VIII. Das Alte und Neue der Tagesansicht.
So neu die Tagesansicht in gewisser Hinsicht erscheint und ist, so alt kann man sie in andrer Hinsicht finden; ja sollte sie etwas ganz Neues sein, so wäre sie sicher etwas von Grund aus Falsches, denn die Wahrheit kann niemals ganz fehlen, nur viel an der ganzen Wahrheit fehlen und viel über die Wahrheit hinaus sein. Um nun das daran Fehlende zu ergänzen, muß das Zuviele fallen; und so enthält die Tagesansicht mit dem Alten teils mehr, teils weniger als das Alte.
In diesem Sinne ward schon mehrfach hervorgehoben, daß die Tagesansicht im Grunde nur die Aufhebung zweier geschichtlich nacheinander zur Geltung gekommenen Weltansichten ineinander ist, daß sie ihre Ideen in höchsten und letzten Dingen mit der christlichen Ansicht, ihren naturwüchsigen Grund mit der heidnischen Ansicht teilt. Indem sie aber, statt die eine äußerlich und widerspruchsvoll zur andern zu fügen, die eine durch Aufhebung in der andern und Gipfelung durch die andre einheitlich fügt, weicht sie von jeder insbesondere, nicht bloß durch das Mehr der andern, sondern auch durch Fallenlassen der Momente, die nicht zu diesem Verhältnis stimmen, ab. Und indem die heutigen theologischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Ansichten sich dieser einheitlichen Fügung von der oder jener Seite entziehen, stimmt auch die Tagesansicht nirgends ganz, sondern immer nur von dieser oder jener Seite, in diesem oder jenem Stück, damit zusammen, um in andrer Beziehung um so mehr davon abzuweichen.
Wohl am aufdringlichsten tritt der Unterschied der Tagesansicht in großen Stücken von den jetzt herrschenden Ansichten hervor in der Ansicht von der objektiven Ausbreitung der sinnlichen Erscheinung durch die Welt, in der Durchführung der Immanenz der endlichen Geister in Gott statt bloßer Phrase, in der Lehre von der Seele der Gestirne und der Pflanzen, und in der Weise, das Jenseits aus dem Diesseits zu folgern. Man hat gesehen, wie natürlich alles das in der Tagesansicht zusammenhängt, auseinander quillt, sich wechselseitig hält und stützt und fordert, wogegen in die heutige Weltansicht nichts davon recht passen will. Inzwischen dürfte es nicht ohne Interesse sein, zu überblicken, worüber ich aber lieber von hier andershin verweise (Zendavesta III, 332 ff.), wie die für den ersten Anblick so ganz fremdartig erscheinende Lehre vom Jenseits im Grunde nur zugleich die Sammlung und einheitliche Verknüpfung sozusagen aller möglichen, bisher vorgekommenen, Ansichten darüber ist, ja selbst der Spiritistische Jenseitsglaube der Neuzeit tritt (nach XXIII) mit in sie hinein. Daß der Glaube an die individuelle Gottbeseeltheit der Gestirne eine Sache des alten Heidentums ist, weiß jeder Schüler aus den Lehrstunden der Mythologie; bekanntlich wurzelte auch der christliche Glaube an Engel ursprünglich in diesem Glauben und besteht derselbe unter den Naturvölkern heute noch ringsum. Die Ansicht von der Verbreitung der sinnlichen Erscheinung durch die Welt kann man in einer neueren Fassung der Monadologie (Abschn. XXII) wiederfinden; und für die Immanenz der endlichen Geister in Gott ward von vornherein (S. 14) als erste Autorität ein biblisches Wort angeführt, wozu sich mehr als ein Philosoph und Dichter als Mitbekenner anführen ließe.
Kann man nun nach all dem mit Recht sagen: Alles von der Tagesansicht sei teils schon da gewesen, teils noch da, so bleibt doch ebenso wahr, die ganze Tagesansicht war damit nicht da und streitet mit der ganzen heutigen Weltansicht, wofür sie deren Widerspruch von allen Ecken und Enden her zu erwarten haben wird, denn eine einige Mitte hat dieselbe ja nicht.
Leicht läßt sich die Tagesansicht mit Naturphilosophie verwechseln; und warum nicht; nur daß man sie nicht mit jeder Fassung derselben verwechsle. Naturphilosophie kann aber gefaßt werden einmal als Lehre von den allgemeinsten Gesichtspunkten und Gesetzlichkeiten, welchen sich die Welt der materiellen Dinge rücksichtslos auf einen geistigen Gehalt unterordnet, kurz als eine allgemeinere und höhere Naturwissenschaft; und auf eine solche möchte sich die Tagesansicht wohl stützen, ohne deren Auf- und Ausbau zu ihrer Aufgabe selbst zu rechnen; fände sie nur bisher mehr als Bruchstücke und Probleme einer solchen vor. Naturphilosophie kann zweitens gefaßt werden als eine Lehre von den allgemeinsten und höchsten Beziehungen der geistigen zur materiellen oder innerlich erscheinlichen zur äußerlich erscheinlichen Welt, wohinein die Ansicht von einer Gottbeseelung der ganzen Welt und der Gliederung dieser beseelten Welt tritt. Eine Naturphilosophie in diesem Sinne beansprucht die Tagesansicht wirklich zu sein, nur nicht bloß von theoretischem Gepräge, sondern mit einer Tragweite ins Religiös-Praktische hinein; auch würde sie sich in umgekehrter Richtung so darstellen lassen, daß letzterer Gesichtspunkt als der leitende und übergeordnete erschiene. Drittens aber läßt sich unter Naturphilosophie eine Lehre verstehen, welche die Natur aus Kategorien, die vielmehr ins geistige Gebiet gehören, oder worin sich die Gesichtspunkte beider Gebiete unklar mischen, nach einem fertigen Schematismus betrachtet. In diesem Sinne ist die Naturphilosophie neuerdings hauptsächlich aufgetreten, hat damit in die Naturwissenschaft hineingestört, und die Empörung der letzteren dagegen hat selbst das Wort Naturphilosophie in Verruf gebracht. Und nachdem man die Tagesansicht unter diesem Worte mit gefangen hat, hat man sie auch darunter mit gehangen.
In dem Sinne aber, in welchem die Tagesansicht sich als Naturphilosophie wirklich gibt, d. i. nach ihrer theoretischen Seite, ist sie im Grunde nur die Vollendung und der Abschluß dessen nach oben, was von unten als Psychophysik angehoben ist, oder die Glaubensblüte und Frucht oberhalb der Wurzel, welche die Psychophysik unmittelbar im Wissen sucht. Man hat sich gewundert, daß die erste Darstellung der Tagesansicht im "Zendavesta" und die "Elemente der Psychophysik" denselben Autor haben. Es sei zweierlei und im Autor selber eine Spalte. Aber sieht man denn nicht, wenn die Entwicklungsprinzipien beider zusammenhängen und zusammenstimmen. Im Gebiete des Erfahrbaren auf Erfahrung fußen, wie die Psychophysik tut, und darüber hinaus immer noch darauf fußen, nur mit der erforderlichen Verallgemeinerung, Erweiterung, Steigerung der Gesichtspunkte, wie die Tagesansicht theoretischerseits tut, sind doch nicht gar zu verschiedene Dinge. Auch beweist sich der prinzipielle Zusammenhang beider Lehren von selbst damit, daß der erste Keim der Psychopysik sich aus der ersten Darstellung der Tagesansicht - gab ich ihr auch früher noch nicht diesen Namen - herausgebildet hat (Zendavesta II. 373), und daß in einigen Schlußabschnitten der Elemente der Psychophysik (XLV und XLVI) gezeigt ist, wie man mit Verallgemeinerungen aus der Psychophysik in die Tagesansicht hineinkommt.
Ähnlich als mit dem Inhalt der Tagesansicht verhält er sich mit den Entwicklungsprinzipien dieses Inhaltes. Einzeln genommen ist nichts daran neu, nur das einstimmige Zusammennehmen alles dessen, worauf sich fußen läßt, ist neu. Von jeher hat man Schlüsse vom Gegebenen auf das Nichtgegebene gemacht, und einseitige Schlüsse der Art sogar auf die allgemeinsten, höchsten und letzten Dinge erstreckt; von jeher haben praktische und historische Gesichtspunkte beigetragen, den religiösen Glauben zu stützen oder zu begründen. Die Tagesansicht hat eben nur das Neue, daß sie nicht den einen oder andern, sondern alle diese Wege ohne ihre Einseitigkeiten und Halbheiten gehen und gelten läßt, und in möglichster Zusammenstimmung aller die möglichste Sicherstellung des Glaubens sucht (IV. IX). In gleichstarkem Gegensatze aber steht sie gegen die zwei Hauptrichtungen der heutigen philosophischen Nachtansicht, welche bei eignem Gegensatze gegeneinander das gemein behalten, daß sie alle jene Wege, die es gibt, vom Gegebenen zum Nichtgegebenen zu gelangen, aus Einzelfällen das Gesetz zu finden, von uns aus über uns hinaus und hinauf zu schließen, vernachlässigen oder gar verwerfen, um entweder aus der aprioristischen Leere abstrakter Begriffe heraus den ganzen Weltinhalt zu erzeugen und zu begreifen, oder das Wissen des Menschen um die Welt auf das Wissen um seine eigne Subjektivität zu beschränken.
Was nun auch in der Tagesansicht alt oder neu sein mag, so enthält aber diese Schrift insofern nichts wesentlich Neues, als sie im Grunde nur den Inhalt früherer Schriften, teils kürzer zusammenfassend, teils weiter oder nach andern Richtungen ausführend, teils in andern, mitunter auch wohl denselben Wendungen wiedergibt. Warum tut sie es? Nun, zuvörderst weil jener Blick von der Bank ins Grüne sie sozusagen wie aus einem frischen Keime hervortrieb, dann weil ein Baum, der die ersten Hiebe der an ihn gelegten Axt wenig spürt, von einem letzten Hiebe fallen kann, wenn dieser auch nur den ersten gleicht; endlich, weil überhaupt: "Nunquam satis dicitur, quod nunquam satis disciture".
Folgendes das Verzeichnis der früheren Schriften, die sich in Darstellung der Tagesansicht teils ergänzen, teils aus verschiedenen Gesichtspunkten zusammentreffen, in der jetzigen aber sich in gewisser Weise resümieren, nach der Zeitfolge ihres ersten Erscheinens.
Von erstgenannten Schriften möchten die "drei Motive" und "Über die Seelenfrage" am geeignetsten zur Einführung in die ganze Lehre sein, erstere besonders in prinzipiellem Bezuge, letztere durch ihre Behandlung einiger Hauptthemata. Auf den Inhalt beider ist in dieser Schrift nur in Kürze zurückgekommen. Am eingehendsten, mitunter unstreitig etwas zu breit, ist die Lehre in den 3 Bänden des "Zendavesta" entwickelt, wovon der dritte für sich allein die Unsterblichkeitslehre nach den verschiedensten Seiten behandelt, während sich dieselbe im "Büchlein" kürzer und hiermit vielleicht ansprechender darstellt. Die ethische Seite der Tagesansicht, worauf diese Schrift nur beiläufig Bezug nimmt, ist in der Schrift "Über das höchste Gut" besonders vertreten.
Zwar gibt es einige Punkte der Abweichung dieser Schrift von jenen früheren Schriften, deren besonders zu gedenken ist. Die wesentlichste Abweichung von formaler Seite, sofern sie ihren Einfluß auf den ganzen Gang der Betrachtung erstreckt hat, ohne zu wesentlich andern Ergebnissen zu führen, möchte darin liegen, daß in der jetzigen der Hinweis auf die Verödung der Welt unter dem Gesichtspunkte der Nachtansicht den Ausgang der Betrachtung bildet, indes in jenen früheren der Ausgang vielmehr von positiven Analogien, Zusammenhangs- und Ursprungsbetrachtungen größeren Stils genommen ist. Man kann an jeder dieser Ausgangsweisen im besonderen mäkeln, sofern man die Begründung der ganzen Tagesansicht darin finden will; aber die Tagesansicht kann überhaupt nicht zulänglich von einem einzelnen Gesichtspunkte oder einer einzelnen Seite aus begründet werden, sondern jedes Moment derselben hat beizutragen, das Ganze zu halten. Einige ergänzende Betrachtungen zu dem hier genommenen Ausgangspunkte aber sind noch in einem der letzten Abschnitte (XXIV) enthalten.
Sachlich ist die Freiheitsfrage im 16. Abschn. dieser Schrift anders aufgefaßt und behandelt als in Zendavesta I, 374 ff. und Üb. d. Seelenfrage 217 ff. Mancher mag die frühere Auffassung der neueren noch vorziehen, die mir doch mit ihrer größeren Entschiedenheit zugleich größere Klarheit, innere Festigkeit und praktische Verwertbarkeit zu verbinden scheint, vorausgesetzt, daß die Entscheidung und Verwertung vielmehr im Sinne der Tagesansicht als Nachtansicht geschieht. Denn damit ändern sich die Gesichtspunkte, Bedingungen und Folgen der Entscheidung. Anderseits ward schon früher in den "Ideen zur Schöpfungsgeschichte" die in Zendavesta II, 174 ff. vorgetragene Ansicht von der Entwicklung des organischen Reiches verlassen; andrer Punkte der Abweichung von mehr untergeordneter Bedeutung zwischen der jetzigen und den früheren Schriften nicht zu gedenken.
Mit all dem, wird man sagen, beweist sich aber, daß die von vornherein so anspruchsvoll und zuversichtlich gegen die Nachtansicht aufgetretene Tagesansicht ihrerseits schwanken und irren kann.
Es ist wahr, ist aber auch von vornherein zugestanden (S. 17), denn zur Unbescheidenheit der Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht fehlt es doch der Tagesansicht nicht an Bescheidenheit auf ihrem eignen Gebiete.
Das feste Wesen der Tagesansicht ruht in den drei Grundpunkten des 3. und den drei Glaubensprinzipien des 9. Abschnittes. Wer sich zu diesen Grundpunkten und Prinzipien, von denen die ersten sich auf letztere stützen, bekennt sich damit zur Tagesansicht und findet damit nicht nur seine Weltansicht aus allgemeinsten und obersten Gesichtspunkten, sondern auch die Hauptrichtung ihrer Entwicklung bestimmt. Nach Maßgabe als man irgendeines jener sachlichen oder formalen Momente der Tagesansicht preisgibt, verläßt oder verleugnet, gerät man in die Dunkelheiten, Einseitigkeiten, Widersprüche, Trostlosigkeiten, tiefen Zerwürfnisse der Nachtansicht. Aber die drei Glaubensprinzipien sind doch zugestandenermaßen keine Prinzipien absoluten Wissens, sondern bloß Prinzipien des Fortschrittes zu um so größerer Sicherheit, je mehr man in triftiger Anwendung derselben fortschreitet; und die Aufgabe der Entwicklung einer Weltansicht nach allen Seiten und Bestimmungen ist zu groß, als daß erste Versuche derselben vollendete sein könnten. Und so wird es freilich auch dieser Versuch nicht sein, und sich zu bescheiden haben, wenn nur Grund und Anlage desselben ihre Haltbarkeit beweisen. Nicht nur wird jedes Buch, was jene Prinzipien besser als dieses zu verwenden weiß, über diesem Buche sein, sondern dies Buch bekennt selbst, daß es ein solches geben kann, indes es zugleich behauptet, daß es eben nur mittelst Verwendung seiner Prinzipien ein solches geben kann, und daß der Widerspruch gegen die Nachtansicht damit nur um so durchschlagender werden muß.