VI. Religiöse Ansichten und Aussichten.

    1. Damit, daß die Tagesansicht in eine Glaubenslehre ausläuft und als solche abschließt, geht sie weit über bloße Philosophie hinaus, Sofern sich diese, umsonst freilich, des Glaubens im Prinzip entschlagen will, wie früher (Kap. 4) besprochen; stimmt vielmehr in dieser Hinsicht mit der Religion, und ist in ihren höchsten und letzten Glaubenssätzen selbst Religion; aber was sie mehr als Philosophie ist, ist doch nicht dawider. Auch der historische Offenbarungsglaube, vertreten wie er ist durch die orthodoxe Theologie, ist weit mehr als bloße Philosophie, aber was er mehr ist, ist zum Teil dawider. Daher konnte Paulus von einer göttlichen Torheit sprechen, welche höher als die menschliche Weisheit ist; konnte Tertullian sagen: credo quia absurdum est; und sagt Luther irgendwo (so oder ähnlich): es sei ein höchst verwerflicher Satz der Sorbonne, daß, was für die Mathematik und Philosophie wahr sei, auch für die Theologie wahr sein müsse. Und heute noch wird der menschlichen Vernunft vom Offenbarungsgläubigen oft genug vorgeworfen, daß sie in höchsten und letzten Dingen leichter auf falsche als rechte Wege führe.

    Wie nun wird sich der historisch fest gewordene Offenbarungsglaube gegen die Tagesansicht und diese gegen ihn stellen, nachdem die Tagesansicht ihrerseits Anspruch macht, Religion zu sein? Sagen wir es erst kurz: er wird die Tagesansicht verwerfen, weil sie bekennt, nur das Höchste und Beste, aber nicht das Ganze von ihm zu haben und zu nehmen; die Tagesansicht aber wird sein Höchstes und Bestes retten, noch ehe es mit dem Ganzen selbst verfällt. Hiernach sagen wir dasselbe etwas länger.

    2. Der Offenbarungsgläubige bedarf überhaupt nur des historischen und praktischen Grundes zur Gewißheit seines Glaubens, und wird das ehrwürdige Buch, was ihm diese Sicherheit bietet, nicht aus der Hand legen, um nach diesen neuen Blättern zu greifen. Warum sollte er auch? Er findet durch das Wort von oben gegeben, wozu diese Blätter erst von unten aufzusteigen suchen, und fühlt sich im Verlaß darauf alles Schwankens und Irrens menschlicher Vernunft überhoben. Der feste Stand auf seinem Glaubensfelsen inmitten der ihn umbrausenden und von allen Seiten dagegen anlaufenden Fluten heutiger Philosophie mag von ihm nicht mit einem Sturz in deren Bodenlosigkeit vertauscht werden. Und weil er, von oben sich auf seinen Standpunkt gestellt findend, die Stufen zum Aufsteigen nicht braucht, welche diese Blätter zugleich brauchen und gewinnen, vermißt er sie auch nicht, und ist durch seinen Glaubenspanzer von vornherein gegen den Angriff jeden Widerspruchs gewappnet, der aus menschlicher Weisheit stammt, mit welcher und zwischen welcher diese Blätter die Versöhnung suchen.

    Doch gibt es andre, ja viel mehrere und immer mehr von Tag zu Tage, die, sofern sie im orthodoxen Offenbarungsglauben zu jenen zwei Gründen, dem historischen und praktischen, den dritten Glaubensgrund vermissen, in welchem diese Versöhnung liegt, am Glauben an die höchsten und letzten Dinge irre werden, und diesen bietet die Tagesansicht ihre Hilfe dar.

    Aber es ist mehr, als eine bloße Hilfe, welche sie einzelnen bietet, es ist eine Wiederaufrichtung des Glaubens, die sie der Welt im ganzen bietet; und bedarf es solcher etwa nicht?

    Werfen wir einen ernsten Blick auf den heutigen Stand der Dinge.

    3. Ein Gefühl geht durch die Welt: so kann es nicht bleiben, oder so kann es nicht fortgehen. Schon sucht ja die Welt fast mit Angst eine Erneuerung des Glaubens oder gar einen neuen Glauben; schon proklamiert sich sogar ein solcher als im Bunde mit dem Wissen, der aber nur der Sturz des alten Glaubens ist, und damit die Angst der Welt nicht stillen, sondern nur steigern kann. Zieht er doch nur die letzten Konsequenzen der Nachtansicht, in Widerspruch mit denen sich der alte Glaube aufrecht hielt, Licht und Trost fand, und damit den Widerspruch gegen die Tagesansicht, den er von andrer Seite selber teilte, überwand. Denn im Grunde sinkt mit der lichten Erscheinung, welche sich durch die Welt breitet, alles Höhere, was darüber aufsteigt, in Nacht; der alte Glaube aber hat es, davon abgerissen, in einen Himmel über den Himmeln gerettet; der neue stürzt es folgerichtig in dieselbe Nacht.

    Überdenke ich nun mit dem Heute das Morgen, so stellt es sich mir so vor Augen:

    4. Die zwar Glaubensschwachen, doch Vernunftstarken, die es noch gut mit der Religion meinen und ihren Verfall aufhalten möchten, meinen es dadurch zu können, daß sie alle morschen Balken aus dem historischen Baue derselben ausziehen; festere oder nur andre dafür einzuziehen haben sie nicht, denn statt solche von der Philosophie empfangen zu können – und wo sie sonst suchen – trägt diese nur ihr eignes Zerwürfnis und ihre Glaubenswidrigkeit darauf über; auch läßt sich eine Religion nicht flicken. Die Naturforschung aber hämmert das, durch jene Rettungsversuche nur immer hinfälliger gewordene, Bauwerk vollends zusammen. Noch stemmen sich die Orthodoxen mit aller Kraft dagegen, das Morsche so festhaltend als das Feste, indem sie der richtigen Überzeugung leben und sterben, daß man, wenn das Ganze halten soll, es ganz halten muß; und wahrlich an ihnen hängt noch der Hauptsegen der Religion, solange sie noch hält, weil sie durch sie überhaupt noch hält. Da ist doch noch Glaubenszusammenhalt, Glaubenskraft und Glaubensfrucht zu finden, wo sonst? Denn was es Gutes sonst gibt, fließt nicht aus dem Glauben. Und ob es auch nicht an Heuchlern und stillen Zweiflern unter ihnen fehlt, so sind’s nur irre Schafe von der Herde, aber es ist doch noch eine Herde, die sich unter einem Hirten, einem Obdach sicher fühlt. Aber das schon klein gewordene Häuflein schmilzt mehr und mehr zusammen, und wird endlich unter dem unaufhaltsamen Ruin des einst so gewaltigen Bauwerks begraben, nachdem auch der Staat demselben seine Stütze entzogen hat, wofür er nun keine Stütze mehr darin findet. Wehe deshalb der Kirche und wehe deshalb dem Staate. Pessimistische Begriffe von oben und Proletarierfäuste von unten vollenden den Ruin, indem sie auch die Trümmer des alten Bauwerks noch zertrümmern.

    5. Man sagt: das gilt der Kirche; aber Kirche und Religion sind zweierlei; laßt die Dogmen der Kirche fallen, so freier wird die, nicht mehr dadurch gefesselte, Religion sich entwickeln. – Aber seltsam, je mehr man von den unhaltbaren Dogmen der Kirche fallen sieht, so mehr sieht man vom Halt der Religion fallen; die freigelassene zerfährt und entschwindet in die Lüfte. Wenn Kirche und Religion zweierlei sind, so ist’s, wie Leib und Geist zweierlei sind; sie bestehen und verfallen miteinander. Und sind nicht schon alle Zeichen ihres Miteinanderschwindens da? Man heizt die Kirchen, man gibt Taufe und Abendmahl umsonst; es ist umsonst; man beseelt einen Leichnam nicht wieder durch äußere Erwärmung, und das Volk mag das im Preise herabgesetzte Gut nicht mehr. Schon dünkt den Gemeinden der Pfarrer eine Last; denn wer will noch gern für die Unterhaltung eines Predigers zahlen, in dessen Predigt er nicht geht und dessen Sakramente er nicht braucht; der Tisch des Standesbeamten ersetzt ja den Altar; wenigstens wird als Pfarrer der Mindestfordernde in Glaubenssachen vorgezogen. Nach dem neuen Glauben ist Gott überhaupt nur noch der Name für eine allgemeine Weltordnung, die in den Menschen zum Bewußtsein kommt, und das künftige Leben für die ins Allgemeine zerfließenden Folgen des diesseitigen Lebens; und manche Predigt von der Kanzel der Vernunft täuscht die Andächtigen nur noch mit diesen Namen. Gibt es aber noch solche, die mehr als bloße Namen oder Surrogate für Gott und Jenseits wollen, so wissen sie nicht, wie und wo es zu finden, nachdem nur die Vernunft, nicht das Wort mehr in der Bibel gelten soll, die Vernunft des einen aber wider die des andern, der Lehrstuhl gegen die Kanzel ist, und endlich gar der Vernunft des einzelnen und wäre er der Unvernünftigste, überlassen wird, sich den eignen Glauben oder Unglauben zu machen oder von dem oder jenen machen zu lassen; indes der Glaube in der Zusammenstimmung der Gläubigen sein Lebensprinzip und seinen Halt zu suchen hat, und Staat und Kirche sich dahin einigen sollten, durch einheitliche Lehre diese Zusammenstimmung zu sichern; nur daß es heutzutage nicht mehr geht. Zuletzt kommt man soweit, die Zusammenstimmung des Glaubens nicht mehr zu vermissen; und so halten schon Christentum und Judentum, Katholizismus und Protestantismus fröhlich Hochzeit, wie alles im Nichts Hochzeit macht, und wenn es zu nichts geworden ist. Und ist es noch nicht überall soweit, so geht es doch wie auf einer schiefen Ebene dazu hinab, und je rascher es hinabgeht, so lauter ist der Jubel über die Bewegung. So nun ist der religiöse Glaube außerhalb der orthodoxen Kreise durchschnittlich schon bis nahe zum Niveau, in tieferem tief darunter bis ins Negative herabgesunken; und der Orthodoxie selbst fällt es immer schwerer, Stand zu hatten, wie einer Festung, die man von allen Seiten berennt und um die das Land ringsum verwüstet ist.

    Jetzt stellen wir uns einmal die Zeit, welche droht, erfüllt vor, wo es keine Religion und keine Kirche mehr gibt. Es wird eine Zeit sein, wo jedes Faß seine Reifen sprengt, das Unterste sich gegen das Oberste kehrt, um selber obenauf zu sein, das von Gott und Jenseits abgefallene Sittengesetz umsonst Stütze in der freien Lust sucht, das vom Zufall gehandhabte Gesetz der Natur und von der Masse gehandhabte Gesetz des Staates umsonst Licht und Zucht von oben zu ersetzen, Pflicht und Liebe gegen den Nächsten zu erwecken suchen, die nicht mehr mit Wasser Getauften anfangen mit Blut zu taufen. Es wird eine Zeit sein des allgemeinen Kampfes um das Dasein und der Klugheit gegen Klugheit, statt des Gefühls einer Zusammengehörigkeit und Verkettung alles Daseins aus höchsten und letzten Gesichtspunkten.

    Doch dabei kann es nicht sein Bewenden haben, ja dazu wird es nicht ganz kommen können, und ehe man noch weiß, wie sichs wenden wird, kann man sicher sein, daß sichs wenden wird. Die Religion kann nur sinken, um elastisch wieder aufzusteigen.

    Solange eine Religion noch da ist, ist sie überall da, wo es auf Höchstes, Letztes, Einigendes, Dauerndstes, Abschließendes ankommt; und wo sie abhanden kommt, kommt all das abhanden, dem einzelnen wie dem Staate, der Sitte, der Wissenschaft, der Kunst. Liegt einer im Bette und weiß nicht mehr wo aus noch ein, so hat er noch eine Hoffnung auf Gott und ein alles Leid versöhnendes Jenseits, ohne das nur Resignation oder Verzweiflung. Wohin keine Furcht vor dem Gesetze reicht, reicht die Furcht vor Gott und jenseitiger Vergeltung. Jenem aber nicht diesem läßt sich entwischen. Ohne Abschuß im religiösen Glauben fährt die Wissenschaft hin und her ohne Ziel, oder findet nur im Leeren das Ziel; und streichst du aus der Kunst die religiösen Ideen, so hast du sie sozusagen um ihr Haupt verkürzt. Wäre selbst all’ das eine Illusion, was sie nur für die folgerechte Nachtansicht ist, sie ließe sich auf die Dauer nicht missen.

    Die ganze Weltgeschichte ist in allgemeinsten Zügen und aus obersten Gesichtspunkten durch religiöse Motive, Antriebe, Satzungen beherrscht worden; das Größte und Beste wie das Größte und Schlimmste in der Geschichte ist dadurch hervorgegangen, das Beste durch das Beste, das Schlimmste durch das Schlimmste der Religionen, indes das Allerschlimmste aus dem Mangel jeder Religion hervorgehen würde. Denn die schlechteste Religion, solange sie noch den Namen Religion verdient, ist besser als keine. Das ändert sich nicht und wird sich nie ändern, wenn auch der Physiolog vor dem geschlachteten Hunde, der Chemiker vor dem geheizten Ofen selbst nichts von diesem Wehen, was durch die Weltgeschichte geht, spüren, und meinen sie könne ohne das auskommen. Sie würde lieber ohne Physiologie und Chemie als ohne das auskommen.

    Also kann die Religion nicht verfallen, ohne daß mit ihrem Verfall das Bedürfnis der Erneuerung für den einzelnen wie für das Ganze wächst und immer stärker wächst, bis nach allen vergeblichen Versuchen der Restauration des Alten die Zeit zum neuen Baue reif geworden.

    Ist die Zeit dazu schon voll? Ich weiß es nicht; aber laß es heute noch nicht sein, so wird es morgen oder übermorgen sein. Und nun sehe man wohl zu, ob nach Erschöpfung aller Mittel der Nachtansicht, die Religion durch Ausbesserung oder Entleerung noch zu halten, und aller Kräfte der Orthodoxie, sie wie sie ist zu halten, ein andres übrig bleibt, als sie im Sinne der Tagesansicht neu zu erbauen.

    Der neue Bau aber, in den die Tagesansicht ihre Bekenner ladet, wird nicht auf und aus den Trümmern des alten, sondern auf neuem Grunde, aus neuen Balken, neuen Steinen erstehen, nur mit dem unzerbrechlichen Kreuze des alten auf der Spitze. Nicht aber dem Kreuze, an das Christus geschlagen ist, sondern das von ihm ins Licht erhöht ist, um selbst über alle Welt hin zu leuchten. Und ließe es sich nicht aus den Trümmern des alten Baues, in die es alle Tage mehr versinkt, von neuem erhöhen, so fehlte auch dem neuen Baue seine Spitze. Ja er könnte sich nicht neu erheben, wenn er nicht von vornherein seine Richtung auf die Wiederaufrichtung und Erhebung dessen, worin er einstimmig mit dem alten zu gipfeln und sich abzuschließen hat, nähme. Der Zug nach oben kommt hier wie da von oben; aber die Steine können sich nur durch Kräfte von unten im Sinne dieses Zuges fügen.

    6. Ohne Bild will ich mit vorigem folgendes sagen.

    Im Christentum verknüpfen sich zwei Ideen, eine ewige universale, in deren Geltendmachung es alle früheren Zeiten an Klarheit, Entschiedenheit und Höhe überboten hat, womit es alles, was ihm noch entgegensteht, überwinden wird, und worin es seinen ewigen Bestand behaupten wird; und eine zeitliche, spezifisch dogmatische, welche die heutige Gestalt des Christentums wesentlich mitbestimmt und von den Orthodoxen zum Wesen desselben selbst, ja fast als dessen Wesen, gerechnet wird.

    Die erste liegt darin, daß, nicht Juden, Heiden insbesondere, sondern alle Geschlechter und Völker der Erde sich im Glauben an einen einigen, das Beste wollenden Gott und ein jenseitiges Leben mit gerechter Vergeltung zu einigen haben, ein sittliches Band, eine Richtung des Handelns, einen Trost, eine Hoffnung über die irdische hinaus in diesem Glauben zu finden haben. Christus aber haben wir als Stifter dieser Idee ins Leben und obersten Vertreter derselben zu verehren l).

l) "Daß Christus das Höchste gesetzt hat als das Einigende und das Weiteste gesetzt hat als das zu Einigende und das Beste gesetzt hat als das Höchste, das hat ihm keiner zuvor getan und tut ihm keiner nach, denn Er hat es getan." .... "Das aber ist’s gewesen, was Alle unter ihm geeinigt hat und alle einigen wird, die noch nicht einig sind, daß er die Einigung Aller aus dem Gesichtspunkte aus dem allein eine Einigung Aller möglich ist, zuerst mit Bewußtsein ins Bewußtsein der irdischen Welt gebracht, und durch Lehre und Leben den lebendigen Anstoß zur Verbreitung und Betätigung dieser Idee gegeben hat, daß alle Menschen sich als Kinder desselben einigen, nur Gutes wollenden, Gottes, als Bürger eines, über das Diesseits hinaus reichenden, himmlischen Reiches und als Brüder zu einander fühlen, in diesem Sinne trachten und handeln sollen." Zendavesta II, 38. 39.)
Judentum und Islam teilen zwar die Idee des einigen Gottes und des Jenseits mit dem Christentum, und tragen dadurch selbst bei, die universale Bedeutung dieser Ideen zu beweisen, bleiben aber hinter dem Christentum damit zurück, daß das Judenvolk sich für auserwählt hält, einen Messias für sich sucht, und die Religion in die Fesseln äußerer Satzungen schlägt, der Islam aber nur ein Himmelreich voll Sinnlichkeit vor Augen stellt, und sich vielmehr durch das Schwert als die Macht jener Ideen selbst zu verbreiten sucht.
 
 
    Die zweite Idee liegt darin, daß der durch Adams Schuld mit Erbsünde behaftete Mensch, unfähig, sich selbst von den Folgen derselben zu retten, allein durch Vermittlung von Christi Kreuzestod Vergebung und Versöhnung seiner Sünden zu erlangen vermöge, indem Gott selbst, in zweiter Person als Christus vermenschlicht, sich zu diesem Opfertode hergegeben und den Weltgang durch ausnahmsweise Wunder in diesen Heilsweg geleitet und darin erhalten habe.

    Beide Ideen, obwohl ihrem Inhalt nach sich äußerlich und für das Denken einander nicht notwendig fordernd, sind doch historisch miteinander verwachsen, und in dieser Verbindung durch den Anspruch, Sache göttlicher Offenbarung zu sein, gegen jeden Angriff nicht nur gerüstet, sondern gefeit. Dazu sind sie von der orthodoxen Kirche zu einem System verwebt, welches der Vernunft, die sich in den Schranken des Systems hält und vielmehr in den Dienst der Offenbarung stellt, als sie zu meistern sich vermißt, durch seinen inneren Zusammenhang genug tut, hierdurch die Anhänger seines Halts versichert, indes sein Zusammenhang und Zusammenhalt mit den übrigen Gedankenkreisen der Welt mehr und mehr zerfällt, ja schon zur Kluft geworden ist, worüber keine Brücke führt; denn die Vernunft dort und hier will nicht zueinander passen, und meint auch der Orthodoxe, die Brücke werde sich noch finden, oder versucht selbst sie von seiner Seite zu schlagen, so reicht sie nicht ans andre Ufer, weil ihm kein Versuch von da entgegenkommt.

    Nun reicht es nicht hin, aus dem historischen Verbande beider Ideen die spezifische als verantwortlich für diesen Zwiespalt zu reißen; sondern, wenn nicht für den historischen Halt des Ganzen ein neuer positiver Halt, tauglich zu einem neuen Anfang der Geschichte, in der Natur der Menschen und Dinge geboten, für den dogmatischen Inhalt ein andrer aus dieser Natur geschöpft wird, verfällt mit der einen Idee die andre und stirbt der ganze Glaube unter dem Messer, das ihn heilen will; die Tatsache selbst beweist es. Der Protestantenverein wächst und die Kirchen fahren fort sich zu entleeren. Man kann das Streben achten und halb die Erfolglosigkeit, halb den Erfolg bedauern. Die freien Gemeinden und der Altkatholizismus aber gleichen Zweigen, die vom Stamme abgeschnitten sind; der Stamm wird nicht vom Abschneiden eingehen, aber die wurzellos gewordenen Zweige. Alles das spricht nur gleich sehr für das Bedürfnis der Abhilfe, wie für die Unmöglichkeit, sie von den bestehenden Grundlagen aus zu leisten. Die heutige Weisheit hat nun einmal in allen ihren, in der Nachtansicht wurzelnden, darin befangenen oder mit ihr rechnenden, Richtungen nichts zu jenem Ersatz zu bieten. Und so hängt der Glaube bei den meisten, wo noch außer den Kreisen der Orthodoxen etwas davon hängt, an einer Gewöhnung von der Kindheit her und praktischem Bedürfnis. Das sind starke Fäden, die doch endlich mürbe werden und reißen, wenn die Vernunft nicht müde wird, daran zu zehren und zu zerren. Hätte sie vielmehr eigne Fäden damit zu verspinnen, so gäbe es einen Halt, der nicht nur jedem Angriff widerstände, sondern nicht einmal einen solchen fände.

    7. Nun aber meine ich, daß die Tagesansicht in ihren Grundzügen und den Prinzipien ihres Auf- und Ausbaues, wie sie hier verzeichnet wurden, wirklich solche Fäden bietet, d. i. der universalen Idee des Christentums positive Momente eines neuen Halts und Inhalts für die preisgegebenen dogmatischen bietet, – Momente, welche nicht nur vor der Vernunft bestehen können, sondern die universale Idee des Christentums selbst an die Spitze eines vernünftigen Weltzusammenhanges stellen, damit aber endlich in den Stand setzen, ihre eigne Forderung zu erfüllen, d. i. alle Geschlechter und Völker zu einigen, indes sich an der Starrheit der dogmatischen der Erfolg der Missionen bricht 2), und alle Erbitterung der Vernunft nur gegen sie gerichtet ist.

2) "Warum predigt ihr uns immer vom gekreuzigten statt vom lebendigen Gott?" so oder ähnlich fragte ein Brahmine.
 
 
    In der Tat, was wäre es, womit die Tagesansicht aus der obersten christlichen Idee herausträte, womit sie nicht vielmehr zur Begründung, Festigung und Entwicklung derselben diente, wozu sie nicht alle Kräfte der Vernunft zusammennähme und worin sie nicht die Forderungen derselben befriedigte, oder Wege zur Befriedigung offen hielte. Also werden sich diejenigen, welche meinten, die christliche Idee aus Vernunftgründen ablehnen zu müssen, vorerst zu besinnen haben, ob sie dieselbe noch abzulehnen brauchen, und wenn nicht in der jetzigen aber künftigen Generation wird diese Besinnung zur Besonnenheit geworden sein, daß sie dieselbe aus Vernunftgründen vielmehr zu fordern haben. Indem ferner die Tagesansicht zwar die heidnische Zerstückelung und Erniedrigung des göttlichen Wesens aufhebt, die Stücke davon aber nicht wegwirft, sondern nur in einen höheren Verband aufhebt, macht sie dadurch die oberste christliche Idee auch den niedersten Erkenntnisstufen zugänglich und eingänglich. Und schenkt doch mit all’ dem nicht dem Christentum seine oberste Idee, sondern hat sie von vornherein von ihm als Leitstern nach oben.

    8. Hat aber erst der religiöse Glaube einen neuen Halt in sich gewonnen, so wird auch der Zusammenhalt und damit Wechselhalt von Staat und Kirche sich von selbst wiederfinden; denn es wird kein Grund mehr sein, sich zu trennen. Von Anfang herein waren sie auch nicht getrennt; indes sie mir jetzt vorkommen, wie zwei Latten, die sich durch Stützung gegeneinander aufrecht halten sollen, nun aber voneinander schieben, um des gegenseitigen Druckes los zu sein; geht das über gewisse Grenzen hinaus, so werden beide fallen. Oder wie zwei Geschwister, die lange Hand in Hand gegangen sind, nun ziehen sie die Hände auseinander, schelten sich, daß keins dem andern gehorchen will, und kehren sich den Rücken; dafür nennen sich jetzt die radikalsten Tendenzen in Staat und Kirche Brüder und reichen sich die Hände zum Umsturz von beiden. Der Umstand selbst aber, daß Staat und Kirche sich nicht mehr vertragen, beweist, daß in einem von beiden, wenn nicht in beiden, etwas faul geworden, und die Fäulnis des einen steckt das andre an.

    Eine Eiche kann immer höher und mächtiger aufschießen; aber wenn ihr Kern verdorben ist, und der Schade immer um sich greift, geht es mit dem Wachstum der äußeren Macht und Pracht von einer gewissen Grenze an rückwärts, statt weiter. Stehen wir nicht schon an dieser Grenze, um nächstens darüber hinaus zu sein?

    9. Zunächst scheinen alle Grundpunkte der Tagesansicht nur theoretischer Natur zu sein; der Glaube an die höchsten und letzten Dinge kann aber nicht allein auf Theorie stehen, hat nie allein darauf gestanden und wird nie allein darauf stehen; sondern zu den theoretischen Motiven und Gründen des Glaubens haben historische und praktische zu treten, wenn es nicht triftiger ist, zu sagen, daß jene zu diesen zu treten haben. Da allein ist Verlaß, wo das, was als das Wahrste erscheint, zugleich als das Beste und in der Geschichte Haltbarste erscheint. Ja stünde nicht der orthodoxe Bibelglaube mit allem Nachteil gegen die Vernunft von Heute noch heute in so großem Vorteil gegen sie von historischer und praktischer Seite, wie könnte er sich immer noch dagegen halten? Daß wir einen geschichtlich fortgepflanzten und dadurch bis zu gewissen Grenzen an Kraft und Ausbreitung gewachsenen Glauben an die Heiligkeit des Bibelwortes haben, und daß sich Trost und Hoffnung über alle irdische hinaus aus dem Bibelworte schöpfen, Furcht über alle irdische hinaus dadurch erwecken läßt, macht, daß wir noch heute eine Religion haben. Daß wir philosophische Systeme mit der Prätension, das Vernünftigste in allem Höchsten und Letzten zu bieten, von Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Herbart, Feuerbach, Schopenhauer, Hartmann usw. haben, macht nicht nur nicht, daß wir heute noch eine Religion haben; vielmehr haben wir sie kaum noch wegen und zum Teil nur noch trotz dieser Systeme; denn auch welches dem historischen Glauben nicht widerspricht, zerstört doch mit Abstrusitäten dessen Faßlichkeit, mit dem Prinzip des Zweifels dessen Festigkeit und Segen.

    Aber nur der, in den Schuhen der Nachtansicht gehenden, Vernunft, das ist die heutige, steht der orthodoxe Bibelglaube mit solchen Vorteilen gegenüber. Und wer mag verkennen, daß seinem Blick nach oben und Trost von oben und seiner Heilsamkeit ein trübes Element, ein Moment der Selbstverachtung und Weltverachtung beigemischt ist, und daß sein historischer Halt aus der Vergangenheit in die Zukunft nicht mehr reichen will. An eine Verderbnis des ganzen Menschengeschlechtes, ja der ganzen Natur als Folge von Adams Apfelbiß, an einen Gott, welcher des Kreuzestodes seines Sohnes bedurfte, um sich wegen der Schuld der von ihm selbst mit sündigen Trieben geschaffenen Menschen versöhnt zu finden, an eine ewige Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, welche über zeitliche Sünden und mangelnde Gläubigkeit ewige Höllenstrafen verhängt, und an wievieles noch läßt sich nicht ewig glauben; der Orthodoxe täusche sich doch nicht.

    Und worauf, fragt er, hast du selbst mit deinen Neuigkeiten historisch dich zu stützen? – Worauf ich mich von Anfang herein stützte: nicht bloß auf eine, sondern auf zwei mehr als tausendjährige Geschichten; darauf, daß die Tagesansicht im Grunde nur zwei nacheinander historisch schon bestandene, ja die Welt heute noch zwischen sich teilende, Weltansichten zur Eintracht miteinander aufhebt. Zwischen beiden lagert nur heute noch, beide scheidend, die Nachtansicht mit ihren Negationen. Ist sie gehoben, so fließen beide unter Ausscheidung der unvereinbaren Elemente von selbst zur dritten ineinander.

    Die Geschichte bleibt nicht müßig stehen, sie springt aber weder noch schleift sie; sondern sie schreitet, den letzt vorgesetzten Fuß an seiner Stelle haltend und den rückgebliebenen vorsetzend. Der Gang besteht im Wechsel beider Schritte; ein höherer Blick sieht die Verbindung beider Schritte. Die Schritte der Religion sind groß, aber langsam. Sie braucht Jahrtausende zu einem neuen Schritt. Der zum Fortschritt aufgehobene Fuß aber schwebt, schon sich senkend, in der Luft; wann wird sie ihn niedersetzen?

    Mit bloßen Federstrichen freilich ist’s nicht getan. Wenn aber die Zeit erfüllt sein wird, so wird es auch an dem zündenden Wort und der gemeindebildenden Kraft, deren es noch bedarf, nicht fehlen. Der Wind spielt erst in den Blättern des Baumes, der von der Verstärkung des Wehens einst fallen wird, und die Religion zagt erst noch, eine Welt des Alten mit dem neuen Tritt auf einmal zu zertreten,

    Da steht einer, der eine ungeheure Last von einem Flecke, auf dem etwas wachsen möchte – das Licht kann nur nicht hinzu – wegwälzen möchte. Er faßt bald hier, bald da an, hebt die Last von der und jener Seite, aber sie ist zu schwer, zu tief eingedrückt, und fällt immer wieder auf die hebende Hand zurück. Die Umstehenden sehen stumpf zu, schütteln den Kopf oder lachen; einige, die auf der Last stehen und sie vermehren helfen, wollen nicht herabgeworfen werden und schelten. Hier und da klingt wohl eine ermunternde Stimme, aber niemand greift mit an. Über diesen Versuchen ist er alt geworden, fühlt, allein vollbringt er’s nicht, tut noch einen letzten Ruck und wartet nun auf die neue Kraft. Sie wird es leichter haben; denn der innerlich morsch gewordene Stein fängt schon von selbst an zu zerbröckeln; und endlich wird die Geschichte nur noch die Brocken fortzukarren haben.