Nun aber, die Nachtansicht besteht einmal, und kann man sie schon sich und andern dadurch verleiden, daß man sie nur klar in das Auge faßt, so gilt es doch erst, ihre Gründe ebenso zu fassen, um sie auch zu verwerfen. Gründe derselben aber, mindestens Entstehungsgründe, muß es doch geben, sind es auch deshalb noch keine Rechtfertigungsgründe. Welches können sie sein?
Zwar, für die gegenwärtige Welt ist es nicht not, erst noch nach Gründen der Nachtansicht zu fragen; sie besteht, weil sie so lange bestanden hat. Wir gleichen heutzutage jenen Käferarten, die von jeher in finsteren Höhlen lebten, deren Vorfahren schon darin lebten; sie haben keine Augen mehr für das Licht; mag es hinzudringen, sie sehen nichts davon, und sähen sie einen Schein, er führte sie nur irre. Der in den finsteren Höhlen der Nachtansicht erwachsenen, heutigen Welt ist die Tagesansicht ein solches Licht; vergeblich alle Gründe, daß es scheint; willst du aber Gründe hören, daß es nicht scheint, so wirst du nur solche hören, die aus der Nachtansicht erst folgen. Das ist an sich leicht weggefegte Spreu; aber ob man diese Spreu wegfegt, man fegt damit den Boden, der sie getragen hat und immer wieder trägt, nicht weg. Ich sinne dem tieferen Grunde nach, der die Welt bestimmen konnte, sich zu einer solchen Ansicht zu entschließen, und Folgerungen derselben mit Gründen derselben zu verwechseln.
Da liegt’s, das ist der allgemeinere und tiefere Grund der Nachtansicht. Um Gott von der heidnischen Zersplitterung in die Welteinzelheiten zu retten und über deren Niedrigkeit zu heben, hat ihn die Theologie, in Widerspruch zwar mit Sprüchen ihrer eignen Quellen und immer von neuem sich selber widersprechend, von der Welt abdestilliert, hat die Götter in dienende Engel verwandelt, auch diese über die Sterne erhoben. Und nun ist die, nicht nur entgötterte, sondern aus Gott mit einer Gabe mechanischer Kräfte entlassene ja sündhaft von ihm abgefallene, Welt als caput mortuum für die Messungen und Experimente der Physiker, für die Lukubrationen der Philosophen, und für die Scheltworte der Theologen zurückgeblieben. So hat das göttliche Bewußtsein seinen Inhalt von unten, die sinnliche Erscheinung ihren Zusammenhalt von oben verloren, jenes ist bis ins Unfaßliche verflüchtigt, dieses bis auf einige Reste geschwunden.
Eine solche Ansicht der Dinge aber, welche das Dasein in seiner Mitte spaltet, den Weltinhalt aus seinem Gefäße schüttet und damit verschüttet, kann nicht die letzte sein, wie sie auch nicht die erste war; vielmehr ist’s nach der ersten halben die zweite halbe, in die wir geraten sind; die Welt wird aber einst die ganze volle wollen, die nicht sowohl in äußerer Ergänzung der einen durch die andre, als in Erfüllung der einen durch die andre, Gipfelung der einen durch die andre liegt; und als solche bietet sich die Tagesansicht dar.
In der Tat, von vornherein war die heidnische Ansicht, welche Körperliches und Geistiges noch so wenig außer dem Menschen als im Menschen zu scheiden und zu unterscheiden weiß, die natürlichste Ansicht der Dinge. Kein König so mächtig, prächtig und wohltätig als die Sonne, ein Baum nicht minder, nur anders lebend, wachsend, sterbend als ein Mensch. Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen, seelenlos ein Feuerball sich dreht, lenkte damals seinen goldenen Wagen Helios in stiller Majestät; eine Dryas lebt in jedem Baum, und was im Sinne der Nachtansicht nie empfinden wird, empfand. Wenn schon nicht überall gleich entwickelt und mythisch ausgeschmückt, ist dies die Weltansicht, womit wir alle Völker, auf deren unentwickelten Zustand wir noch heute einen Blick werfen können, beginnen sehen. Aber das ist eben erst die eine, sagen wir die untere, Hälfte der vollen Ansicht. Der natürliche Mensch sieht von der Natur doch immer auf einmal nur Bruchstücke, und faßt die selbständig scheinenden auch selbständig in das Auge; die Einigung aller im All und die Klarheit über ihr Verhältnis zum All entgeht ihm; und das ist’s, was die Tagesansicht als volle und ganze über die heidnische Ansicht hinaus hat und hinzuzubringen hat. Sie faßt mit den unverlorenen Stücken auch den Zusammenhang der Stücke in das Auge, und je nach dualistischer oder monistischer Fassung durchdringt und erfüllt sich für sie die Welt mit einer einheitlichen göttlichen Wesenheit oder hebt sich ganz und geradezu in eine gemeinsame Einheit damit auf.
Die christliche und islamitische Lehre hat über die heidnische Auffassung hinausgeführt; aber statt sie bis zur einheitlichen Spitze fortzuführen und darin abzuschließen, sie einfach weggeworfen. Einen zu bereichern unter allen mußte jene Götterwelt vergehen. Sie hat unter einer obersten Stufe, die sie festgehalten und hoch in die Luft erhoben, alle niederen weggezogen und damit in die Nacht der Nachtansicht versenkt. Die Tagesansicht aber hebt sie wieder an den Tag, baut sie der obersten Stufe unter und mißt nun die göttliche Höhe an der Höhe der ganzen Treppe. Und das wollte ich damit sagen, daß es einer künftigen Weltansicht, wofür ich die Tagesansicht halte, beschieden sein werde, den Reichtum einer früheren Weltansicht in den erhabensten Gesichtspunkt der heutigen aufzuheben. Dabei werden freilich Mythen der einen und Dogmen der andern fallen müssen, womit sich jede zur ganzen zu ergänzen, zur vollen zu erfüllen versucht hat, ohne doch damit den Verlust der andern zu ersetzen.
Ein Pendel schwingt erst nach einer Seite, hebt schwach damit an, die Schwingung wird allmählich stärker, reißt alles mit sich fort in ihrer Bahn, erlahmt wieder, stockt endlich; und das Pendel denkt, eine Bewegung, die endlich stockt, kann nicht die rechte Richtung haben; also kehrt es um, hebt wieder schwach an, die Bewegung wird wieder stärker, reißt alles mit sich fort in ihrer Bahn, erlahmt und stockt endlich wieder; und so kommt das Pendel endlich zur Besinnung, daß beide Richtungen gleiches Recht haben; und nach welcher von beiden es fortan schwinge, es weiß in jedem Momente, die Schwingung ist erst mit der Erfüllung von beiden voll. So hat die Weltansicht nacheinander in zwei Richtungen geschwungen; die zweite ist dem Stocken wieder nahe, und damit naht sich auch der Zeitpunkt der endlichen Besinnung.
Immer wird es eine Hypothese bleiben, wovon die Tagesansicht hier ausgeht, obwohl sie auch einen andern Ausgang nehmen könnte, daß die sinnliche Erscheinung über die Einzelgeschöpfe hinaus durch die Welt reicht; indes es aber nicht minder eine Hypothese bleibt, worin die Nachtansicht wurzelt, daß die Welt finster und stumm zwischen den Einzelgeschöpfen ist. Aber die erste Hypothese ist an sich erbaulicher als die andre, stimmt besser mit der natürlichen Auffassung der Dinge, bietet mehr Anhalt und Angriffspunkte zu einer weiten und hohen Entwicklung in positive Bestimmungen und läßt solche den Hauptzügen nach nur in einer einzigen Weise zu, indes es die andre nur teils zu negativen, teils mehr oder weniger widerspruchsvollen Bestimmungen und streitenden Ansichten gebracht hat.
Das ist’s, was ich im folgenden zu zeigen suche, und das ist’s, was der Entwicklung der Tagesansicht dereinst den Sieg über die Nachtansicht verschaffen wird, die, statt es zu einer Fortentwicklung zu bringen, sich nur immer mehr in sich selbst bis zum unausbleiblichen Verfall zerarbeitet.
Freilich die Aufgabe ist groß. Als St. Christoph ein Kind, das einst die Welt zu tragen bestimmt war, vorerst über den Fluß zum nächsten Ufer tragen sollte, erschwerte ihm nicht das seine Aufgabe, daß die Wellen gegen seinen Fuß anliefen und ihn zu hemmen drohten, sondern daß das Kind, je länger der Gang, so schwerer für ihn wurde. So ist es nicht die zu durchwatende Flut leicht ins Meer der Vergessenheit verrinnender Einwürfe, was dem die Aufgabe erschwert, der die Tagesansicht, heut’ noch ein Kind, ans Ufer der Zukunft bringen will, sondern daß sie auf dem Wege dazu durch ihre wachsende Entwicklung seine Kräfte zu überwachsen droht, indes sie aber auch seine Kräfte dazu stärkt.