In analoger Weise als der Streit zwischen Idealismus und Realismus dürfte sich der, nicht damit zusammenfallende aber sich damit verflechtende, Streit zugleich klären und erledigen, ob die Kunst mehr auf Schönheit oder Charakteristik zu gehen habe, und wiefern das Charakteristische selbst zum Schönen zu rechnen sei.
Charakteristisch nennen wir überhaupt die Darstellung eines Gegenstandes, insofern sie die Momente, die ihn von anderen unterscheiden, wahr und deutlich, doch ohne Übertreibung, zur Geltung bringt, denn durch Übertreibung wird die Charakteristik zur Karikatur.
Eine gelungene Charakteristik gewährt zwei wichtige ästhetische Vorteile, einmal, daß sie durch Erfüllung der Wahrheitsforderung direkt zum unmittelbaren Gefallen an einem Werke beiträgt, zweitens, daß sie der Monotonie entgegenwirkt, welche um so leichter Platz greift, je mehr unterscheidende Züge der Gegenstände weggelassen und diese durch Reduktion auf einen allgemeinen Typus einander verähnlicht werden.
Insofern nun schön im weitesten Sinne heißt, was unmittelbar Gefallen weckt, eine gelungene Charakteristik aber hierzu beitragen kann, wird sie auch zwar nicht als Schönheit schlechthin, aber zu den Schönheitsbedingungen zu rechnen sein, was nicht hindert, daß sie in Konflikt mit anderen Bedingungen treten kann. Ist ein Gegenstand an sich selbst häßlich, so muß er, um charakteristisch dargestellt zu werden, auch als häßlich dargestellt werden; und dann kann uns die Darstellung zwar durch ihre Wahrheit gefallen, aber durch ihren Gegenstand mißfallen. Und so kann die Charakteristik überhaupt zwar nicht der Schönheit einer Darstellung im weietsten Sinne, in deren Bedingungen sie vielmehr mit eingeht, aber den Bedingungen, die außer ihr zur Schönheit beitragen, gegenübergestellt werden. Da man nun für die Schönheit abgesehen von Charakteristik eben auch kein anderes Wort als Schönheit hat, so kommt hierdurch die Gegenüberstellung der Charakteristik gegen die Schönheit in einem engeren Sinne derselben, der die Charakteristik davon absondert, zu Stande. Ob man aber nach dem weiteren Sinne der Schönheit die Charakteristik unter deren Bedingungen mit einrechnen oder nach dem engeren Sinne derselben den anderen gegenüberstellen soll, kommt darauf an, ob das Interesse der Betrachtung vielmehr das der Zusammenfassung oder Gegenüberstellung ist. Wo die Gegenüberstellung statt findet, ist sie jedenfalls in vorigem Sinne zu verstehen. 1)
Gewiß ist, daß es Kunstwerke gibt, die hauptsächlich durch ihre Charakteristik ansprechen, und daß es andere gibt, die mehr durch Schönheitsbedingungen abgesehen von Charakteristik ansprechen; und man sieht nicht ein, warum es nicht sowohl diese als jene geben soll, da sich nun einmal nicht alle Bedingungen der Schönheit in gleichem Grade vereinigen und zu gleichem Grade steigern lassen.
Cornelius freilich, — um nur einer Hauptautorität von dieser Richtung das Wort zu leihen — hat unter den Regeln, die er seinem Schüler Max Lohde als eine Art Vermächtnis hinterlassen, auch die: "Streben Sie mehr nach der Schönheit als nach der Charakteristik. Oft wirkt ein einfach schönes Antlitz mehr, als alle Betonung des Individuellen." 2)
Hier und da freilich gerät man durch Aufstellung oder Anwendung solcher Prinzipien in Gefahr, einfach dem Spruch zu verfallen: "der Jude wird verbrannt".
Kunstwerke gibt es, die ausnehmend charakteristisch für einen Gegenstand sind, den sie eigentlich nicht darstellen sollen; was von einer Seite eben so sehr gefallen kann, als es von anderer Seite mißfallen muß, und im Ganzen als ein Fehler anzusehen ist; ein Fehler, über den freilich manche Kenner hinwegsehen, denen genügt, daß nur überhaupt etwas charakteristisch dargestellt sei. Ein merkwürdiges Beispiel der Art bietet das, in neuerer Zeit mehrfach besprochene, sog. Schwartz’sche Votivbild des älteren Holbein dar. 3) Hier sitzt Gott Vater auf einer Art Großvaterstuhl über Wolken als ein abgelebter Alter mit einem ganz runzligen, halb grämlichen halb gutmütigen, alles idealen Typus, aller Würde ermangelnden, Gesichte da. Nichts kann charakteristischer sein bei Beziehung der Darstellung auf einen derartigen menschlichen Greis, wie es denn unstreitig eine, mit vollster Wahrheit aus dem Leben gegriffene, Portraitdarstellung ist, welche als solche in hohem Grade interessiert; nichts kann weniger charakteristisch sein, wenn man sich Gott darunter vorstellen soll, ja man findet sich dadurch empört, daß man es doch soll. Einen ähnlichen Fall bietet das Christkind in den Armen der berühmten Madonna des jüngeren Holbein dar, wenn es nämlich wirklich ein Christkind vorstellen soll, wie die Kenner durchaus verlangen, indem es bewundernswürdig charakteristisch für ein elendes krankes menschliches Würmchen ist, hiermit aber die elendest mögliche Vorstellung von einem Christkinde gibt; wogegen das Christkind der Raphael’schen Sixtina sehr wenig charakteristisch für ein menschliches Kind überhaupt, um so charakteristischer aber für die Vorstellung ist, die man geneigt, ist sich von einem Christkinde zu machen, dem seine erhabene Vorbestimmung schon aus den Augen leuchtet. Es ist so zu sagen ein Wunder von Charakteristik in dieser Hinsicht, da wie bemerkt die Charakteristik idealer Persönlichkeiten im Allgemeinen weit hinter ihrer Aufgabe zurückbleibt.
3) Eine kunsthistorische Besprechung; dieses Bildes von mir findet sich in Weigels Archiv 1870. 1.