauptfigur würde auch nach der Höhenrichtung in diese Mitte zu versetzen sein, wie es nach der Breitenrichtung geschieht, wenn sie nicht eben zu sehr in den Hintergrund damit träte; zweitens besteht das Bedürfnis, mit dem Hauptgegenstande etwas von der Umgebung desselben mitzugeben, wobei ein Teil der untergeordneten Figuren von selbst mehr dem Vordergrunde zufällt. In sofern aber diese dadurch einen gewissen Vorteil vor der Hauptfigur im Mittelgrunde gewinnen, ist Sorge zu tragen, daß sie nicht durch Sorgfalt der Ausführung, Beleuchtung, auffallende Gewandung den Vorteil ihrer Stellung zu sehr verstärken; und man kann z. B. sagen, daß in dieser Hinsicht in dem berühmten Lessingschen Gemälde, Huss vor dem Scheiterhaufen, das stilistische Maß nicht ganz richtig eingehalten erscheint.

    Eine symbolische Verwendung überwiegender Größe zur Bezeichnung überwiegender Bedeutung einer Hauptfigur kommt meist in zu harten Widerspruch mit der Naturwahrheit, um häufig Platz zu finden, und lächerlich würde es z. B. sein, wollte man ein Christkind aus diesem Grunde größer, als die Erwachsenen, die es umgeben, darstellen. Dagegen sieht man nicht selten in älteren Bildern die Madonna riesengroß gegen die vor ihr oder unter ihrem Mantel knienden irdischen Figuren gehalten; und auch die Griechen haben sich dieses Mittels zuweilen bedient, die überwiegende Bedeutung von Göttern oder Heroen hervorzuheben. An dergleichen muß man sich doch gewöhnt haben, um es zu vertragen.

    Endlich kann auch die Farbenverteilung stilistisch nach der Bedeutung der Gegenstände abgewogen werden; und Sandrart (T. Akad. 1678. 63) gibt in dieser Beziehung folgende sehr bestimmte Regeln, die natürlich, wie alle solche Regeln, nur so weit durchzuführen sind, als sie nicht in Konflikt mit anderen, sie überbietenden, Regeln treten.

    "Man muß die Farben also anlegen, daß das fürnemste im ganzen Werk vor allen zum reichsten, leichtesten und schönsten hervorkomme. ... Man hat die gemeine und dienstmäßige Personen der Figur mit schlechten oder gebrochenen Farben beizubringen, als wodurch die fürnehmern ein mehreres Ansehen gewinnen. ... Der Künstler hat sich dessen jederzeit zu befleißen, daß die prinzipalen Personen mit den stärksten annehmlichsten Farben coloriert, am lichtesten besten Ort zu stehen kommen.... hingegen sind die gemeinen dunkeln Farben eigentlich und am besten dienlich zu den gemeinen Personen, die abseits in einem Winkel und Ecke stehen."

    Nicht minder verlangt die Art der Bedeutung ihre stilistische Rücksicht in Verwendung der Farben. Wenn es einmal hergebracht ist, aus welchem Grunde es immer sein mag, eine gegebene Persönlichkeit in ein Gewand von bestimmter Farbe zu kleiden, wie die Madonna seit einigen Jahrhunderten in Rot und Blau, so ist es stilmäßig, sie auch ferner darein zu kleiden, um sie um so leichter erkennen zu lassen, und nicht eine Frage nach der Abweichung anzuregen, für die sich keine Antwort geben läßt, als das Belieben des Künstlers. Ließe sich freilich eine andere Antwort in einem bestimmten Motiv finden, was die Stilrücksicht überwöge, so könnte auch die Abweichung gerechtfertigt sein.

    Abgesehen von Konventionen haben Farben einen gewissen Stimmungscharakter, vermöge dessen sie stilistisch besser da- oder dorthin passen können. Soll ein Gemälde seinem ideellen Gehalte nach einen ernsthaften Eindruck machen, so würde es gegen den Stil sein, es in heiterer Färbung und Beleuchtung darzustellen; wogegen man mehrfach in älteren wie neueren Bildern gefehlt findet. So war mir eine Grablegung von Fiesole in der Gallerie der Akademie zu Florenz merkwürdig durch den sehr heiteren Farbeneindruck, den sie in Widerspruch mit dem Charakter der Aufgabe machte. Alle Figuren darin mit hellroten und lichtblauen Gewändern, blondem Haar, viele mit goldenen Heiligenscheinen, wie zu einem heiteren Feste stimmend. In anderen Bildern von Fiesole erfreut uns dieser heitere Charakter, hier macht er sich als Manier geltend. Auf der zweiten Leipziger Kunstausstellung sah ich ein Bild, wo durch den Himmel fliegende Engel die Leiche des Moses (einer Sage gemäß) in eine Höhle tragen. Die Engel hatten papageienbunte Flügel, und widersprachen damit der Stimmung, die das Bild erwecken sollte.

    In Verteilung des gesamten Stoffes eines Bildes gilt es stilistischerseits, zwei Extreme zu vermeiden, eine zu gehackte, zerklüftete, das Einzelne isolierende, und eine zu sehr in einander klumpende, den Blick verwirrende, Darstellung, wie man sie namentlich bei Schlachtenbildern häufig findet. Die Vorstellung verlangt eben so, am Faden anschaulicher Mittelglieder durch das ganze Bild geführt zu werden, als die Gliederung der Idee in einer anschaulichen Gliederung und demgemäßen Trennung ausgesprochen zu finden. Also gilt es, Gebundenheit und Klarheit der Darstellung zu vereinigen.

    Nicht minder verlangt der Stil, daß man dem Gegenstande, um dessen Darstellung es hauptsächlich zu tun ist, weder zu wenig, noch zu viel Umgebung mitgebe, jedenfalls so viel, als zur Bezeichnung, Erläuterung und kräftigen Entwickelung der Bedeutung des Gegenstandes nötig ist, sofern sich solche bei völliger Isoliertheit desselben gar nicht geltend machen kann, und nicht mehr, als dazu nützlich ist, da sonst die Aufmerksamkeit zu sehr zerstreut wird. Ich sah ein großes historisches Bild von Haach in Düsseldorf, darstellend, wie der schlafende Christus von den Aposteln im Schiffe auf stürmischem Meere geweckt wird, die Apostel machen erschreckte und angstvolle Mienen und Gebärden; aber vom Meere sieht man nichts, als etwas in den vier Ecken des Bildes und eine in das Schiff hinaufschlagende Woge; das Schiff füllt ziemlich das Bild. Hier ist von der äußern Ursache, an der die ganze Bedeutung der Szene hängt, zu wenig mitgegeben, und damit der Phantasie eine ergänzende Leistung aufgebürdet, die statt den Eindruck des Ganzen zu verstärken und zu beleben, ihm Abbruch tut. Anderseits sieht man wohl historische oder genrehafte Szenen so in eine weite Landschaft eingebaut oder die Staffage einer Landschaft so anspruchsvoll vortretend, daß der Eindruck, den jedes beider Elemente machen könnte, durch das Schwanken zwischen beiden leidet, indem jedes mehr bietet, als was sich wechselseitig unterstützt.

    Beispielsweise erläutert sich dies durch folgende Beurteilung einiger Bilder von Gentz, die sich auf der Berliner Ausstellung von 1864 fanden, in den Dioskuren 1864. S. 370. Sie stellen eine Karavane und ein Beduinenlager dar. Hier nimmt der landschaftliche Hintergrund einen so bedeutenden Platz ein "daß das Figürliche darin fast zur bloßen Staffage herabgesetzt scheint." Indem nun Beides, Landschaft und Figurenkomposition "einen dem Grade nach gleichen, dem Inhalte aber nach verschiedenen Anspruch auf die Teilnahme machen, wird die Aufmerksamkeit zu sehr zwischen beiden geteilt und kommt kein einheitlicher, die Seele ganz erfüllender, Eindruck zu Stande"; die Bilder erreichen, trotz der großen Virtuosität und technischen Sorgfalt ihrer Durchführung nicht die Wirkung, welche sie hervorbringen würden, wenn sei es das genrehafte oder das landschaftliche Element das andere entschieden überwöge.

    Mag es an vorigen Beispielen von Stilrücksichten nach erster Seite genug sein; und nur um Beispiele konnte es sich hier handeln.

    Die zweite Seite des Stils anlangend, so kümmert sich die Natur auch nicht darum, die Mittel, durch die sie ihre Zwecke zu erreichen sucht, in möglichst wohlgefälliger Weise darzubieten; der Stil hat sich darum zu kümmern.

    Wenn jemand einen Arm nach etwas ausstreckt, so kann er es in ungefälliger, eckiger, plumper, steifer oder in anmutiger, den Eindruck gefälliger Leichtigkeit machender, Weise tun; der Zweck kann beidesfalls gleich gut erreicht sein; aber man wird die letztere Bewegung lieber sehen. So kann dieselbe Idee allgemeingesprochen mit (sei es direkt oder assoziativ) ungefälligeren oder wohlgefälligeren Formen, Zügen gleich gut erfüllt werden, und es ist Sache des Stils, die letzteren vorzuziehen, nur eben mit Rücksicht, daß doch die Idee gleich gut erfüllt wird, oder, wenn nicht, daß von der Stilseite mehr gewonnen, als Seitens der Angemessenheit zur Idee verloren wird.

    Goethe sagt einmal (gegen die Skizzisten 4): "Die bildende Kunst soll durch den äußeren Sinn zum Geiste nicht nur sprechen, sie soll den äußern Sinn selbst befriedigen. Der Geist mag sich alsdann hinzugesellen und seinen Beifall nicht versagen."

            4) Propyläen S. 36.

    Dies tritt in die zweite Stilforderung hinein. Es kommt nicht bloß darauf an, dem Geiste etwas zu bieten, dessen Sinn gefällt, sondern es auch in einer Weise zu bieten, die gefällt.

    Hiernach drücken wir die zweite Stilforderung so aus: unter den durch die sachliche Angemessenheit oder Forderung der Idee und durch die Stilrücksichten aus ersterem Gesichtspunkte gestatteten Formen und Verhältnissen der Darstellung sind die vorzuziehen, welche auch abgesehen davon, — was wir hier Kürze halber an sich nennen wollen 5) — am besten gefallen; — wofür wir aber auch setzen können: unter verschiedenen Weisen, wie sich eine Idee näher bestimmen läßt, ist unter sonst gleichen Umständen eine solche vorzuziehen, für welche eine an sich wohlgefälligere Darstellungsform angemessen, ist. Beides aber kommt im Grunde auf Eins heraus, nur daß es manchmal bequemer sein kann, sich dieser oder jener Ausdrucksweise zu bedienen. In der Tat, jede andere Darstellungsform entspricht von selbst einer anders modifizierten Idee; der Künstler aber hat bis zu gewissen Grenzen die Freiheit, jede allgemeine Idee so oder so modifiziert darzustellen, und er hat die vorteilhafteste Modifikation vorzuziehen.

5) Anderwärts ist das direkt Wohlgefällige als an sich Wohlgefälliges dem assoziativ Wohlgefälligen gegenübergestellt worden, womit der jetzige Gebrauch nicht zu verwechseln ist.
 
 
    Die Rücksichten, welche aus diesem zweiten Gesichtspunkte des Stils zu nehmen sind, werden sich eben so wenig als die, welche unter den ersten treten, durch Betrachtungen erschöpfen und anders in Regeln bannen lassen, als daß man zu jeder Regel zufügt: sie gilt nur so weit, als sie nicht durch andere Regeln, mit denen sie in Konflikt kommt, beschränkt oder überwogen wird. Ziehen wir auch hier Einiges beispielsweise in Betracht, ohne dabei vermeiden zu können, in manche früher angestellte Betrachtungen zurückzugeraten.

    Namentlich ist es das Prinzip der einheitlichen Verknüpfung des Mannigfaltigen, von welchem wichtige Stilrücksichten zweiter Art abhängen. Sollte es allein und bloß betreffs der anschaulichen Seite des Kunstwerkes in Betracht kommen, so würde eine symmetrische oder überhaupt auf eine leicht faßliche Weise zurückführbare Anordnung der gesamten Komposition das Vorteilhafteste sein; und durch alle Gegenrücksichten macht sich dieser Vorteil doch wie früher bemerkt stilistisch in so weit geltend, daß man nicht nur religiösen Bildern eine angenähert symmetrische Anordnung zu geben liebt, sondern auch in Bildern jeder Art eine gewisse gleiche Abwägung der Massen von beiden Seiten fordert. (Th. I. 181.) Aber im Allgemeinen ist doch das Hauptgewicht in Werken bildender Kunst auf die Festhaltung einer ideellen Verknüpfung des Mannigfaltigen zu legen, was in eine allgemeinere und höhere Kunstregel hineintritt. Anderseits ist der zweiten Seite des Prinzips der einheitlichen Verknüpfung Rechnung zu tragen. Das heißt, in so weit das Gefühl einer gemeinsamen Unterordnung unter die Alles verknüpfende Idee nicht leidet, was sich durch den Eindruck der Zersplitterung verraten würde, ist die Mannigfaltigkeit möglichst ins Spiel zu bringen, um der Monotonie entgegenzuwirken, und sind demgemäß Stellungen, Wendungen, Ausdrucksweisen der Figuren möglichst zu variieren. Auch sieht man dies Stilprinzip von den Künstlern überall befolgt, sehr oft freilich über das, was Gegenrücksichten gestatten, hinaus befolgt.

    Wohl das schönste Maß in Abwägung aller stilistischen Rücksichten überhaupt, wie der Eindruck selbst beweist, namentlich aber auch in jetzt besprochener Hinsicht, bietet die Raphaelsche Sixtina dar. Die Hauptanordnung ist von erster Seite des Stils so einfach klar, daß es Niemandem erst eine Mühe macht, eine Figur im Bilde oder einen Gedanken über das Bild zwischen anderen herauszuwickeln, und doch, welch’ unerschöpflicher Reichtum von Bewegung, Ausdruck, tiefer und erhabener Empfindung liegt in dieser Einfachheit und Klarheit und quillt im Eindruck daraus hervor. Die zweite Seite des Stils anlangend, so ist die Hauptanordnung symmetrisch, und wie schlecht würde es sich ausnehmen, wenn eine von den beiden Nebenfiguren viel näher an die Hauptfigur gerückt wäre als die andere; aber die Symmetrie ist allenthalben von lebendiger Bewegung durchbrochen. Der heilige Sixtus steht in etwas anderer Höhe als die heilige Barbara, und man sagt sich: er dürfte nicht gleicher damit stehen, um nicht, nachdem schon die Seitenstellung nahe gleich ist, vollends den Eindruck einer mechanisch erkünstelten Symmetrie zu Stande kommen zu lassen; aber auch nicht viel verschiedener, um die wohltuende Annäherung an die Symmetrie nicht ganz zu zerstören. Nun aber trägt zum stilistischen Leben und hiermit Reize des Ganzen bei, daß der heilige Sixtus von seinem etwas tieferen Stande in andachtsvoller Erhebung aufwärts, die heilige Barbara von ihrem etwas höheren Stande in demütiger Abwendung von dem Glanze der himmlischen Erscheinung abwärts blickt, indes die Madonna über beiden und zwischen beiden gerade durchblickt, das Christkind aber etwas seitlich blickt, Alles durch die Natur der Aufgabe vielmehr zugelassen als gefordert.

    Eine Durchführung desselben Prinzips lebendig durchbrochener Symmetrie kann man in dem Holbeinschen Madonnenbilde finden. In der Tat auch hier ist die Hauptanordnung symmetrisch in Beziehung zur Hauptfigur; aber die sechs Nebenfiguren, je drei zu jeder Seite, verschieben sich so gegen einander und zeigen eine solche Mannigfaltigkeit in Wendung ihrer Figuren und namentlich Köpfe, daß dadurch dem Bedürfnis einer lebensvollen Mannigfaltigkeit in vollem Maße genügt wird. Und auch hier dürfte man nicht viel daran ändern, etwa die drei weiblichen Figuren in eine Reihe rücken, oder die mittelste eben dahin sehen lassen, wohin die beiden anderen sehen, oder die geneigte Stellung der mittelsten männlichen Figur gegen die beiden anderen aufgeben, sollte nicht dem Reize der Gruppierung durch die verminderte Mannigfaltigkeit wesentlicher Abbruch geschehen. Nur ist hier nicht eben so wie in der Sixtina mit dem stilistischen Vorteil der Mannigfaltigkeit zugleich der einheitliche ideelle Eindruck gewahrt, indem mehrere Figuren sich um andere Dinge als den Gegenstand der Andacht zu kümmern scheinen, während in der Sixtina die ganz verschiedenen Weisen, wie sich der heilige Sixtus und die heilige Barbara benehmen, nur zwei durch den verschiedenen Charakter der Persönlichkeiten modulierte Ausdrucksweisen andächtiger Verehrung desselben Gegenstandes sind. In dem Holbein’schen Bilde ein Auseinanderfallen, in dem Raphael’schen ein Auseinanderspannen.

    Um den stilistischen Vorteil der Vermannigfachung der Stellungen und Wendungen überhaupt schätzen zu lernen, braucht man nur den vorigen Bildern gegenüber so viele altdeutsche, z. B. Cranach’sche Votivbilder zu betrachten, wo die Glieder der Stifterfamilie orgelpfeifenartig mit gleicher Wendung der Köpfe, gleichem Ausdruck, neben oder hinter einander knien, oder auch so manche photographische Familienbilder, wo alle Glieder, um sich ganz voll zu präsentieen, pappelartig neben einander in aufrechter Stellung oder sitzend mit aufrechtem Oberkörper, geradegehaltenem Kopfe, das Gesicht dem Beschauer zuwenden, was freilich nicht bloß gegen den Stil, sondern zugleich gegen die sachliche Angemessenheit ist, denn es gibt kein natürliches Verhältnis, welches die Glieder einer Familie veranlassen könnte, sich so zu einander zu stellen oder neben einander zu setzen; wäre es aber der Fall, so dürfte es doch aus stilistischen Gründen nicht zum Abbild gewählt werden, weil es an sich durch Monotonie ungefällig ist. Auch suchen etwas künstlerisch gebildete Photographen dem Stilnachteil dadurch zu begegnen, daß sie die Personen so zurecht rücken und schieben, daß eine gewisse Mannigfaltigkeit der Stellungen und Wendungen dabei herauskommt, nur daß sie freilich nicht damit erzielen können, was der Künstler erzielt, wenn er die Figuren aus einem einheitlichen Gesichtspunkte in seinem Kopfe so stellt, daß die Mannigfaltigkeit der Stellungen und Wendungen nur als die natürliche Gliederung eines solchen Gesichtspunkts erscheint, und die Idee vielmehr dadurch in Einzelheiten ausgeführt wird als in solche zerfährt.

    Nun muß man sich freilich nicht einbilden, daß den Künstlern im Zustande der Begeisterung überall gleich diese vorteilhafteste Ausführung vorschwebt, mag es auch bei genialen Künstlern in glücklichen Momenten der Fall sein — in der Begeisterung für die Kunst traut oder mutet man der Begeisterung des Künstlers in der Tat leicht zu viel zu —. Die Künstler wissen aber sehr wohl, daß ein Teil des Reizes der Ausführung in der Vermannigfachung liegt, und die Stellung der Figuren im Kopfe der meisten Künstler auf Grund dieses Wissens mag sich von der äußeren Stellung durch den Photographen mit Hin- und Herschieben und Rücken oft bloß dadurch zum Vorteil unterscheiden, daß die inneren Figuren nicht so unbeholfen und unvollständig den Versuchen nachgeben als die äußeren, kurz daß der Künstler sie mehr in der Gewalt hat. Daß aber in der Tat diese Stilregel oft vielmehr nur nach einem äußerlichen Wissen von derselben als einem Gefühl, das auch die Grenzen ihrer Anwendbarkeit kennt, befolgt wird, ergibt sich daraus, daß die Grenzen nicht selten überschritten werden. Zum Beispiel:

    Wenn es größere Versammlungen oder Aufzüge von vielen Personen darzustellen gilt, so ist unserm Stilprinzip freilich in gewisser Hinsicht der größte Spielraum geboten und erscheint die Forderung desselben am dringendsten, um der Monotonie zu entgehen. Nun aber sieht man doch bei wirklichen Versammlungen und Aufzügen vielmehr die Hauptmasse der Beteiligten in gleichem Sinne gestimmt, gewandt, gestellt, und erhält nur dadurch den kraftvollen Eindruck eines Alle einigenden Anlasses und einer einheitlichen Massenwirkung. Will der Künstler hier die stilistische Rücksicht der Vermannigfachung unbeschränkt walten lassen, so wird er diesen Eindruck, um den es ihm aus höherem Gesichtspunkte als dem der äußeren Stilrucksicht zu tun sein muß, zerstören; es würde der Eindruck eines zerfahrenen Wesens daraus entstehen; also gilt es gerade hier eine sehr maßvolle Anwendung unseres Stilprinzips. Doch findet man nicht selten der unrecht angewandten Stilrücksicht in dieser Hinsicht den Sinn geopfert; und noch kürzlich sähe ich in einem übrigens ganz interessanten Bilde; was einen Leichenzug von Mönchen darstellte, den Ausdruck der Mienen und die Wendung der Köpfe so variiert, daß über dieser malerischen Mannigfaltigkeit der einheitliche Zug des Zuges ganz verloren ging, und es aussah, als hätte jeder eine andere Art Trauermedizin eingenommen.

    Wo sich der Künstler so zu sagen eine Güte in Anwendung des Prinzips tun kann, und auch nicht verfehlt es zu tun, ist die Darstellung eines Kampfgewühles; weil die ausgiebigste Benutzung des Prinzips hier ganz in den Sinn der Aufgabe hineintritt; nur trägt die Aufgabe, ein Gewühl darzustellen, selbst schon den Charakter der Zerfahrenheit und wird man sich nicht leicht von der Darstellung recht erbaut finden, wenn nicht wenigstens eine Hauptszene des Kampfes die Aufmerksamkeit zu zentrieren vermag.

    Manche Bilder gibt es, die in der äußerlichen mechanischen Durchführung unseres Stilprinzips so zu sagen aufgehen, und doch mit einer Zutat hübscher oder gerührter Gesichter ohne andere Vorzüge noch einen Effekt beim großen Publikum machen, wozu ein erläuterndes Beispiel in Mises kl. Schr. S. 423 besprochen ist.

    Nicht minder als zwischen verschiedenen Figuren eines Bildes macht sich das stilistische Prinzip der Mannigfaltigkeit hei jeder einzelnen geltend. So ist es im Sinne desselben, daß verschiedene Teile des Körpers, die sich gegen einander bewegen können, statt in einfacher Fortsetzung von einander oder parallel mit einander, vielmehr in irgend einer Winkelstellung gegen einander dargestellt werden. Nur daß auch hier die beschränkende Rücksicht bestehen bleibt, daß alle Verschiedenheit durch ein einheitliches psychisches Motiv gebunden erscheinen und dieses sich der allgemeinen Idee des Kunstwerkes, in welches die Figur eingeht, unterordnen muß. Jedes Zuviel aber wird eben so durch den Widerspruch mit der sachlichen Angemessenheit oder den Forderungen der Idee wie dadurch verboten, daß es ins Eckige, Schroffe, und dadurch von anderer Seite ins Stilwidrige hineingerät (vgl. Th. I. S. 61).

    Bei selbständiger Darstellung einzelner Figuren wie im Portrait oder in der Plastik macht sich natürlich diese Stilregel mit noch größerem Nachdrucke geltend als in zusammengesetzten Gruppen; und welche plastische Figur man ansehen will, man wird die Sorgfalt bemerken können, mit welcher die Künstler vermeiden, wider diese Stilregel zu sündigen. Zwar hat man, wenigstens nach den altägyptischen Figuren zu schließen, mit der Sünde dagegen begonnen, hat aber auch an dem Eindrucke derselben das augenfälligste Beispiel von dem daran hängenden Nachteile. Bei den klassischen Figuren selbst von ruhigster Haltung ist hiergegen kein Gelenk ganz müßig.

    Wieder freilich hält diese Stilregel wie jede gegen überwiegende Forderungen der Idee nicht Stich. In dem Raphaelschen Tapetenbilde, der Predigt von Paulus, steht Paulus so zu sagen wie ein starrer Wegweiser mit rechtwinklig ausgestreckten parallelen Armen da; also zum Teil mit weniger Bewegung, zum Teil mit gleichartigerer Bewegung, zum Teil mit schrofferer Bewegung, als der allgemeinen Stilregel entspricht. Aber er soll auch wie ein Wegweiser dastehen, der ganz darin aufgeht, die eine Richtung zu zeigen, die zu gehen Allen not tut; gegen die Macht dieser Idee hält keine äußere Stilregel Stich. Doch würde man nicht wagen, Paulus als Einzelfigur so darzustellen, weil abgesehen vom fehlenden Motiv dazu die Stilrücksicht sich hier mit verhältnismäßig größerem Gewichte geltend machen würde.

    Leonardo da Vinci in s. höchst nützlichen Traktat von der Malerei 1747. Nürnberg, p. 6. 14. Observat. gibt folgende Regeln. "Nehmet in Acht, daß in eueren Figuren der Kopf niemals auf die Seite stehe, wo sich die Brust hinwendet, noch daß der Arm dem Bein gleich gehe. Wo ferner sich der Kopf gegen die rechte Achsel wendet, so machet, daß sich seine Teile ein wenig von der linken Seite abneigen. So die Brust sich aufwärts kehrt, so drehet den Kopf gegen die linke Seite, und die Teile der rechten Seite sollen viel höher sein, als die von der linken."

    Aber nicht die Verhältnisse von Figuren allein sind es, in denen sich das stilistische Bedürfnis, der Langweiligkeit zu wehren, geltend macht. Jede größere leere oder monotone Fläche in einem Bilde droht in dieser Hinsicht Gefahr und muß so viel es irgends der Sinn des Bildes erlaubt, vermieden werden; ja es kann das stilistische Bedürfnis in dieser Hinsicht dringend genug werden, um selbst von der sachlichen Angemessenheit mehr oder weniger zu opfern, und Alles mehr zusammenzurücken, als es der Natur der Sache nach sein könnte, wobei übrigens auch das Bedürfnis, Vieles in engem Raume übersichtlich zusammengehalten zu geben, in Rücksicht kommt; man kann aber auch zu weit darin gehen, und durch zu dichte Ausfüllung des Raumes mit der stilistischen Rücksicht von erster Seite, Alles klar auseinander zu halten, in Konflikt geraten. Erwähnen wir Einiges beispielsweise:

    Ein nettes erläuterndes Beispiel der Anwendung und Wirkung jetziger Stilregel kann man in dem lose um die Taille der Holbeinschen Madonna geschlungenen und in langen Zipfeln herabhängenden roten Bande finden. Sachlich war es nicht gefordert; aber man denke es sich weg, und man hat eine große Einöde in dem langfaltigen dunkeln Gewande, die nun durch dies einfache Mittel anmutig belebt worden ist. In dem Darmstädter Exemplare ist überhaupt Alles enger zusammengeschoben, im Dresdener mehr auseinandergehalten. Der Konflikt zwischen beiden Stilvorteilen macht sich hier dadurch geltend, daß Manche die vollkommnere Raumausfüllung dort, Andere, denen ich mich anschließe, die klarere Auseinanderhaltung hier vorziehen. In manchen anderen altdeutschen Bildern aber ist der Raum so mit durcheinander geschobenen Figuren ausgefüllt, daß alle Klarheit verloren geht. Entsprechendes kann man freilich auch von antiken Reliefs an Sarkophagen bemerken; aber ich glaube, daß hierbei hauptsächlich folgendes Motiv bestimmend war. Die Wand eines Sarkophags hat die Hauptbestimmung, den Toten einzuschließen, und nur die Nebenbestimmung, ein Bildwerk aufzunehmen. Tritt dies in einzelnen Vorragungen hervor, und stört dadurch erheblich die gleichförmige Erscheinung der Wand, so geht der Charakter des ersten Zwecks mehr verloren, als wenn sich die Figuren so eng drängen, daß sie fast wieder eine gleichförmige Grenzfläche und damit Wandfläche geben; die Wand scheint erstenfalls mehr zur Unterlage für das Bildwerk, als zum Einschluß für den Toten bestimmt, kurz verrät mehr eine Bestimmung nach Außen als nach Innen, was vermieden werden soll. Es ist derselbe nur in umgekehrter Richtung angewandte Gesichtspunkt, nach welchem man Freskobildern auf einer Wandfläche keine große scheinbare Tiefe gibt.

    Eine drastische Erläuterung unsrer jetzigen Stilregel bietet sich in folgendem Geschichtchen.

    Der Maler Platner in Rom hatte einen Carton von der Szene entworfen, wie Hagar ihren Sohn Ismael auf Bogenschußweite von sich legt; und ihn wirklich so weit von ihr gelegt, daß eine große Leere zwischen beiden blieb. Cornelius und Overbeck kamen in sein Atelier, da er gerade nicht zu Hause war; sahen mit Erstaunen dieses stilistische Meisterstück und gaben ihrem Urteil darüber dadurch einen Ausdruck, daß sie einen Ansatz nahmen und durch den Carton zwischen beiden Figuren durchsprangen; worauf Platner, als er nach Hause kam, mit Befremden ausgerufen haben soll: "das müssen ihrer zwei gewesen sein." So ist mir selbst das Geschichtchen erzählt worden. Nach Befragung von Cornelius durch Max Lohde verhält es sich freilich in Wirklichkeit etwas anders 6). Nicht Cornelius und Overbeck waren es, sondern der Graveur Matthäi, welcher durch das Bild hindurch-sprang, und dazu die Bemerkung machte: "Genau so viel, wie ich fortgesprungen, muß weg." Auch habe Platner nachher das Bild so verkürzt gemalt.

                6) v. Lützow's Zeitschr. III. 1868. S. 5.

    Das Colorit unterliegt von zweiter Seite her mindestens eben so wichtigen stilistischen Rücksichten als von erster Seite her, worüber sich schon Th. I. S. 182 einige Bemerkungen finden. Es gibt Bilder, in denen uns die Farben so zu sagen zugebrockt werden, und andere, in denen sie mit anmutigem Wellenschlage dahin fließen. Wie aber die Symmetrie in Bildern, die das Leben darzustellen haben, auch lebendig durchbrochen werden muß, kann die reine Farbenharmonie in Bildern, die etwas viel Höheres, als diese Harmonie darzustellen haben, nur durchbrochen, moduliert, in solcher Annäherung Platz greifen, daß der Angemessenheit zur höheren Aufgabe noch genügt wird.

    Inzwischen fehlt es nicht an Künstlern, die den Vorteil schöner Farbenwirkung zum Hauptgesichtspunkte des Bildes erheben; und daher teils Aufgaben vorziehen, die ihrer Natur nach Anlaß geben, eine solche im Bilde hervorzubringen, rücksichtslos ob die Aufgabe und Ausführung sonst interessiert, teils auch in Widerspruch mit der Natur der Aufgabe solche anbringen; wogegen andere mehr als billig den Vorteil derselben vernachlässigen, und alles Gewicht vielmehr auf die Komposition legen. Dies begründet den Gegensatz der sog. Coloristen und Komponisten. Derselbe Gegensatz findet unter den Beschauern statt, sofern die einen sich verhältnismäßig mehr um das Colorit, die anderen um die Komposition kümmern. Beides sind Einseitigkeiten, doch ist die Einseitigkeit der Coloristen verwerflicher als die der Komponisten; denn eine Komposition kann selbst in farblosen Umrissen noch großes Verdienst haben; aber nicht umgekehrt die Farbe ohne Komposition.

    Es dürfte nicht ohne Interesse sein, aus den, in weiterer Ausdehnung nachzulesenden, Stilregeln, welche Marggraf in F. und K. Kunstbl. 1844 bezüglich des Colorits gibt, folgende, als aus den Werken von Giorgione, Paolo Veronese, Tizian, Gallait u. a. abstrahierbar, besonders ausgehoben zu finden:

    "Bei Anwendung der stärksten, nachdrücklichsten und brillantesten Farbenkontraste ist die harmonische Haltung des Ganzen so entschieden ausgesprochen, daß nirgends eine einzelne Farbe oder ein einzelner Lichteffekt überwiegend vorherrscht, indem die einzelnen Farben- und Lichteffekte auf eine solche Art angebracht sind, daß ihnen auf der entgegengesetzten Seite des Bildes vom Mittelpunkte aus gleiche Farben und gleiche Lichteffekte entsprechen, wodurch alle störenden, harten und einseitigen Gegensätze aufgehoben und ins Gleichgewicht gestellt werden. Dabei bewegen sich die Nachbarfarben meist in vollkommenen Gegensätzen, indem eine durch die andere gehoben und zuletzt dennoch im Ganzen die vollendetste Harmonie erreicht wird. So sehen wir neben dem kälteren Blau und Blaugrün, Grün und Violet, das wärmere Gelb oder Rot, neben dem Rot und selbst neben tiefschwarzen Farben das Weiß erscheinen, nicht um selbstgefällig für sich zu herrschen, sondern die benachbarte Lokalfarbe um so entschiedener wirken zu lassen, während durch eine dritte Farbe, die ihrer Eigenschaft und Wirkung nach in der Mitte zwischen beiden steht, das hierdurch gewissermaßen aufgehobene Gleichgewicht ohne Zwang wieder hergestellt wird", u. s. w.

    Der Verf. erläutert diese Regeln an Beispielen aus den Werken der genannten Meister, vergißt aber nicht, zu erinnern, daß der Schematismus, den sie begründen, keineswegs als mechanisch streng bindend anzusehen sei, indem überall der Geist es sei, welcher lebendig mache.

    Recht bezeichnend für den Eindruck, den ein Werk von guter coloristischer Haltung auf solche zu machen vermag, die überhaupt für den Reiz derselben empfänglich sind, ist, was ein ungenannter Rezensent in einer Beurteilung von Lessings "Huss vor dem Scheiterhaufen" sagt:

    "Im Ganzen genommen ist das Werk kein eigentlich koloristisches Bild. Es fehlt ihm hierzu die einheitliche malerische Gesamthaltung, eine wohltuende Gliederung und Abstufung der Luft- und Schattenmassen und vor Allem jene volle Farbenglut und Farbenseligkeit, welche die großen Maler alter wie neuer Zeit als Merkmal der höchsten Meisterschaft an der Stirne tragen, es fehlt ihm deshalb auch der unwiderstehliche Reiz, den das wahrhaft koloristische Werk, noch ehe man überhaupt sich seines Gegenstandes hat bemächtigen können, wir möchten sagen, schon bei zwanzig Schritt Entfer-nung, auf jeden Beschauer ausüben wird."

    Die vielfältigsten Angriffspunkte für die Stilistik nach beiden Seiten zugleich bietet die Gewandung dar, indem die große Freiheit, welche Seitens der Idee oder sachlichen Angemessenheit im Allgemeinen bleibt, das Gewand so oder so zu wählen, zu legen und zu färben, stilistisch eben so zur deutlicheren Bezeichnung, Charakterisierung, als zur wohlgefälligeren Darstellung der Personen und selbst zu einer befriedigenden Haltung des Ganzen in Formen und Farben benutzt werden kann, worauf schon früher (Th. I.) Gelegenheit war Bezug zu nehmen. Ist es doch in dieser Hinsicht in der Kunst wie in der Natur, nur in der Kunst noch über die Natur hinaus. Die fundamentalen Motive für die Anwendung und Abänderung der Gewandung sind von Natur durch äußere Zweckrücksichten gegeben; aber daran schließen sich Motive für die Bezeichnung und Schmückung der Personen, verweben sich mit jenen Motiven und überwuchern solche sogar nicht selten. Die Kunst nimmt, insoweit sie eine nachahmende ist, das ganze Resultat davon in sich auf, die bunte Tracht des Türken wie die stattliche des Altspaniers; geht nun aber darüber hinaus, indem sie das, was danach noch frei bleibt, ihrerseits stilistisch zur Charakteristik und Schmückung der Personen und des ganzen Bildes verwendet.

    Bei der Gewandung von Persönlichkeiten aus dem Idealgebiete ist die Freiheit in dieser Hinsicht natürlich von vorn herein größer, als bei solchen aus dem Realgebiete, weil mit der ganzen Gestalt der Personen auch deren Gewand erdacht werden muß; nur wird diese Freiheit mehrfach durch Konventionen beschränkt. Nicht minder aber handelt es sich dabei um das Ob als das Wie der Bekleidung. Die griechischen Götter, Göttinnen und Heroen werden teils bekleidet, teils unbekleidet, der christliche Gott stets bekleidet, das Christkind in früheren Zeiten bekleidet, jetzt stets unbekleidet, erwachsene Engel bekleidet, Kinderengel unbekleidet vorgestellt. Es würde einiges Interesse haben, den Motiven hiervon näher nachzugehen, jedoch ein besonderes Studium und eine eigene Abhandlung fordern. Beschränken wir uns hier, das Gewand aus dem zweiten Gesichtspunkte der Stilistik etwas näher in Betracht zu ziehen.

    Es gibt so unordentlich zerknitterte gegenüber so schön fallenden Gewändern, daß man davon einen ähnlichen Eindruck wie von einem widrigen Geräusche gegenüber einem reinen Tonfalle hat. Es gibt Gewänder mit so hart und eckig gebrochenen Falten, daß das Auge bei jedem Fortschritte darüber stolpert, und wieder andere mit so parallelen Falten, daß es eben so gerne den Zinken eines Kammes folgte, beides nicht selten bei alten Madonnenbildern. Es gibt so steif bauschige Gewänder, daß sie vom Körper und den Seelenbewegungen nichts durchscheinen lassen, daß wir eben nur das Kleid, was für sich zu sehen kein Interesse hat, nicht die Person darunter sehen. Es gibt hiergegen Kleider, welche den Körper so futteralartig einschließen, das wir nur das Spiel des nackten Körpers, aber nichts von einem Spiele des Körpers mit dem Kleide, in welches jenes Spiel sich fortzusetzen und so zu sagen auszublühen vermag, wahrnehmen. Alles das, und selbst eine zu große Annäherung daran hat der Stil zu vermeiden. Nur freilich ist mit Vermeidung solcher Fehler d. i. Annäherungen an Extreme, der rechte Stil noch nicht gefunden; und nun hört man viel von einem Rhythmus der Linien in der Gewandung, dem Faltenwurf sprechen, ohne je im Stande gewesen zu sein, ihn anders als durch seine gefallende Wirkung und unbestimmte Ausdrücke zu charakterisieren. Meinerseits scheint mir diese gefallende Wirkung, nächst Vermeidung jener Extreme, wesentlich davon abzuhängen, daß wir erstens fühlen, die ganze Mannigfaltigkeit des Faltenwurfes stehe unter dem ordnenden Einflusse eines einheitlichen psychischen Prinzips, welches die ganze Gestalt stellt, bewegt und das Kleid unter Wahrung der natürlichen Bedingungen seines Stoffes mit bewegt, zweitens, daß uns dies psychische Prinzip selbst Beifall abgewinnt. Von erster Seite ist es die einheitliche Verknüpfung des Mannigfaltigen, was uns gefällt; aber die Lust daran möchte leicht unter der Schwelle bleiben, wenn sie sich nicht dadurch von zweiter Seite steigerte, daß wir in der Ordnung der Falten eine Ordnung des Geistes herausfühlen, die uns gefällt. Ein großartiger, ein würdiger, ein anmutiger, ein leichter Faltenwurf verdanken im Allgemeinen solchen Gründen ihre Wohlgefälligkeit. Wie wundervoll ist auch in diesen Beziehungen die Sixtina. Man glaubt schon in dem Schwunge des Gewandes der Madonna, der massiven Schwere des Kleides des Sixtus, und der Weise, wie sich das Kleid der heiligen Barbara zusammennimmt, die Höhe, die Würde, die Demut dieser Personen zu erkennen.

    Die Gesamtheit von all’ dem aber, was so zum Gefallen an einem Faltenwurfe beiträgt, ist es, was sich unklar im Ausdrucke eines schönen Rhythmus desselben zusammenfaßt. Denn um sich zu überzeugen, wie wenig dabei auf einen direkten, so zu sagen musikalischen Reiz, den man bei jenem Ausdruck im Auge zu haben pflegt, zu rechnen, braucht man sich das Kleid mit dem schönsten Faltenwurfe bloß abgezogen von aller Beziehung zum Menschen als reines Ding für sich vorzustellen, — was doch so schwer nicht sein kann — sich etwa zu denken, man fände ein solches Ding auf dem Felde gewachsen, und sich zu fragen, ob man an den rein anschaulichen Verhältnissen desselben noch Gefallen finden würde; womit nicht geleugnet, vielmehr oben ausdrücklich zugestanden ist, daß diese doch einesfalls günstiger liegen können als anderenfalls, wonach das Hilfsprinzip sie mit zur vorteilhaften Geltung bringen kann.

    Auch die Verzierungen bieten ein sehr ausgedehntes Feld für die Stilistik nach beiden Seiten des Stils zugleich dar, sofern sie zugleich bezeichnend und schmückend wirken können, und gewähren hiermit eine Fülle von Beispielen zur Erläuterung der allgemeinen Stilregeln; doch lassen wir ihre Betrachtung hier bei Seite, um vielleicht anderwärts darauf zurückzukommen.