XX. Bemerkungen über Analyse und Kritik der Kunstwerke.

 
    Ein Kunstwerk kann uns gefallen oder mißfallen, ohne daß wir uns die Momente und Gründe des Eindruckes und seiner Berechtigung besonders zum Bewußtsein bringen; in sofern es aber geschieht, üben wir ästhetische Analyse und Kritik an dem Werke.

    Durch solche wird der Genuß, den wir vom Eindrucke des Kunstwerkes selbst erwarten, unmittelbar nicht erhöht, vielmehr in gewisser Weise gestört, daher bei Manchen ein Vorurteil dagegen besteht. Man muß sich, sagen sie, dem Eindrucke eines Kunstwerkes nur möglichst rein hingeben, um den wahren und vollen Genuß davon zu haben. Die Empfindung der Schönheit ist keine Sache des Verstandes.

    Inzwischen kann von Störung des Genusses durch Reflexion auf dessen Momente und Gründe doch nur in sofern die Rede sein, als die Reflexion mit dem Genusse gleichzeitig geübt werden soll; aber da jeder ästhetische Genuß sich allmälig erschöpft, kann sie recht wohl mit unterlaufend oder nachher geübt werden, und man dann bereichert durch das ästhetische Verständnis zum Genusse zurückkehren. Das ästhetische Verständnis aber trägt nicht nur wie jede Erkenntnis von Momenten und Gründen dessen, womit wir zu schaffen haben, im Allgemeinen bei, den Geist zu klären und zu läutern, sondern hat auch seine Rückwirkung auf die ästhetische Empfindung selbst, sofern eine öftere Übung, ästhetische Vorzüge und Nachtheile zu erkennen, solche allmälig auch dem Gefühle geläufig macht und ihre Wirkung von einem auf das andere Werk überträgt. Ja man kann in der verstandesmäßigen Beschäftigung mit Kunstwerken selbst einen Genuß eigner Art finden, der beim sog. Kenner sogar oft das Hauptbestimmende seines Interesses für die Kunst ist. Und gewiß wird der sich länger durch ein Kunstwerk unterhalten finden, der sich nicht bloß passiv und kritiklos dem Eindruck desselben hingibt, sondern auch nach den Gründen desselben und seiner Berechtigung fragt, indes freilich der, wer ohne die Basis eines rein und unbefangen in sich aufgenommenen Eindruckes immer gleich analysierend und mäkelnd an das Kunstwerk gehen will, nicht nur den Zweck der Kunst, sondern auch den rechten Ausgangspunkt kritischer Betrachtung verfehlt.

    Im Allgemeinen macht jedes Kunstwerk gleich beim ersten Überblick einen gewissen Totaleindruck im Sinne vorwiegenden Gefallens oder Mißfallens, und zumeist, wenn schon nicht immer, stimmt damit der Eindruck des letzten Blickes oder Rückblickes, den wir auf das Werk werfen, überein. Geht man nun an die Analyse, so hat man vor Allem die Gründe der vorwiegenden Richtung dieses ersten Eindruckes aufzusuchen, wodurch man am natürlichsten in die Analyse des ganzen Werkes eingeführt wird, hat aber dabei nicht bloß kritisch gegen das Werk sondern auch gegen sich selbst zu verfahren. Jedes Kunstwerk bietet viele Seiten und Gesichtspunkte der Betrachtung dar, und nicht leicht ist Jemandes Geschmack so vielseitig und vollkommen ausgebildet, daß er im ersten Überblick von Allem, was zum Totaleindruck beizutragen hat, diesen Eindruck wirklich empfängt. Der Eine sieht ein Bild zuerst und zumeist auf seine Farbestimmung, der Andere auf den Stil, der Dritte auf die Schönheit oder den Ausdruck der Figuren, der Vierte auf Geschick und Geist der Komposition, der Fünfte auf die gelungene Charakteristik, der Sechste auf den Wert oder das Interesse der Idee, der Siebente auf die Vollendung der Technik und der Achte auf die Korrektheit an. Alles das hat im Grunde zum Totaleindruck zusammenzuwirken, wirkt aber nicht leicht beim ersten Blick im Sinne richtiger Schätzung zusammen; und so gilt es, den ersten Blick durch weitere Blicke zu ergänzen, zu vertiefen, zu berichtigen; wonach das Resultat des letzten Blickes allerdings von dem des ersten abweichen kann. Wenn dies aber im Ganzen selten ist, so hängt es daran, daß das, was unseren Blick zuerst auf sich zieht, im Allgemeinen auch das ist, was uns am meisten interessiert, den Wert oder Unwert eines Kunstwerkes für uns hauptsächlich bestimmt; und das bleibt sich beim ersten und letzten Blicke noch gleich.

    Welche Teile, Elemente, Momente, Seiten des Kunstwerkes selbst, welche Faktoren, Stufen, Seiten des Eindruckes, welche Gesetze der Wohlgefälligkeit man nun auch bei der ästhetischen Analyse unterscheiden und dazu zuziehen mag, so sind als allgemeinste Forderungen der Kritik an das Kunstwerk zu stellen: daß der Eindruck alles Einzelnen sich überhaupt in einem einheitlichen Totaleindrucke abschließe und dieser vielmehr im Sinne der Lust als Unlust sei, daß die bloß sinnliche Lust an Höhe überstiegen und das sittliche Prinzip nicht verletzt werde, kurz daß die Bedingungen der Schönheit im engeren Sinne dadurch erfüllt werden. Kunstwerke haben die ausdrückliche Bestimmung, diese Bedingungen, die sich in der Natur höchstens zufällig vereinigt finden, in vorteilhaftester Vereinigung zu verwirklichen, wonach Manche sogar nur Kunstschönheit als wirkliche Schönheit wollen gelten lassen.

    Die an das Kunstwerk gestellte Forderung eines einheitlichen Totaleindruckes koordiniert sich der Forderung, daß es einen möglichst starken und hohen Lusteindruck zu machen habe, nicht sowohl, als sie vielmehr selbst in diese Forderung hineintritt. Denn bei Wegfall derselben geht nicht nur die Wohlgefälligkeit, die wir der einheitlichen Verknüpfung des Mannigfaltigen an sich zuzuschreiben haben, und die Höhe des Eindruckes, welche das Kunstwerk dadurch gewinnt, verloren, sondern es kann auch nicht leicht fehlen, daß die Unlust des Widerspruches eintritt, da das, was sich in einem Kunstwerke nicht zu einem einheitlichen Eindrucke fügt, oder darin abschließend versöhnt, doch nicht leicht gleichgültig neben einander bestehen kann. Dazukommt, daß, nachdem wir die Forderung der einheitlichen Verknüpfung an das Kunstwerk einmal ausdrücklich stellen, die wir nicht eben so an die Dinge, die uns täglich umgeben, stellen, auch das getäuschte Verlangen in dieser Hinsicht selbst zur Unlust beiträgt.

    Von vorn herein erscheint es natürlich, von der Idee oder allgemeinen Stimmung, welche ein Kunstwerk beherrscht, einen lustvollen Charakter zu fordern, damit das Kunstwerk im Ganzen einen lustvollen Eindruck mache, womit doch von anderer Seite in Widerspruch scheint, daß wir uns Trauermärsche, traurige Lieder, Tragödien, Romane, welche traurig abschließen, ganz gern gefallen lassen. Aber wir würden sie uns nicht gefallen lassen, wenn sie uns nicht doch im Ganzen gefielen. Wie diesen Widerspruch heben?

    Hauptsächlich ist es der Gesichtspunkt der Versöhnung, in dem die Erklärung liegt, einer Versöhnung, die teils in der Idee der Darstellung selbst begründet sein kann, sofern der traurige Abschluß so zu sagen als Negation zweier Übel durch einander erscheint, wohin die Idee der strafenden Gerechtigkeit gehört, teils darin, daß eine traurige Stimmung sich durch den angemessenen Ausdruck der Trauer vielmehr erleichtert als verstärkt, und wir, wenn wir keinen objektiven Anlaß zur eignen Trauer haben, diese versöhnende Kraft des Ausdrucks leicht mit stärkerer Lust empfinden, als die Unlust der traurigen Stimmung, in die wir uns dabei gewissermaßen nur äußerlich versetzen. Überhaupt lieben wir mitunterlaufend starke rezeptive Erregungen und eine Abwechslung in der Art dieser Erregungen; dazu gehört aber, uns mitunter in eine sich irgendwie versöhnende traurige Stimmung zu versetzen. Immer liegt doch in der traurigen Idee oder Versetzung in eine traurige Stimmung ein Anlaß zur Unlust, der überwunden werden muß, soll nicht das Wohlgefallen am Ganzen verkümmern; daher ja so Manche von traurigen Melodien und Trauerspielen nichts wissen wollen, indem die Versöhnung des Unlust-Anlasses sich bei ihnen nicht wirksam genug vollzieht. Auch würde man ja sehr irren, wenn man das Gefallen, was man an einem traurig abschließenden Roman oder Drama hat, allein auf die oft in der Tat nicht sehr kräftig wirkende Idee der Versöhnung des Schlußes schieben wollte; vielmehr ist es die Beschäftigung mit dem ganzen Gange des Drama’s oder Romanes, was hierbei hauptsächlich in Betracht kommt, ohne zu hindern, daß man einen Fehler darin zu sehen hat, wenn das Werk durch Abschluß in einer unversöhnten Idee einen bittern Nachgeschmack hinterläßt. In der Tat genügt das Faktum solcher Werke nicht zur Rechtfertigung derselben; vielmehr gehört der versöhnende Abschluß zu dem, worin die Kunst die Natur zu überbieten hat, wobei man den Hintergedanken haben kann, daß auch in der Welt außerhalb der Kunst Alles einem versöhnenden Abschluß zugehe, den das Kunstwerk aber schon in sich selbst darbieten soll.

    Eine auf das Einzelne eines Kunstwerkes eingehende Analyse und Kritik hat zwei Seiten, sofern man dabei einmal zu fragen hat, was jeder Teil, jede Seite des Werkes durch eigene Wohlgefälligkeit oder Mißfälligkeit zum ästhetischen Eindruck des Ganzen beiträgt und was nach seinem Verhältnisse zu den übrigen Teilen, Seiten oder als Teil, Seite des Ganzen; denn man würde sehr irren, wenn man meinte, daß der ästhetische Wert jedes Teils bloß nach seinem Verhältnisse zu dem Übrigen zu bemessen sei; vielmehr hat er auch eigenen Anteil an dem ästhetischen Eindruck des Ganzen; und so wird, alles Übrige gleich gesetzt, ein Bild mit schönen Figuren oder schönem Colorit besser gefallen als mit minder schönen. Es kann aber die ästhetische Wirkung, die etwas für sich hervorbringt, mit der, die aus seinem Verhältnis zum Übrigen hervorgeht, eben so wohl in Widerspruch als Einstimmung stehen, und sollte eine schöne Einzelwirkung mit der Gesamtheit des Übrigen in einem mißfälligen Widerspruch stehen, so würde etwas Unversöhntes in der Totalwirkung übrig bleiben, indes an sich mißfällige Einzelwirkungen sich recht wohl noch durch das Verhältnis zum Übrigen in einer wohlgefälligen Totalwirkung versöhnen können.

    Nun ist es überhaupt nicht wohl möglich, alle einzelnen Bedingungen der Wohlgefälligkeit für sich zum Maximum zu steigern ohne mit anderen in demselben Werke in Konflikt oder Widerspruch zu geraten, wie z. B. der größtmögliche Reiz des Colorits, die größtmögliche Idealität der Formen sich selten mit der Wahrheit der Charakteristik verträgt und die Forderung größtmöglicher Deutlichkeit einheitlicher Verknüpfung mit der Forderung größtmöglicher Mannigfaltigkeit in Konflikt kommen kann. Allgemeine Regel nun ist, jede Bedingung der Wohlgefälligkeit nur so weit zu steigern, daß nicht durch die daraus hervorgehende Schwächung anderer ästhetisch mehr verloren als von erster Seite gewonnen werde. Bei der großen Zusammensetzung der Bedingungen aber, welche zum Eindruck des Kunstwerkes zusammenwirken, kann hierüber im Allgemeinen nur der Takt des Künstlers entscheiden.

    Als allgemeinste Bedingungen vollendeter Kunstschönheit kann man vier aufstellen, erstens, daß das Ganze durch das Dasein jedes einzelnen Teiles an lustzeugender Kraft gewinnt; zweitens, daß es durch Hinzufügung irgend anderer Teile daran verlieren würde; drittens, daß es durch die Verknüpfung der Teile an lustzeugender Kraft über die Wirkung der Summe der einzelnen hinaus, wie man auch die Zerlegung vornehme, gewinne; viertens, daß durch keine andere Verknüpfungsweise der Teile mehr gewonnen werde. Natürlich kann eine solche vollendete Schönheit nur als ein Ideal betrachtet werden, dem sich der Künstler so viel als möglich anzunähern suchen muß.

    Die Natur kümmert sich so zu sagen wenig um Erfüllung dieser Bedingungen. In wenig Landschaften stimmen alle Partien so zusammen, daß jede wirklich durch Verbindung mit den übrigen den Reiz des Ganzen erhöht, die Landschaftsmalerei muß da immer nachhelfen, und so zumeist die Kunst der Natur, soll ein vollkommen schönes Werk entstehen. Hingegen nehme man aus einem vollendeten Kunstwerke heraus, was man will, ein großes, kleines Stück, dies oder jenes, zerlege das Werk in viel oder wenig Teile, man wird aus den gesonderten Teilen nie so viel Lust im Ganzen schöpfen können, als man aus ihrer Vereinigung schöpfen konnte. Ließe sich bei einem Gemälde, Gedichte oder sonst einem Kunstwerke irgend eine Zerlegung in Teile finden, durch deren gesonderte Auffassung man im Ganzen gewönne, so würde es eben in dieser Zerlegung vorzuführen sein. Von anderer Seite ist selbstverständlich, daß, wenn ein Kunstwerk durch Hinzufügung eines Teiles noch gewinnen könnte, so würde dieses ergänzte Kunstwerk das vollendetere sein; aber schon der Umstand, daß der zu großen Teilung der Aufmerksamkeit gewehrt werden und ein bei vielen Teilen schwer zu erhaltendes kräftiges Gefühl einheitlicher Verknüpfung gewahrt werden muß, setzt hierin Grenzen.

    Die obigen Forderungen an die Vollkommenheit eines Kunstwerkes stimmen so sehr mit den Forderungen an die Vollkommenheit eines Organismus überein, daß Manche den organischen Charakter eines Kunstwerkes als Hauptcharakter desselben geltend machen. Inzwischen handelt es sich bei der organischen Einrichtung von Kunstwerken mehr um die unmittelbare Erfüllung von Lustzwecken, bei der von pflanzlichen; tierischen und menschlichen Organisationen um allgemeine Lebenszwecke. Auch kann der Hinweis auf die Ähnlichkeit der Kunstwerke mit Organismen direktere Betrachtungen weder in der Lehre von jenen noch diesen ersparen.

    Außer der Betrachtung eines Kunstwerkes nach seinen inneren Bedingungen gilt es, dasselbe nach seinen äußeren Beziehungen zu betrachten, wodurch seine Bedeutung erst in volles Licht tritt. Jedes Bild hat seinen bestimmten Platz in der historischen Entwickelung der Malerei, sein bestimmtes Verhältnis zu den Bildern desselben Meisters, derselben Schule, anderer Meister, anderer Schulen, dem Geschmacke und Interesse der Zeit, gleicht nach gewisser Beziehung anderen Bildern und ist nach anderen davon verschieden, steht von gewisser Seite an Wert unter anderen, von anderer darüber. Das gibt namentlich bezüglich bedeutenderer Meister und Kunstwerke nicht nur einen unerschöpflichen Stoff der Betrachtung, sondern es liegt auch in Verfolgung solcher Beziehungen das wichtigste Bildungsmittel für den Genuß und das Verständnis der Kunst. Schon der Vergleich von einzelnen Kunstwerken verwandten Inhalts verschiedener bedeutender Meister kann eben so interessant als instruktiv sein; als: der Raphael’schen Sixtina und der Holbein’schen Madonna, der Raphael’schen und Michel Angelo’schen Schöpfungsgeschichte, der Michel Angelo’schen und Rietschel’schen Pieta u. s. w.

    Unstreitig kann ein Kunstwerk seinen Eindruck ganz naturalistisch ohne allen klar bewußten Verfolg solcher äußeren Beziehungen desselben, scheinbar ganz durch seine eignen inneren Momente und die natürlicherweise sich daran anknüpfenden Assoziationen, machen; aber eine gewisse, wenn auch nicht methodische, Bildung durch die Kunst geht doch selbst in die allgemeine Bildung jedes sog. Gebildeten ein und spielt dann auch ihre Rolle in den unwillkürlichen Assoziationen mit. Eine richtige Schätzung eines Kunstwerks kann jedenfalls nur mit Rücksicht auf eine genauere Kenntnis seiner Verhältnisse zur gesamten Kunst, als dem mittleren Bildungszustande geläufig ist, geschehen.