XXIV. Über einige Hauptabweichungen der Kunst von der Natur.
  1. Verletzungen der Einheit des Raumes, der Zeit und der Person.

  2.     In gewisser Weise zählen zu den stärksten Abweichungen der Kunst von der Natur die Verletzungen der Einheit des Raumes, der Zeit und der Person. Um an einige Beispiele solcher Verletzungen in der bildenden Kunst zu erinnern, so sieht man in manchen Bildern, als von Raphael, Kaulbach, Rahl die Heroen einer längeren Kulturperiode, welche zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gelebt haben, in irgend welcher anschaulichen Verbindung und Beziehung auf demselben Bilde vorgestellt; in älteren Bildern mehrfach die ganze Leidensgeschichte Christi oder sonst biblische Geschichten in einem zusammenhängenden Felde in verschiedenen Szenen zugleich vorgeführt, in Votivbildern die Donatorenfiguren am Kreuze oder bei der Geburt Christi mit kniend dargestellt. Auch auf mittelalterlichen und antiken Basreliefs fehlt es nicht an hierher gehörigen, zum Teil sogar sehr gewaltsamen, Beispielen.

        "Die Bronze-Reliefs von Ghiberti (l. von 1378—1455) am Hauptportale des Baplisterium zu Florenz, von denen Michel Angelo sagte, sie seien würdig, die Pforten des Paradieses zu zieren, enthalten in 10 großen Feldern deren jedes ein zusammenhängendes Bild darstellt, Szenen des alten Testaments; und auf jedem dieser Felder sind verschiedene sukzessive Akte derselben Begebenheit neben einander dargestellt."

        "Auf dem ersten Felde wird 1) Adam von Gott geschaffen, 2) Eva von Gott. aus einer Rippe des schlafenden Adam geschaffen, 3) Adam und Eva von der Schlange verführt, 4) beide durch den Engel aus dem Paradiese vertrieben. Auf dem zweiten Felde wird 1) Kain als Ackersmann, Abel als Hirt vorgestellt, 2) das Opfer von Kain und Abel, 3) Totschlag des Abel durch Kain, 4) das Gespräch Gottes mit Kain; ähnlich durch alle 10 Felder fort."

        "Eben so ist es in den Malereien von Simone Memmi, Spinello Aretino, Benozzo Gozzoli u. A. im Campo santo von Pisa, welche ins 14te und 15te Jahrhundert fallen, gehalten. So sieht man auf einem Bilde von Benozzo Gozzoli (15. Jahrh.) 6 Szenen aus Abrahams Lebensgeschichte und, um ja keinen Raum unbenutzt zu lassen, auf demselben Gemälde noch als kleinere Nebenszenen verschiedene andere Szenen aus dem patriarchalischen Hirtenleben dargestellt, u. s. w."

        Bei den Kranach’s kommt dergleichen mehrfach, bei Holbein selten vor.

        Folgende Beispiele bezüglich antiker Basreliefs entnehme ich aus Tölken’s Schrift über das Basrelief.

        Apollonius von Rhodus beschreibt ein Bildwerk, das Wagenrennen des Pelops und Oenomaus um die schöne Hippodamia vorstellend. Oenomaus stürzt und Hippodamia, seine Tochter, befindet sich schon auf dem Wagen des Pelops. Hierzu bemerkt ein Ausleger, dieses solle nicht anzeigen, daß Hippodamia den Pelops bei dem Kampfe begleitet; sondern der Künstler habe beides, den Lauf und den Sieg, Tat und Erfolg der Tat, auf einmal zeigen wollen. — Auf den vielen Darstellungen des Raubes der Proserpina sieht man auf der einen Seite den Räuber, welcher die sich sträubende Jungfrau auf seinem Wagen entführt, und oft schon die geheimnisvollen Gestalten der geöffneten Unterwelt. In der Mitte ist Proserpina noch mit Blumenlesen beschäftigt, und am entgegengesetzten Ende erscheint schon die Mutter auf ihrem Schlangenwagen, mit brennenden Fackeln, um die verlorene Tochter zu suchen. Alle diese Momente sind durch nichts von einander getrennt; vielmehr sind die sämtlichen Figuren zu einer Komposition harmonisch zusammengeordnet. Oft vereinigen mit jenen sich sogar noch weit mehrere: die jungfräulichen Göttinnen, Gespielinnen der Proserpina, Venus und Amor, Mercur, die trauernde Tellus, die wehrenden Ströme, der verhüllte Tartarus, Heractes und Andre. — Auf dem schönen Sarkophage des Capitoliums, den Tod des Meleager vorstellend, finden sich die dazu gehörigen Momente in zusammenhängender Folge gerade so dargestellt, wie etwa ein epischer Dichter die Begebenheit vom entscheidenden Moment anhebend erzählen würde u.s.w.

        Die Einheit der Person kann in doppelter Weise verletzt werden, so daß dieselbe Person auf demselben Bilde zwei- oder mehrmals in verschiedenen Handlungen vorgestellt wird, was meist mit der vorigen Verletzung der Raum- und Zeiteinheit Hand in Hand geht, oder so, daß in derselben Figur zwei Personen zugleich vorgestellt werden, z. B. ein Beschützer der Künste porträtiert als Apoll, eine schöne Dame als Venus, eine vom Künstler verehrte Frau als Heilige, wovon sich bei alten italienischen und deutschen Künstlern, u. a. bei Holbein, Beispiele finden. 1)

        1) Nicht unwahrscheinlich kommen sogar in dem berühmten Holbein’schen Madonnenbilde beide Arten der Verletzung zugleich vor, indem man in dem obern nackten Kinde das Christkind und ein krankes Kind der Stifterfamilie in Eins vertreten, in dem untern dasselbe Kind als gesund, was oben krank (mit kranken Ärmchen) dargestellt ist, sehen kann. Doch ist der Streit über diese Deutungsverhältnisse bisher noch nicht ausgefochten.

        Nun vermag die Gewöhnung sehr viel beizutragen, die Nachteile solcher Verletzungen zu mindern, und es kann deshalb eine Zeit und ein Volk viel mehr davon vertragen, als ein andres. Also ist die Frage gleich darauf zu stellen, wie weit die Gewöhnung gehen kann und gehen darf, um nicht selbst zur nachteiligen zu werden; und hierüber werden sich wohl manche allgemeine Gesichtspunkte, aber keine festen Grenzen aufstellen, und kaum entscheiden lassen, ob das, was wir jetzt nach unserer Gewöhnung vertragen oder nicht vertragen, überall im Sinne der bestmöglichen Gewöhnung ist.

        Gewiß ist, daß der Kunst durch solche Verletzungen Leistungen möglich werden, womit sie die Natur weit überfliegt, indem sie Beziehungen dadurch in gewisser Weise anschaulich zu machen vermag, wofür uns die Natur selbst kein Mittel bietet, aber es ist doch nur durch eine gewaltsame Verletzung und Verleugnung der natürlichen, zeitlichen, räumlichen und persönlichen Grundbedingungen der Existenz, welche trotz aller Gewöhnung daran vom wirksamen Eindruck der Darstellungen immer etwas abzieht, und, wo sie über gewisse Grenzen hinaus geht, sicher ins Mißfällige ausschlägt.

        Übrigens hat man dabei zu unterscheiden. Wer in einem Genrebilde, das in der Hauptsache darauf berechnet ist, durch naturwahre Charakteristik zu interessieren und zu wirken, grobe Verletzungen der Einheit von Zeit, Raum und Person begehen wollte, würde die Hauptwirkung selbst dadurch notwendig stören und zerstören; wo es dagegen mehr um symbolische Darstellung religiöser Ideen zu tun ist, wird man verhältnismäßig weit in solchen Verletzungen gehen dürfen, ohne der Wirkung erheblich zu schaden; doch hat Alles seine Grenzen, die in allgemeinen Ausdrücken festzustecken, ich mir nicht getraue. Der Künstler wird natürlich wohl tun, nicht weiter in solchen Verletzungen zu gehen, als er die Gewöhnung daran voraussetzen kann; eine praktischere Regel läßt sich ihm nicht geben, und ein aprioristisch bestimmbares Maß darin überhaupt nicht finden.
     

  3. Absichtliche Beschränkung der Detailausführung. Weglassung von Nebendingen.

  4.     Als sehr allgemeine Stilregel gilt, die Ausführung in Werken der bildenden Kunst nicht zu weit zu treiben, ungeachtet man damit der Naturwahrheit näher käme. Überall in Bildern wie Bildwerken findet sich das mikroskopisch feinste Naturdetail, und oft viel mehr als dieses, vernachläßigt, und zwar nicht bloß aus Notwendigkeit, weil man ihm nicht nachkommen kann, sondern aus Freiheit. Denn es wird durchschnittlich in großen Gemälden mehr davon vernachlässigt als in kleineren, in historischen Gemälden von sogenanntem großen Stil verhältnismäßig mehr als in genrehaften, in Nebenfiguren und Nebendingen meistens mehr als in Hauptfiguren und Hauptsachen; wonach die Vernachlässigung noch andere Gründe haben muß, als das äußere Unvermögen der Kunst.

        Als nächsten Grund kann man anführen, daß nach Maßgabe als die Ausführung des Einzelnen vollendeter wird, die Aufmerksamkeit geneigter wird, sich darauf zu beziehen und dadurch beschäftigt zu werden, wodurch dem Haupteindruck des Ganzen Eintrag geschieht. An sich und unwillkürlich wird die Aufmerksamkeit durch jedes Detail geteilt, zerstreut, zersplittert, zugleich aber durch die Stellen, wo sich mehr Detail findet, mehr in Anspruch genommen, beschäftigt, als durch leere Stellen. So zeigt es sich schon in der Natur, in der Kunst aber weit mehr und mit größerem Nachteil für den Haupteindruck als in der Natur, aus dreifachem Grunde. Einmal sind wir eine ins Einzelnste gehende Ausführung in der Kunst nicht eben so gewohnt, als in der Natur, werden also mehr davon frappiert, dadurch gereizt, indes wir in der Natur so zu sagen abgestumpft dagegen sind. Zweitens trägt das früher (Abschn. 22) besprochene Interesse an vollkommener Nachahmung der Natur in der Detailausführung bei, die Aufmerksamkeit vom ideellen Gehalt, der sich in den Hauptzügen ausspricht, abzuziehen. Drittens macht sich das, was in der Natur als Hauptsache auftritt, durch den Zusammenhang, in dem es auftritt, die Präzedentien und die Umgebung nachdrücklicher als Hauptsache geltend, als im Bilde, was alle Mittel, die Aufmerksamkeit zu richten, in sich selbst darbieten, also auch die Ausführung der Gegenstände mit Rücksicht darauf abmessen muß, um den Nachteil, in dem es in dieser Hinsicht gegen die Natur steht, dadurch zu kompensieren.

        Wenn es freilich keine Kunst wäre, in der Vollendung der Detailausführung gleichen Schritt mit der Vollendung der Hauptzüge zu halten, und wir jener Vollendung in der Kunst überall eben so gewohnt wären, als in der Natur, so würde sich auch das Interesse und die Aufmerksamkeit dafür, hiermit die zerstreuende Kraft davon, in entsprechender Weise abstumpfen. Aber nicht nur, daß es unmöglich ist, die Detailausführung der Natur durch Kunst vollständig zu erreichen, ist es auch eben so langwierig als schwierig, ihr nur sehr nahe zu kommen. Deshalb abstrahiert die Kunst im Ganzen und Großen selbst von der an sich möglichen Feinheit der Ausführung, und jedes Mehr oder Minder fängt hiernach an, einen anziehenden oder abziehenden Einfluß auf unsere Aufmerksamkeit zu üben, der stilmäßig in vorteilhaftester Weise berücksichtigt werden muß.

        Sandrart 2) erzählt, er sei einmal mit dem kunstreichen van Laer zu Gerhard Dow gekommen, um ihn kennen zu lernen, und seine Arbeiten in Augenschein zu nehmen. Der Künstler habe sie höflich empfangen und ihnen bereitwillig seine Arbeiten gezeigt. Als sie aber unter Anderem den großen Fleiß gelobt hätten, welchen er auf einen Besenstiel gewandt, der um Weniges größer als ein Fingernagel war, habe er erwidert, daß er wohl noch an die drei Tage daran zu arbeiten habe.

            2) Teutsche Ak. 321.

        Dies Geschichtchen ist in doppelter Hinsicht instruktiv. Wer wird einem natürlichen Besenstiel seine Aufmerksamkeit wegen seiner Ausführung schenken; einem gemalten schenkt man sie, weil man sie gewöhnlich nicht da findet. Und wie lange brauchte Dow, um sich in der Ausführung des Besenstiels ganz befriedigt zu finden. Hätte nun Raphael auch zu jeder Kleinigkeit wie einem Besenstiel mehr als drei Tage gebraucht, wie viel Gemälde würden wir von ihm haben? Die Kunst aber hat sich so zu sagen gesagt: um des Vorteils willen, viele in der Hauptsache vollendete Werke zu haben, lasse ich etwas von dem Vorteile nach, den ich in der letzten Vollendung jedes einzelnen haben könnte, und führe die Forderung dieser Vollendung gleich gar nicht in meine Welt ein.

        Zu Vorigem kommt noch, daß der Versuch, es der Natur in der Detailausführung gleich zu tun, ohne sie doch ganz darin erreichen zu können, mit der Stärke des Haupteindruckes auch gar leicht seiner Richtigkeit schadet. In der Tat: nehmen wir einen Kreis, der in einer Menge kleiner Biegungen verläuft, so aber, daß die kreisförmige Hauptform doch aus größerer Entfernung, wo die Biegungen für das Auge verfließen, richtig in die Erscheinung tritt. Wer den Kreis mit allen seinen Biegungen zeichnen will, wird die Hauptform leichter verfehlen, als wer den Kreis ohne die Biegungen zeichnet, und um so mehr wird er berechtigt sein, es zu tun, wenn die Biegungen nur störende Zufälligkeiten sind. Da alle unsere nachahmende Kunst nur eine Annäherung ist, so ist es nicht anders möglich, als daß bei jedem kleinen Fleckchen, jedem Strichelchen, was wir besonders wiederzugeben versuchen, eine kleine Abweichung von der Wahrheit stattfindet und die Summe dieser Abweichungen kann leicht eine Resultante geben, welche vom bezweckten Haupteindruck abweicht.

        Hingegen gibt es historische Bilder, (so z. B. von Lindenschmit), die in der Nähe aus bloßen Klecksen zusammengesetzt scheinen, und in einiger Ferne einen Ausdruck von plastischer Kraft und Lebenswahrheit machen, wie nicht leicht durch eine Ausführung zu erreichen ist, welche die Farben- und Form-Resultanten, die in den einzelnen Klecksen gegeben sind, noch in ihre Komponenten aufzulösen strebt. Nur gereicht diesen Bildern gegenteils nicht zum Vorteil, daß sie, wenn man nur etwas näher tritt, statt durch eine feine Ausführung zu erfreuen, sich in ein unreinliches Geschmiere auflösen. Also läßt sich auch nach dieser Seite zu weit gehen, und wird man sich Glückwünschen müssen, daß es nicht lauter Bilder gibt, denen man über 3 Schritt vom Leibe bleiben muß, um sie nicht abscheulich statt schön zu finden. Immerhin sind sie weit solchen vorzuziehen, welche das Detail einfach weglassen, statt es in Resultanten zusammenzuziehen, und die dann in Nähe und Ferne gleich leer und schwächlich erscheinen.

        Gesetzt übrigens, ein Künstler hätte sich darauf eingeübt, die größtmögliche Vollkommenheit in Wiedergabe des kleinsten Details zu erzielen, so würde ihm dasselbe begegnen, was dem Beschauer begegnet, wenn er seine Aufmerksamkeit zu sehr auf das Detail richtet; er würde verlernen, die höheren, auf der Komposition des Ganzen ruhenden, Vorteile recht im Auge zu behalten. Ja, es würde ihm so zu sagen mit der ganzen Kunst begegnen, was dem Gerhard Dow nach Sandrarts Berichte 3) mit den Personen, die er malen wollte, begegnete: "durch seine Langsamkeit benahm er den Leuten zu sitzen alle Lust, so daß sie ihre selbst lieblichen Physiognomien verstellt und aus Überdruß ganz geändert, wodurch dann seine Conterfeite auch verdrießlich, schwermütig und unfreundlich wurden, und das wahre Leben, welches der Maler und Künstler höchst nötiges Stück ist, nicht vorgestellt."

            3) T. Ak. 321.

        In Kuglers Museum [1838. 381) ist der Malweise eines holländischen Künstlers, Schelfout, in Landschaftsbildern als Seitenstück zu G. Dow’s Malweise in Genrebildern wie folgt gedacht:

        "Jedes Beiwerk zeugt von gleicher Vollendung; man kann den Vordergrund wie die Ferne durchs Vergrößerungsglas betrachten; man sieht das Gras wachsen am Rande des Rahmens. Jedes gebrochene Stück Eis [in den Winterlandschaften] gleicht einem geschliffenen Diamanten, auf den der Sonne Strahlen fallen. Es ist bekannt, daß Gerard Dow drei Tage an einem Besenstiel malte; ich möchte wetten, daß ein solches zerbrochene Stück Eis, wie man es auf Schelfouts Vordergrund sieht, nicht weniger Zeit gekostet hat; es ist Mieris Schule, angewandt auf Wälder und Kanäle, Solche Erzeugnisse lieben die Holländer, und darum ist Schelfout ihr Maler par excellence, Das Mikroskop in der Hand, die Füße am Kohlenherde wärmend, bewundern sie stundenlang und unbeweglich die unendliche Welt seiner Grashalme, glücklich, wenn sie zufällig eine Heuschrecke oder Fliege darin entdecken, die sie anfangs nicht bemerkt haben."

        Der Beurteiler warnt aber auch den talentvollen Künstler, "auf diesem beklagenswerten Wege" weiter zu gehen, vielmehr möge er sich "von dieser trostlosen Vollkommenheit heilen;" indem er Bilder von Hobbema oder von Ruysdael ins Auge fasse, sehe, wie letzterer "auf die Leinewand die großen Effekte des Ganzen und die Physiognomie jeder Hauptgruppe zaubert, so daß wir Alles mit einem Blicke umfassen, ohne daß das Auge irgendwie auf ein Hindernis des Haupteffekts stieße, indes doch auch das Detail bei ihm mit Meisterhand versorgt sei."

        Der Nachteil zu weitgehender Ausführung kann aber in gewissen Fällen wichtiger sein als in andern; am wichtigsten da, wo das Gewicht auf dem allgemeinen Haupteindruck liegt, was wieder von dem Gewichte der darzustellenden Idee abhängt; daher eben die größere Vernach-lässigung des Details in Gemälden von historischer oder religiöser Bedeutung; wer möchte da Denner’sche Köpfe vertragen, die man freilich überhaupt nur als Kunststücke verträgt; wogegen nach Maßgabe als die ganze Idee des Bildes bedeutungsloser ist, um so mehr auf die Freude an der gelungenen Wiedergabe des Naturdetails zu rechnen, um überhaupt Freude an dem Bilde zu haben. Also durfte ja, mußte Gerhard Dow weiter darin gehen als Raphael, und konnte doch auch zu weit darin gehen.

        Der erste Grad der Kunst ist überhaupt der, die Hauptformen zu geben, der zweite höhere, die Hauptformen mit ihrem Detail zu geben; aber kein Grad der, wo die Detailformen auf Kosten der Hauptformen sich geltend machen oder nur geltend machen wollen.

        Man kann bemerken, daß es Bildwerke gibt, in denen das feinste Naturdetail mit bewundernswürdiger Treue wiedergegeben ist, ohne daß wir doch einen Nachteil davon empfinden, vielmehr nur einen Vorteil; das sind daguerreotypische und photographische Portraits. Aber man kann auch bemerken, daß wir der treuen Wiedergabe des Naturdetails hier wie dessen selbst gewohnt sind und daß die Schwierigkeit, mit solcher Wiedergabe auch die richtige Gesamthaltung des Bildes herauszubringen, für den photographischen Apparat nicht eben so wie für den Künstler besteht.

        Unter ähnliche Gesichtspunkte als die Beschränkung der Detailausführung tritt die Weglassung von Nebendingen oder Reduktion derselben auf bloße Andeutungen, die so oft namentlich in antiken Kunstwerken vorkommt. Teils will man die Aufmerksamkeit auf die Hauptsachen konzentrieren, teils hält man es nicht der Mühe wert, viel Fleiß und Kosten auf Darstellung von Nebendingen zu verwenden, teils sind nach der Natur der Kunst die Nebendinge überhaupt oft nicht wohl anders als in Andeutungen darzustellen, und oft wirken mehrere dieser Motive zusammen.

  5. Vermeidung handgreiflich scheinenden Reliefs in Gemälden.

  6.     Die stilistische Regel, den Schein handgreiflichen Reliefs in Gemälden nicht zu weit zu treiben, dürfte von ähnlichen Gesichtspunkten wie die vorige Regel abhängig zu machen sein. Daß die Malerei nicht vergessen soll, sie sei eine Flachenkunst, will nichts sagen; danach müßte sie den Schein des Reliefs ganz verbannen; das wird niemand behaupten. Vielmehr man sucht den Schein des Reliefs zu erzeugen, findet aber, daß es für eine höhere Kunstwirkung nicht gut tut, den vollen Schein zu erzeugen.

        Den nächstliegenden Grund davon kann man finden, wenn man sieht, wie auf Gallerien Bilder, worin der durchschnittlich zu findende Schein des Relief weit überstiegen ist, vom großen Publikum bewundert werden. Über dem Kunststück, was der Maler gemacht hat, vergessen sie nach dem Sinne des Kunstwerkes zu sehen. Wir sind so gewohnt, den Mangel des Reliefs bei Gemälden hinzunehmen, daß er uns nicht mehr stört, und wir allerdings anfangen, seine Beschränkung zum Wesen der Malerei zu rechnen. Wenn ausnahmsweise einmal etwas mehr als das Gewöhnliche geleistet ist, tritt uns dies fremdartig entgegen, nimmt unsere Aufmerksamkeit in Anspruch, und das der Natur, der Wirklichkeit Entsprechendere scheint uns aus der Natur der Malerei herauszutreten. Könnte die Malerei überall das Relief vollkommen für den Augenschein wiedergeben, so würde dieser Nachteil wegfallen; aber das kann sie nicht für unser Sehen mit zwei Augen, für wechselnde Standpunkte und Szenen von größerer Tiefe. Nun widerstrebt es uns weniger, überall nach einem bestimmten Prinzipe von der Natur abgewichen zu sehen, als unter gewissen Bedingungen eines Bildes ihr ganz entsprochen, unter anderen davon abgewichen zu sehen. Die Regel, mit dem Schein des Reliefs in der Malerei nicht zu weit zu gehen, beruht also in letzter Instanz vielmehr auf einem Nichtkönnen, als Nichtsollen. Was sie durchschnittlich nicht kann, soll sie auch ausnahmsweise nicht wollen.


  7. Übersetzungen ins Antike und Moderne.
    Im Vorhof der Galleric di Brera zu Mailand steht Kaiser Napoleon als splitterfasernackter Heros, und auf unserer Esplanade König Friedrich August der Gerechte als Römischer Imperator. — Niemand wird meinen, daß die liberalen Reden Marquis Posa’s im Don Carlos Sache der allen spanischen Zeit waren, daß der Barbarenkönig Thoas in der Iphigenie recht eigentlich barbarisch fühlt und handelt, ja daß eine Iphigenie der Heroenzeit so fein gefaserte Empfindungen hatte, als im Goetheschen Drama.

    Schade, daß man keinen allgemeinen Ausdruck für solche Fälle hat, wie ich sie hier in ein paar Beispielen vorgeführt habe. In Ermangelung eines anderen Ausdrucks brauche ich "Übersetzung ins Antike oder Moderne" dafür. Was soll man zu solchen Übersetzungen sagen?

    Wenn sie nicht gewisse Vorteile hätten, würden sie nicht so häufig sein; und diesen Vorteilen ist jedenfalls Rechnung zu tragen.

    Wer will leugnen, daß Napoleon als nackter griechischer Heros und Friedrich August als römischer Imperator einen monumentalem Charakter, was man so nennt, tragen, als im naturwahren Kostüm dargestellt. Um einen monumentalen Charakter ist es aber bei Denkmalen zu tun. Diese Personen hatten eine Bedeutung über die alltägliche Wirklichkeit, und sollen durch die Kunstdarstellung darüber hinaus gehoben erscheinen; das antike Gepräge aber macht noch heute in gewisser Weise, indem es alles zu veredeln scheint, den Eindruck davon, um so mehr, wenn es durch eine Kunstkonvention und davon abhängige Gewöhnung, wie sie früher allgemein war, zur monumentalen Bedeutung gestempelt worden ist. Ja trotz dem, daß solche Darstellungen dem heutigen Geschmacke nicht mehr entsprechen, ließe sich noch genug zu Gunsten derselben im Sinne heutiger Kunstansichten sagen. Wenn die Kunst nur aus sich selbst zu verstehen sein soll und ihr Recht durch ihre Tat beweisen kann (Abschn. XXII.), so ist das Recht solcher Darstellungen eben durch die Tatsache bewiesen, daß sie sich einmal einen Platz in der Kunst erobert haben. Auf Darstellung gemeiner Wirklichkeit soll es der Kunst überhaupt nicht ankommen, und nach Cornelius hat die Kunst mehr auf Schönheit als Charakteristik zu gehen. An einem nackten Napoleon aber läßt sich die Schönheit des menschlichen Körpers viel besser zeigen als an einem bekleideten, und die Tracht eines römischen Imperators ist kunstmäßig schöner als eines Königs in Hosen, was mindestens den Formästhetiker, dem es nur auf die Form nicht Bedeutung der Dinge ankommt, zu Gunsten solcher Darstellungen stimmen kann. Napoleon hat also das Kleid, diese reine Nebensache für den, durch den Körper unmittelbar durchscheinenden, Geist, auf den sich die Kunst doch zuletzt zu beziehen hat, ausgezogen, und Friedrich August das römische Kleid angezogen, um damit in die Kunsthallen anständig einzutreten. Und wenn es unser Schicklichkeitsgefühl nicht verletzt, einen alten Heros nackt zu sehen, warum einen neuen, nachdem so große Kunstvorteile mit seiner nackten Darstellung zu erreichen; gemeine Prüderie aber muß man beim Eintritt in die Kunsthallen selbst ausziehen und dahinten lassen. So, denke ich, ließen sich Darstellungen dieser Art gegenüber dem geltenden Geschmacke doch nach geltenden Prinzipien nicht übel verteidigen.

    Sie haben in der Tat nur den Nachteil, daß sie der Wahrheitsforderung und dem Wahrheitsbedürfnis so zu sagen geradezu ins Auge schlagen, und wo dies Bedürfnis nicht durch die Kunstgewöhnung ganz verkümmert ist oder wo es siegreich dagegen durchgebrochen ist, müssen sie freilich mißfallen, und sollen auch mißfallen, weil das Wahrheitsgefühl überhaupt keinen starken Widerspruch dulden soll, und das Denkmal seinen Mann nicht abstrakt, sondern als Mann seiner Zeit und seines Volkes darzustellen die Aufgabe hat. Diese Aufgabe mit der Aufgabe zu vermitteln, ihn zugleich über die gemeine Wirklichkeit erhoben darzustellen, hat allerdings seine Schwierigkeit; nur ist das schlechtste Mittel dazu, ihn aus derselben entwurzelt darzustellen; gerade im Kleide aber liegt eins der anschaulichsten und faßlichsten Vermittelungsglieder des Individuum mit seiner Zeit und Nation. Wogegen eine gewisse Idealisierung im Zuschnitt des Kleides und namentlich im Ausdruck des Mannes mit geringerem Widerspruch gegen das Wahrheitsgefühl und den Sinn der Aufgabe der Schwierigkeit zu begegnen suchen kann. Hierauf aber wird ein späterer Abschnitt (XXVII) zurückkommen.

    Wenn das historische Drama und der historische Roman Denk- und Empfindungsweisen, die der modernen Zeit angehören, in Geschichten und Personen alter Zeit überträgt, so hat das nicht zu verkennende noch zu unterschätzende Vorteile folgender Art.

    Historische oder mythische Personen und Geschichten von Bedeutung — und nur solche werden im Allgemeinen als Motiv in der Kunst benutzt — sind jedem Gebildeten bis zu gewissen Grenzen bekannt, und es wird ihnen so zu sagen von vorn herein ein fertiges Interesse entgegengebracht; indes rein erdichtete Geschichten und Charaktere ein entsprechendes Interesse erst dadurch zu erzeugen suchen müssen und doch selten zu erzeugen vermögen, daß sie eben so aus dem Leben gegriffen scheinen, als es jene wirklich sind. So hoch man von der Kunst denken mag, aber kein von der Kunst gemachter König interessiert uns eben so wie der wirkliche Alexander. Die Abwechselung mit den abgebrauchten Stoffen der modernen Zeit kommt der Empfänglichkeit für die einer vergangenen Zeit angehörigen zu statten und der Kreis der Darstellungsstoffe und Motive erweitert sich dadurch überhaupt. Dem Dichter wird seine Leistung insofern erleichtert, als er nicht Geschichten, Charaktere von Grund aus zu schaffen, sondern nur auszuführen und zurechtzulegen braucht. Und da wir die alten Geschichten und Charaktere allgemeingesprochen nicht eben so im Detail kennen als die neuen, so ist auch der Ausführung ein erheblicher Spielraum gegeben, ohne mit unseren geläufigen Vorstellungen in entschiedenen Widerspruch zu geraten. Wollte man aber die Ausführung doch so weit als möglich mit unseren Kenntnissen zusammenstimmend halten, so würde das Interesse leicht von einer anderen Seite verloren gehen. Die verhältnismäßige Rohheit oder Einfachheit alter Zeiten und Völker widerspiegeln zu wollen, kann teils verletzen, teils nicht genug beschäftigen, und die alte Gefühls- und Denkweise dem Verständnis fern bleiben, weil wir nun eben in modernen Verhältnissen, Gefühls- und Denkweisen erzogen sind. Also durchdringt und steigert der historische Roman und das historische Drama die Vorteile eines bedeutsamen und unser Interesse von vorn herein ansprechenden, Stoffes noch mehr oder weniger durch Hineintragen und Hineinarbeiten der uns geläufigen und anmutenden modernen Anschauungs- und Empfindungsweisen.

    Auch hier macht sich freilich als Gegengewicht das verletzte Wahrheitsgefühl geltend, aber doch nicht überall so geltend, daß es jene Vorteile überwöge. Allgemein Menschliches ist allen Zeiten und Völkern gemein; und wenn nur hierin die Wahrheit recht gewahrt wird, so übersieht man leicht Verletzungen derselben in der Weise, wie es sich je nach Zeit und Volk verschieden ausspricht, wofern sie nicht zu stark sind. Also wird man nicht allgemein oder schlechthin sagen können, daß derartige Übersetzungen des Alten ins Moderne zu verwerfen sind; vielmehr wird es nur gelten, erstens, so weit Maß darin zuhalten, daß das Gefühl des Widerspruches mit der äußeren Wahrheit nicht aufdringlich werde, — kein Künstler wird doch Nero als gütigen Herrscher darstellen dürfen; — zweitens, daß nicht durch die Übersetzung innere Widersprüche der Darstellung heraufbeschworen werden, z. B. Züge einer rohen Wirklichkeit sich mit Zügen einer feineren Kultur schroff und unvermittelt mischen.

    In dieser Beziehung aber verträgt der eine Geschmack mehr als der andere, und unrecht, wäre es, den Maßstab eigener Empfindung hierbei als den schlechthin und allgemein maßgebenden geltend machen zu wollen. Es liegt hier eben wieder ein Feld von Konflikten vor, wo Vorteile und Nachteile sich gegenseitig bekämpfen und wechselsweis besiegen; nur Extreme sind überall zu vermeiden. Mir selbst machen sich die Nachteile leichter geltend als die Vorteile, bei Andern ist es umgekehrt, und Keiner wird dem Anderen beweisen können, daß er im Unrecht ist; gut aber ist es jedenfalls, sich klar bewußt zusein, worin die Vorteile und Nachteile überhaupt liegen, indem dies selbst beitragen kann, sich vor Einseitigkeit wenn nicht der Empfindung aber des Urteiles zu schützen.

    Ich führe ein Beispiel an, wie weit in voriger Hinsicht der Geschmack auseinander gehen kann. Nicht bloß eine, sondern mehrere Personen, deren Geschmack ich achte, haben mir in den wärmsten Ausdrücken von dem Eindrucke gesprochen, den die poetische Schönheit der "Nibelunge" Jordans auf sie gemacht; auch beweist sich die Verbreitung des Beifalls, den das neue Epos gefunden, in der Vielheit der Auflagen, die es schon erfahren. In der Tat bietet es in gewisser Beziehung wesentliche Vorteile über das alte Epos hinaus. Welch’ andere Mannigfaltigkeit von Empfindungen, Handlungen, Situationen, Begebenheiten darin; die Empfindungen, Situationen ins Detail entwickelt, Alles in einen zauberischen Nimbus verwoben und mit poetischen Bildern und Lichtern durchwoben. Doch habe ich das Werk nicht durchlesen können, indem der Haupteindruck desselben für mich, so weit ich kam, der eines Galimathias des alten Zauber- und Reckenwesens mit moderner Sentimentalität und Reflexion war. In einer kunterbunten Märchenwelt, worin das Zauberhafte bis ins Ungeheuerliche und Fratzenhafte gesteigert ist, sehen wir den Drachentöter Sigfrid (auf denn Wege zum Hinderberge S. 67) Selbstreflexionen über die Bestimmung und die Empfindungsweise eines Helden anstellen, denselben sich (S. 72) in heutigen Ausdrucksweisen frommer kindlicher Gefühle ergehen, den Reckenkönig Gunther sich (S. 75) in sentimentale Betrachtungen und Bilder über die Macht der Musik, durch welche ein "sonst pfadloses All der Empfindung sich auftut", verlieren, den Sänger Horand (S. 102) die Bedeutung, welche Sang und Sänger nicht nur haben, sondern auch in Zukunft einmal haben dürften, entwickeln, u. s. w. Und da der Dichter über alles das mancherlei Poetisches zu sagen weiß, so läßt er es auch seine Personen in hinreichender Breite sagen; manchmal werden sie gar nicht fertig in ihren Auseinandersetzungen. Hiergegen spielt im allen Epos das Zauberwesen nur eine sehr bescheidene Rolle, läuft der ganze Gang der Begebenheiten an einem einfachen Faden ab, handeln die Personen ganz simpel nach ihren stark ausgeprägten Leidenschaften und sprechen wie ihnen der Schnabel gewachsen ist; oft klingt es trocken und prosaisch genug, aber sie wollen gar nicht wie die Jordanschen oder vielmehr wie Jordan will, poetisch sprechen, und bleiben doch poetisch. Das ist mir im Ganzen lieber, wenn schon es die Ansprüche moderner Empfindung, die ich selbst an eine Darstellung moderner Verhältnisse machen würde, nicht befriedigt; man muß sich damit rein in die alte Zeit und Anschauungsweise versetzen, das Jordansche Epos hingegen befriedigt solche Ansprüche, indem man sich dadurch mit seiner modernen Empfindung selbst in die alte Zeit versetzt findet, in so weit nicht das Gefühl verletzter Wahrheit Einspruch erhebt. In der Empfindung Mancher aber überwiegt diese Befriedigung alle Nachteile aus letzterem Gesichtspunkte und läßt sie nicht zur Geltung kommen, indes es bei mir umgekehrt ist. Nun aber meine ich, daß, wenn ich hierin, wie ich glauben muß, zu einseitig gestimmt und damit nicht gerecht genug gegen den Dichter bin, die gegenteilige Bewunderung, welche jenen Nachteilen keine Rechnung trägt, es nicht minder ist.