XIX. Die Kunst aus begrifflichem Gesichtspunkte.

    Die Kunst in dem engeren Sinne, in dem wir uns hier damit beschäftigen werden, gehört zu den im höheren Sinne bedeutungsvollsten Faktoren des menschlichen Lebens, und ihre Werke bieten die höchsten und verwickeltsten Anwendungen ästhetischer Gesetze. Also bildet ihre Betrachtung eine Hauptaufgabe der höheren Ästhetik. Inzwischen ordnet sich die Kunst in diesem engeren Sinne einem viel weiter gefaßten Begriffe der Kunst unter, und so wird Einiges über ihre begriffliche Stellung innerhalb dieses weiteren Kreises vorauszuschicken sein.

    Im weitsten, hiermit aber weit über das ästhetische Gebiet hinausgreifenden, Sinne versteht man nämlich unter Kunst überhaupt die methodische, d. h. mit bewußter Absicht nach mehr oder weniger bestimmten Regeln und erlangter Geschicklichkeit geschehende, Schöpfung von Werken oder Einrichtungen, welche Zwecken des Menschen dienen. Handelt es sich nun dabei um die unmittelbare Erreichung von Lustzwecken durch sinnliche Mittel, so hat man die angenehmen und schönen Künste, die sich von einander bloß durch die Höhe ihrer Leistung unterscheiden, hingegen, wenn es sich um Zwecke handelt, die nur mittelbar zur Erhaltung und Förderung des menschlichen Wohles oder zur Hebung oder Verhütung von Nachteilen dienen, die nützlichen Künste, wozu die Handwerke, als wie Schuhmacherkunst, Töpferkunst, Tischlerei u. s. w. aus dem Gesichtspunkte einer niederen, die Staatskunst, Erziehungskunst, Heilkunst u. s. w., aus dem Gesichtspunkte einer höheren Utilität gehören. Zwar pflegt man nur selten auf erstere das Wort Kunst anzuwenden, weil man eben das Wort Handwerk dafür hat, indes sie doch dem allgemeinsten Begriffe der Kunst immer untergeordnet bleiben. Eine strenge Unterscheidung der angenehmen und schönen von den nützlichen Künsten oder reine Koordination derselben findet freilich nicht statt; nur der vorwiegende Gesichtspunkt läßt sie trennen. Denn auch von den Werken der schönen Künste, als wie einem Drama, einer Musik, einem Gemälde, wird man verlangen oder wünschen, daß sie außer dem nächsten und vorwiegenden Zweck, unmittelbar ein höheres als bloß sinnliches Wohlgefallen zu erwecken, bildend auf den Geist wirken, also durch ihre Folgen nutzen; umgekehrt von den Werken der nützlichen Künste, als wie einem Schuh, einem Gefäße, einem Tische, daß sie außer dem Nutzen, auf den es in der Hauptsache und zunächst bei ihnen abgesehen ist, unmittelbar wohlgefällig erscheinen. Auch können manche Künste sich bald mehr nach der einen, bald mehr nach der anderen Seite wenden, oder beiden Seiten gleichmäßig gerecht zu werden suchen. So namentlich die Rhetorik, die Architektur und die unter dem Ausdruck Kunstindustrie vereinigten sog. kleinen oder technischen Künste, welche sich mit der Verfertigung von Geräten, Gefäßen, Möbeln, Waffen, Kleidern, Teppichen u. dgl. beschäftigen, überhaupt einen großen Teil der nützlichen Künste unter dem Anspruche vereinigen, zugleich angenehme oder schöne Künste zu sein. Wogegen bei anderen nützlichen Künsten, als wie dem Handwerk eines Fleischers, des Essenkehrers, der Kunst des Zahnarztes u. s. w. jene Voraussetzung deshalb nicht erfüllbar ist, weil die unmittelbaren Leistungen dieser Künste mehr im Sinne der Unlust als Lust sind.

    In dem engeren Sinne, den die Ästhetik ausschließlich festhält und den wir daher unserseits hier festzuhalten haben, versteht man überhaupt unter Kunst nur die angenehmen und schönen Künste oder gar nur die schönen Künste, deren Aufgabe sich dahin bestimmt, das Schöne im engeren Sinne darzustellen, d. i. durch Verwendung sinnlicher Mittel unmittelbar höhere, wertvollere Lust als bloß sinnliche oder überhaupt niedere Lust zu erwecken. Wie die Verhältnisse und Dinge in der gemeinen Wirklichkeit, was man so nennt, d. i. der Natur und dem menschlichen Leben abgesehen von schöner Kunst, liegen, erfüllen sie selten diesen Zweck rein und vollständig, und so treten die schönen Künste zugleich mit der Absicht einer Ergänzung der gemeinen Wirklichkeit und einer Erhebung darüber hinzu.

    So wenig als die angenehmen und schönen Künste von den nützlichen sind beide erstere von einander durch eine scharfe Grenze zu scheiden. Denn erstens gibt es keinen anderen als bloß relativen oder willkürlich abgesteckten Höhenunterschied zwischen angenehm und schön, wonach man z. B. in Zweifel sein kann, ob man die Kunst schöner Gefäße und Tanzkunst hoch genug halten soll, um sie unter die im engeren Sinne schönen oder bloß unter die angenehmen Künste aufzunehmen; zweitens geht das dem niederen Sinne wohlgefällige Angenehme vielfach in das dem höheren Sinne wohlgefällige Schöne als wirksames Element mit ein und kann somit auch eine angenehme Kunst in den Dienst einer schönen treten. Hier wie überall, wo keine scharfe Abgrenzung in der Sache statt findet, ist die Mühe, die man sich mit einer scharfen Abgrenzung der Begriffe gegen einander geben mag; fruchtlos.

    Man pflegt Kunst und Natur einander gegenüberzustellen. Nun wird auch der Begriff der Natur verschieden gefaßt, und bloß nach einer dieser Fassungsweisen tritt die Natur in jenen Gegensatz ein. Einmal versteht man unter Natur die wesentliche Beschaffenheit irgend eines Dinges, wonach man von der Natur eines Kunstwerkes ebensowohl als von der eines Naturkörpers sprechen kann; zweitens die materielle äußere Erscheinungswelt gegenüber der inneren geistigen, wonach der Marmor einer Statue eben so gut als der eines Gebirges zur Natur gehört. Im Gegensatz gegen Kunst aber versteht man unter Natur eben nur, was abgesehen von Kunst im äußeren Erfahrungsgebiete entsteht und besteht; und natürlich, je nachdem man Kunst weiter oder enger faßt, verengert oder erweitert sich der Begriff der gegenüberstehenden Natur. Den schönen Künsten, insbesondere den bildenden gegenüber, nennt man auch wohl das, was außerhalb derselben im äußeren Erfahrungsgebiete besteht, gemeine Wirklichkeit oder Wirklichkeit schlechthin.

    Aus anderem Gesichtspunkte als der Natur setzt man die Kunst der Wissenschaft und Religion gegenüber, indem man die Pflege des Schönen oder Einbildung desselben in das Leben der Kunst, die des Wahren der Wissenschaft, die des Guten der Religion und mit ihr verwachsenen Moral anheim gibt. Nach dem Zusammenhange dieser drei höchsten Ideen aber, wovon Gelegenheit war im 2. Abschnitte zu sprechen, hat man auch einen davon abhängigen Zusammenhang von Kunst, Wissenschaft und Religion zu statuieren; worüber sich sehr allge-meine, weit und tief gehende, Betrachtungen anstellen lassen, auf die wir doch hier nicht eingehen, um in den Schranken der Betrachtung der Kunst selbst zu bleiben.

    Wie weit oder eng man das Gebiet der schönen Künste fassen mag, so ist eine Einteilung und Untereinteilung derselben aus verschiedenen Gesichtspunkten möglich, als namentlich nach den Darstellungsmitteln, Darstellungsformen, Darstellungsgegenständen, Weisen der Wirkung, Umständen unter denen die Künste zu wirken bestimmt sind, philosophischen Gesichtspunkten verschiedener Art und Richtung. Und zwar kann unter Umständen jeder Gesichtspunkt der Gemeinsamkeit, der mehrere Künste verknüpft und von anderen Künsten unterscheidet, Anspruch machen hervorgehoben zu werden, wonach sich die Ästhetik die Aufgabe stellen könnte, die möglichen Einteilungsweisen und Verknüpfungsweisen der Künste in dieser Hinsicht systematisch durchzuführen. Es wäre nur ein, den Geist subjektiv und objekiv ermüdendes und schwerlich hinreichend lohnendes Geschäft, da es weniger interessieren kann, die begrifflichen Verhältnisse der Künste nach allen sich mannigfach verzweigenden, verflechtenden, kreuzenden Richtungen vollständig darzulegen, als die un-streitig ästhetisch wirksamsten Kombinationen von Mitteln, welche in den gemeinhin unter-schiedenen Künsten zur Geltung gekommen sind, nach ihren Leistungen zu untersuchen.

    Sehr triftig, prägnant und beherzigenswert ist in dieser Hinsicht, was Lotze S. 489 seiner Geschichte nach Erwähnung verschiedener Klassifikationsversuche der Künste sagt: "In der Welt des Denkens und der Begriffe haben alle Gegenstände nicht bloß eine systematische Ordnung, die unabänderlich feststände, sondern der Zusammenhang der Dinge ist so allseitig organisiert, daß man in jeder Richtung, in welcher man ihn durchkreuzt, eine besondere innere bedeutungsvolle Projektion seines Gefüges entdeckt. Keine der erwähnten Klassifikationen hat nun Unrecht; jede hebt eine dieser gültigen Beziehungen, einen gewissen Durchschnitt der Sache nach einer der Spaltungsrichtungen hervor, die ihr natürlich sind; aber wunderlich ist der Eifer, mit dem jeder neue Versuch sich als den endgültigen und einzig wahren ansieht und die vorangegangenen als nüchterne und überwundene Standpunkte betrachtet." Weiter: S. 304: "Es hat wenig Wert, scharfe Begriffsgrenzen für die einzelnen Künste nur zu suchen, um zweifellos jedes einzelne Erzeugnis einer von ihnen unterordnen zu können."

    Der philosophische Ästhetiker freilich findet sich in seinem Gange von Oben getrieben, aus dem allgemeinen Begriff und Wesen der Kunst heraus auch eine demgemäße Gliederung der Kunst als notwendige abzuleiten und damit Begriff und Wesen derselben selbst in prinzipiell bindender Weise zu gliedern. Und warum nicht; nur daß im vollen Umfange des Begriffs und Wesens der Kunst eben nicht bloß die Möglichkeit einer, sondern sehr vieler Gliederungsweisen nach verschiedenen Richtungen inbegriffen liegt, wie man auch den Menschen gleich triftig nach verschiedenen Richtungen teilen kann. Indem nun aber der philosophische Ästhetiker seinem spekulativen Bedürfnisse in seiner Weise zu genügen und dabei die herkömmliche Einteilung der Künste noch festzuhalten sucht, entstehen Versuche, wie deren Lotze in s. Gesch. (S. 454 ff.) mehrere aufgezählt hat, die ich unglücklich und unfruchtbar nenne, sofern die herkömmliche Unterscheidung der Künste gar nicht nach der Konsequenz eines tiefsinnigen Systems sondern nach einem besonders aufdringlichen Vorwiegen oder Zusammentreffen bald dieser bald jener äußerlichen Momente gemacht ist, was weder einen klaren, noch scharfen Ausdruck in den Abstrusitäten jener Versuche findet.

    In der Tat ist es ein sehr äußerlicher auf die Natur der Darstellungsmittel bezüglicher Gesichtspunkt, nach dem die gemeinhin unterschiedenen Künste von vorn herein in zwei Hauptklassen zerfallen. Mit diesem treffen sehr unsystematisch andere Gesichtspunkte in Unterscheidung der einzelnen Künste zusammen. Die einzelnen Künste gehen wieder durch Zwischenglieder in einander über und gehen Verbindungen mannigfacher Art mit einander ein. Die faktischen Verhältnisse in dieser Beziehung lassen sich mit Klarheit verfolgen, und mancherlei interessante Bemerkungen daran knüpfen, nur muß man dabei verzichten, mit doktrinär aufgedrungenen Einteilungsprinzipien im Zusammenhange zu bleiben.

    Der Unterschied beider Hauptklassen liegt darin, daß die Künste der einen durch ruhende, die der anderen durch bewegte oder zeitlich ablaufende Formen zu gefallen streben, jene demgemäß ruhende Massen so umgestalten oder kombinieren, diese solche körperliche Bewegungen oder zeitliche Änderungen erzeugen, daß der Kunstzweck erfüllt wird. Zur ersteren gehören Architektur, Plastik (Skulptur), zeichnende Künste, Gartenkunst, die verschiedenen Zweige der Kunstindustrie, wovon man die Gesamtheit unter dem Ausdruck bildende Künste im weiteren Sinne zusammenfassen kann; indes man im engeren Sinne meist nur die Plastik und zeichnenden Künste darunter versteht. Zur zweiten Klasse gehören die redenden Künste, die Poesie und Rhetorik, die Musik, Schauspielkunst, Tanzkunst, wofür ein gemeinschaftlicher Name fehlt. Der Kürze halber kann man die Künste beider Klassen als Künste der Ruhe und Bewegung unterscheiden.

    So rein äußerlich der Gesichtspunkt der Unterscheidung beider Klassen ist, kann man doch nicht zweifeln, daß er als ein besonders schlagender die übliche Einteilung der Künste von oben herab wesentlich bestimmt hat, indem sich alle Hauptkünste sehr entschieden auf die eine oder andere Seite legen lassen, was nicht mehr der Fall sein würde, wenn man den obersten Gesichtspunkt der Unterscheidung irgend anders, z. B. in der Unterschiedenheit der Sinnesgebiete, durch welche die Künste Eingang finden, suchen wollte. Denn die Poesie kann eben so wohl durch geschriebene als gehörte Worte und die Plastik eben so wohl durch Getast als Gesicht den Eingang finden, wenn auch die eine Eingangsweise als bevorzugt vor der anderen anzusehen ist. Eben so wenig kann man die Unterscheidung der Künste in solche, welche wesentlich durch direkte, und solche, welche durch assoziative Eindrücke wirken, als maßgebend für die bestehende Einteilung ansehen, denn wenn schon sich die Musik und die Redekunst in ungebundener Rede danach ziemlich von einander und von anderen Künsten absondern, so treffen doch in den übrigen Künsten beiderlei Eindrücke mehr oder weniger wesentlich, wenn auch nicht überall gleich wiegend, zusammen.

    Nun kann man versuchen, jenem äußerlichen Unterschiede der beiden Hauptklassen der Künste einen tiefer gehenden ideellen abzugewinnen; doch wüßte ich keinen zu finden, der scharf, klar, prägnant, durchschlagend, fruchtbar für die Betrachtung hervorträte, wenn es auch unschwer ist, philosophische Floskeln dafür zu finden; und geht man zu den einzelnen Künsten über, so läßt sich überhaupt keine gleich scharfe Abgrenzung derselben gegen einander mehr finden, als zwischen jenen Hauptklassen.

    Zwar bei den Hauptwerken der Künste wird man nicht in Zweifel sein, wohin sie zu zählen, zur Architektur Tempel der Götter und gezimmerte oder gemauerte Wohnungen der Menschen, zur Plastik menschliche und tierische Statuen, zu den zeichnenden Künsten Gemälde, Zeichnungen, zur Poesie lyrische, epische, dramatische Gedichte u. s. w. Aber in diesen Hauptwerken treffen Punkte zusammen, die nicht überall zusammentreffen, sondern sich in anderen Werken auch wohl trennen, um sich anders zu kombinieren; wonach man nur im Allgemeinen sagen kann: je mehr von den Merkmalen, welche den zweifellosen Repräsentan-ten einer Kunstgattung zukommen, in einem Werke zusammentreffen, desto mehr wird man geneigt sein müssen, es noch zu derselben Gattung zu rechnen, und wird es so lange tun dürfen, als nicht in noch mehreren oder wichtigeren Beziehungen ein Zusammentreffen mit den Merkmalen entschiedener Repräsentanten einer anderen Gattung stattfindet. Wo aber das Mehr und Wichtigere beginnt, kann oft nur Sache eines unbestimmten Apercu sein.

    Es mag nützlich sein, diesen für die begriffliche Auseinandersetzung der Künste wichtigen Gesichtspunkt an einem besondern Beispiele zu erläutern. Nehmen wir es von der Architektur her. Lotze zeigt in s. Geschichte (S. 505), wie die Bestimmungen, die Kant und Hegel von der Baukunst geben, den Begriff derselben zu weit fassen lassen, indes man fragen kann, ob er nicht von ihm selbst zu eng gefaßt wird.

    "Begriffe von Dingen — sagt Lotze — die nur durch Kunst möglich sind, und deren Form nicht in der Natur, sondern in einem willkürlichen Zwecke ihren Bestimmungsgrund hat, soll nach Kant die Baukunst ästhetisch wohlgefällig machen und zugleich jener willkürlichen Absicht anpassend verwirklichen. Hegel aber findet ihre allgemeine Aufgabe darin, die äußere unorganische Natur so zurecht zu arbeiten, daß sie als kunstgemäße Außenwelt dem Geiste verwandt sei." Aber, macht Lotze mit Recht geltend, nach Kant würde auch die Erzeugung alles Hausgerätes, sogar eines weißen Blattes Papier, nach Hegel Straßen, Kanäle, Eisenbahnen, Garten und Parke Erzeugnisse der Architektur sein, "jede Ansicht aber sei verdächtig, die sich in so grellen Widersprüchen gegen den Sprachgebrauch bewege." Lotze seinerseits findet Baukunst überall da, "wo eine Vielheit diskret bleibender schwerer Massenelemente [als namentlich Bausteine] zu einem Ganzen verbunden ist, das durch die Wechselwirkung seiner Teile sich auf einer unterstützenden Ebene im Gleichgewichte halt", — "Werke der Baukunst entspringen immer aus Addition nicht aus Subtraktion." — Dazu "scheine die Architektur als Kunst noch zu verlangen, daß das Gleichgewicht ihres ganzen Werkes nicht durch mancherlei verschiedene Kunstgriffe erzwungen, sondern durch die Gewalt eines einzigen Prinzips und seiner zweckmäßigen Anwendung gesichert werde." Hiernach würden die in den Felsen gehauenen Tempel der Inder und selbst manche Wohnungen, die man hier und da in Felsen gehauen findet, von der Architektur ausgeschlossen sein; doch wird man in Verlegenheit sein, sie anders unterzubringen, trotzdem daß sie vielmehr durch Subtraktion als Addition des Materials entstanden sind; auch würden so viele Häuser der Chinesen, die sich auf Flüssen schaukeln, nicht mehr als Bauwerke gelten können, wenn das Gegründetsein auf festem Boden zum Charakter eines Bauwerkes gehörte, und wohin sie doch sonst zählen?

    Nun ist die Sache die, daß die zweifellosesten Repräsentanten der Architektur, woran sich der Begriff der Architektur vornehmlich geknüpft hat, wirklich alles das in sich vereinigen, was von Kant, Hegel, Lotze zum Begriffe des architektonischen Werkes gefordert wird. Aber nicht überall trifft das Alles zusammen, und nun fordern Kant und Hegel weniger, Lotze mehr davon, als sich mit dem geläufigen Begriffsgebrauche vertragen dürfte. Denn nach diesem möchte man jeden Tempel, jede von der Außenwelt abschließende menschliche Wohnung nach kunstmäßiger Herrichtung noch ein Werk der Architektur nennen, wenn sie auch nicht aus diskretem Material gefügt oder auf fester Ebene gegründet sind. Von anderer Seite möchte man jeden aus diskretem Material kunstmäßig gefügten, auf einer festen Ebene gegründeten Gegenstand ein Bauwerk nennen, auch wenn er kein Tempel und keine menschliche Wohnung ist, so die Pyramide. Somit schienen alle drei Forderungen unwesentlich zu sein, da bald die eine bald die andere fallen kann, ohne daß der Begriff des Bauwerkes fällt. Wollte man aber alle zugleich fallen lassen, so käme man aus dem Gebiete der für die Hauptrepräsentanten der Architektur charakteristischsten Merkmale so weit heraus, daß man sich vielmehr nach einer andern Kunst zur Unterordnung umzusehen hätte.

    Bei einem monolithischen Obelisken und so manchen aus Stein gehauenen Denkmalen kann es hiernach ganz zweideutig erscheinen, ob sie vielmehr zur Architektur oder zur Plastik zu rechnen. Denn die entschiedensten Repräsentanten der Plastik vereinigen die Merkmale in sich, Abbilder des Organischen, insbesondre Menschlichen zu sein und vielmehr durch Subtraktion als Addition des Materials zu entstehen. Der Obelisk aber, indem er nur das letztre Merkmal mit der Plastik teilt, schließt sich dagegen in der Abwesenheit des ersten und der dem plastischen Werke häufiger fehlenden als zukommenden festen Gründung im Boden um so entschiedner den Hauptrepräsentanten der Architektur an.

    Solche Übergangsglieder von zweifelhafter Stellung kommen dann auch zwischen anderen Künsten vor. Plastik und Malerei gehen durch sehr flache farbige Basreliefs, Architektur und Gartenkunst durch die lebendigen Lauben, Poesie und Rhetorik durch rhetorische Poesie und poetische Reden in einander über.

    Nächst den Unterschieden und Übergängen zwischen den verschiedenen Künsten können die Verbindungen derselben den Ästhetiker beschäftigen. Es kann sein, daß eine Kunst die andere nur als Accompagnement mitnimmt oder nach besonderen Beziehungen in Dienst nimmt, oder daß sie eine vollständige Ehe zu einer gemeinsamen Leistung damit eingeht; doch kann sich nicht jede Kunst gleich vorteilhaft mit jeder anderen verbinden. Indes Tanz ohne Musik kaum zu bestehen weiß, ein lyrisches Gedicht als gesungenes Lied seinen Eindruck hoch gesteigert findet, hat man zwar mehrfach versucht, den Eindruck von Malerei durch Musik zu heben; aber wenn sich nicht beides mehr störte als unterstützte, so würde es nicht bei den seltenen Versuchen geblieben sein; beim Tanze ein Gemälde zu besehen oder einen Tanz mit einem Gemälde zugleich anzusehen, will nun vollends gar nicht gehen.

    Daß bildende Kunst und Poesie eine gewisse, wenn auch nicht so innige, Verbindung als Poesie und Musik, eingehen können, ist früher (Abschn. XI) besprochen. Von anderer Seite scheinen sich nicht alle Künste derselben Hauptklasse sonderlich zu vertragen, wenigstens will man von gemalten Statuen höheren Stils nichts wissen; obwohl mir weder die theoretische noch praktische Frage in dieser Hinsicht erledigt scheint, worauf ich in einem späteren Abschnitte zurückkomme. Auch jene Künste aber, die sich vorteilhaft verbinden können, vermögen es doch nicht auf jede Weise; jeder Tanz, jedes Lied will seine besondere musikalische Begleitung; es bedarf überhaupt der Accommodation, und dabei nicht selten eines Nachlasses von den jeder Kunst eigentümlichen Vorteilen, um vielmehr das, worin sie sich unterstützen, als das, womit sie sich stören, zur Geltung zu bringen und so doch im Ganzen einen Vorteil zu erreichen, den es Schade wäre verloren gehen zu lassen. Nun ist es ein interessantes Thema der Betrachtung, an welchen Bedingungen es hängt, daß manche Künste überhaupt sich mit größerem Vorteile kombinieren können, als andere und wie sie sich zu kombinieren haben. Das aber gehört in eine speziellere und sachliche Betrachtung der Künste.

    Sehr üblich ist es, den einzelnen Künsten nach einem zum Voraus abgesteckten Begriffe derselben vorzuschreiben, was sie darstellen und nicht darstellen dürfen, und dieses oder jenes Werk zu tadeln oder zu verwerfen, weil es nicht in einen der abgesteckten Begriffe ganz hineintritt. Das aber ist kein richtiger Gesichtspunkt der Kritik. Nicht darauf kommt es an, daß ein Werk die Aufgabe dieser oder jener, aus irgend welcher Kategorie abgegrenzten, Kunst erfüllt, sondern daß es die Aufgabe der Kunst überhaupt erfüllt, welche auf Erzielung eines unmittelbaren höheren wertvollen Lusteindruckes gerichtet ist. Alles ist der Kunst erlaubt, was sie zur Erreichung eines solchen Zweckes nur nicht in Widerspruch mit einem allgemeineren oder höheren zu leisten vermag. Dazu gilt es, die faktischen Mittel jeder Kunst nach ihrer Leistungsfähigkeit, nicht aber den Begriff nach seiner Leistungsfähigkeit zu untersuchen; und sollte sich ein Werk schaffen lassen, was unter keine der unterschiedenen Künste ganz unterzubringen ist, indes es doch dem allgemeinen Zweck der Kunst genügt, so hätte man nur einen Gewinn darin zu sehen. Freilich besteht die Voraussetzung, daß die Entwickelung der Kunst durch Jahrtausende schon zu Normen und Schranken geführt hat, welche zu sehr in der Natur der Menschen und Kunstmittel begründet sind, um gefahrlos verlassen zu werden, und daß diese in der bisherigen Abgrenzung der Künste gegen einander ihren Ausdruck gefunden haben; aber wäre es so, so könnte uns doch der vorgegebene Begriff einer Kunst nichts zu dieser Einsicht helfen.

    Von Manchen wird in einer obersten Zweiteilung der Künste die Poesie allen anderen Künsten als die allgemeinste gegenüber oder übergestellt. Auch kann sie gewisse Ansprüche in dieser Hinsicht erheben, sofern sie einerseits durch den direkten Wohllaut und Takt des Verses ein gemeinsames Element mit der Musik gewinnt, anderseits in den Vorstellungen, die sich an die Worte knüpfen, die durch sämtliche übrige Künste erweckbaren Vorstellungen bis zu gewissen Grenzen reproduzieren kann. Wenn man inzwischen gesagt hat, daß jede Kunst nur in so weit Kunst sei, als Poesie darin enthalten sei, so kann man mit dieser Poesie nur ein Abstraktum aus der wirklichen Kunst der Poesie meinen, und was in diesem Ausspruche treffend ist, dürfte darauf hinauslaufen, daß eben so wie der wesentliche Eindruck der Poesie auf Assoziationsvorstellungen dessen, was den Menschen und überhaupt fühlende Wesen interessieren kann, an ein sinnliches Material beruht, dies von jeder Kunst gelten solle, trifft aber bei Werken der Musik weniger zu als bei Werken der bildenden Kunst, sofern die Musik nach schon früher (im 13. Abschn.) gepflogenen Erörterungen wesentlicher durch direkten Eindruck melodischer und harmonischer Beziehungen als angeknüpfte Vorstellungen zu wirken hat. Daher findet man auch die Forderung, einen poetischen Eindruck zu machen, seltener auf musikalische Kunstwerke als Werke der bildenden Kunst angewandt. Viele kunstlose Töne sind sogar aus diesem Gesichtspunkte bei viel geringerer ästhetischer Bedeutung doch poetischer als die Sonate und Symphonie, z. B. der Klang eines Posthorns, eines Alphorns, das Glockengeläute der Herden in den Bergen, der Gesang einer Nachtigall, der Morgenruf des Hahns, das Frühlingsgeschrei der Frösche, indem sich Erinnerungen an das Leben auf Reisen, in den Bergen, am Morgen und im Lenze unwillkürlich und unweigerlich daran knüpfen, ohne daß ein direkter Reiz dieser einfachen Klänge oder Modulationen überhaupt oder sehr erheblich in Betracht kommt; wogegen der Haupteindruck der Sonate und Symphonie darauf beruht, daß sie die Seele unmittelbar in ästhetische Schwebungen durch ihre Tonbeziehungen versetzen. Eine Hütte, die schmucklos so gebaut und in die Umgebung eingebaut ist, daß alle Assoziationsvorstellungen, die sie erweckt, zum Ausdrucke einer uns interessierenden individuellen Gemüts- und Daseinslage zusammenstimmen, ist weit poetischer als ein prächtiger Palast, der Anspruch macht, durch Größe, Symmetrie und Zierat direkt zu wirken und nur die sehr allgemeine Assoziation von Reichtum und Würde des Bewohners mitführt.

    Aus einem anderen als dem vorigen Gesichtspunkte kann die Architektur höheren Stils als eine Kunst der Künste gelten 1), sofern sie Plastik, Malerei, Kunstindustrie teils in selbständigen Werken, teils dekorativ in sich aufnimmt, ihre Palasträume gern zu Musik, Tanz, Schauspiel, Festen jeder Art, ihre Tempelräume zur religiösen Feier darbietet, und, indes sie einen Rahmen für all das bildet, zugleich in Garten- und Parkanlagen einen Rahmen findet, oder den Gipfelpunkt oder Zielpunkt von landschaftlichen Aussichten darstellt, kurz aus gewissem Gesichtspunkte nicht nur um und zwischen allen anderen Künsten, sondern auch vermittelnd zwischen ihnen, der Natur und dem Leben steht, indes sie freilich ohne die anderen Künste selbst fast nur als ein Diener der Notwendigkeit erschiene.

1) "Nirgends, — so hörte ich in einem Vortrage über das Perikleische Zeitalter in Griechenland sagen, — ist die Kunst überhaupt zu einer Blütezeit gelangt, ohne daß die Architektur die Führung übernommen hatte."
 
 
    Endlich kann man es aus gewissem Gesichtspunkte auch wohl gelten lassen, wenn Manche über allen anderen Künsten als die höchste eine Kunst schön zu leben stellen; nur daß die Absicht einer solchen Kunst nicht in gleicher Vollkommenheit zu erreichen ist, als die Absicht der einzelnen Künste in beschränkterem Kreise, teils weil die Mittel dazu nicht eben so in unserer Hand sind, teils weil die, welche es sind, nicht eben so rein auf diesen Zweck gerichtet werden dürfen. Denn höher als die Forderung, schön zu leben, steht die Forderung, gut zu leben, was zwar bis zu gewissen Grenzen mit einander geht, aber auch in wichtige Konflikte kommt. Niemand kann wahrhaft schön leben, der nicht zugleich wahrhaft gut lebt, denn die höchsten und edelsten Genüsse, die wir uns selbst und Anderen zu bereiten im Stande sind, hängen an der Güte des Lebens, und eine dauernde Befriedigung ist ohne das nicht zu finden; aber nicht wohl kann gut leben, wer seine Absicht bloß darauf richtet, schön zu leben, denn an der Güte hängen auch die schwersten Pflichten und Opfer, die nur ein günstiges Geschick ersparen kann und deren vollständige Versöhnung selten in diesem Leben zu finden. Und hiernach kann man fragen, ob es nicht besser sei, eine Kunst, schön zu leben, als zu verführerisch neben der Pflicht gut zu leben gar nicht aufzustellen, sondern die einzelnen Künste nur als zeitweisen und örtlichen Schmuck und als mitzählende Bildungsmittel des Lebens in Betracht zu ziehen. Immerhin wird man zuzugeben haben, daß es unzählige aus den Künsten heraustretende private und gesellige Genüsse gibt, die unter einander und mit den Naturgenüssen, endlich mit der moralischen und religiösen Befriedigung zur größtmöglichen harmonischen Leistung zu kombinieren als Aufgabe gestellt werden kann, nur daß man den ästhetischen Gesichtspunkt einer solchen Aufgabe nicht obenan zu stellen hat. Das aber vermeidet man eben durch Vermeidung des Ausdrucks Kunst dafür.

    Will man versuchen, aus dem Begriffe der Kunst heraus Regeln für die Ausübung der Kunst zu geben, so muß man im Auge halten, daß ihr Begriff überhaupt nur das Ziel aber nicht die Weise, wie dazu zu gelangen, bestimmt; und versucht man, aus der Natur der Menschen und Dinge diese Regeln mit Hinblick auf dies Ziel zu schöpfen und das Allgemeinste darüber zu sagen, was Alles erschöpft und woraus Alles zu schöpfen, so findet man bald, es ist nicht in einem Satze zu sagen. Doch scheint mir mindestens betreffs der bildenden Kunst das Wesentlichste sich in folgende wenige Regeln zusammenfassen zu lassen:

    1) Eine wertvolle, mindestens interessierende, ansprechende Idee zur Darstellung zu wählen. 2) Diese ihrem Sinne oder Gehalte nach möglichst angemessen und deutlich für die Auffassung im Sinnlichen auszuprägen. 3) Unter gleich angemessenen und deutlichen Darstellungsmitteln die vorzuziehen, die schon ohne Rücksicht auf ihre Angemessenheit und Deutlichkeit mehr gefallen als andere. 4) Die in dieser Hinsicht für das Ganze des Werkes maßgebenden Gesichtspunkte auch für das Einzelne aber nur in Unterordnung unter das Ganze maßgebend zu halten. 5) Bei eintretenden Konflikten zwischen diesen Regeln jede der anderen so weit nachgeben zu lassen, daß das größtmögliche und wertvollste Gefallen im Ganzen dabei herauskommt.

    Man darf wohl sagen, daß in diesen Regeln alle Regeln der bildenden Kunst überhaupt inbegriffen sind; nur sind sie nicht eben so leicht für den einzelnen Fall daraus zu holen, als darin einzuschließen. Der rechte Künstler trägt sie im Gefühl und verwertet sie im Werke; Aufgabe des Ästhetikers ist, sie verstandesmäßig auseinanderzusetzen, so weit es eben verstandesmäßig geht; und so werden wir auch unsrerseits dies in folgenden Abschnitten versuchen.