XLIII. Verhältnis zwischen den sinnlichen und Vorstellungsphänomenen.1)

    Die Verhältnisse von Schlaf und Wachen samt denen der Aufmerksamkeit sind Verhältnisse, welche das Bewußtsein im Allgemeinen und Ganzen angehen. Hingegen treten die durch äußere Reize ausgelösten Sinnesempfindungen, deren Nachbilder und die Gemeingefühle des Schmerzes, Hungers u. s. w., was wir kurz unter dem Namen der sinnlichen Phänomene vereinigen, mit unseren Erinnerungen, Phantasiebildern und das abstrakte Denken begleitenden Schematen, was wir kurz unter dem Namen Vorstellungen vereinigen, endlich den in den Erscheinungen des Sinnengedächtnisses, den Halluzinationen und Illusionen bestehenden Mittelgliedern zwischen beiden Klassen, unter den allgemeinen Begriff von Modifikationen, besonderen Bestimmungen des Totalbewußtseins, wonach sich die Stellung dieser Phänomene in der schematischen Darstellung des vorigen Kapitels von selbst ergibt.

1) Revision, S. 290 ff.
 
 
    Diese Darstellung bezieht sich auf die psychophysische Unterlage der Bewußtseinsphänomene. Nun aber kann man fragen: sind denn die Sonderphänomene zweiter Klasse überhaupt noch als psychophysisch fundiert, d. h. mit physischen Veränderungen in uns funktionell verknüpft anzusehen? Gar manche Philosophen und Psychologen, die es wohl von den Phänomenen erster Klasse, den sinnlichen Phänomenen, zugeben, wo sich nicht wohl ein Widerspruch erheben läßt, sträuben sich doch, es eben so von den Phänomenen zweiter Klasse, den Vorstellungsphänomenen, zuzugeben, sind vielmehr geneigt, schon die Erinnerungen und Phantasiebilder von der psychophysischen Unterlage loszulösen und als in der Seele vorgehende Akte anzusehen, die zwar von der Sinnesseite her in ihr angeregt worden sind, aber, so wie sie in der Seele vorgehen, keiner speziell dazu bezüglichen körperlichen Tätigkeit mehr wesentlich bedürfen, als deren Funktion sie ablaufen, wenn schon sie rückwirkend Veränderungen im Körper erzeugen und insofern nicht ohne solche von Statten gehen mögen; und namentlich besteht diese Neigung bei der Ansicht vom einfachen Seelensitze. Denn wenn die Sinnesreize ihren Eindruck dahin abgegeben haben, so liegt es nahe, ihre Aufbewahrung und Verarbeitung dann wesentlich bloß noch der Seele anheim zu geben, wogegen die Ansicht vom ausgedehnten Seelensitze die mit der wachsenden geistigen Befähigung wachsende Entwicklung und Verwickelung des Gehirnes selbst nur dadurch erklärlich finden kann, daß es über die bloßen Sinnesfunktionen hinaus, worin das Tier dem Menschen keinen Vorzug läßt, noch speziale psychische Leistungen zu vollziehen habe.

    Da uns über die inneren Vorgänge überhaupt keine unmittelbare Erfahrung zusteht, so muß die Konsequenz dessen, was nach Erfahrung feststeht, uns leiten, und schließlich folgender allgemeine Gesichtspunkt bei dieser und allen damit zusammenhängenden Fragen maßgebend sein. Soll nicht überhaupt der Zusammenhang und die Konsequenz des psychophysischen Systems notlos abgebrochen werden, so werden Verschiedenheiten auf psychischem Gebiete, so lange sie noch in folgerechtem Zusammenhange nach dem Funktionsprinzipe in psychophysische Verschiedenheiten übersetzbar sind, auch darein zu übersetzen sein, nicht aber dahin auszulegen sein, daß die einen noch psyohophysisch fundiert sind, die anderen nicht mehr so fundiert sind. Und es wird sich also nur fragen, ob in den Verhältnissen der Phänomene erster und zweiter Klasse, welche uns die innere Erfahrung bietet, wirklich etwas liegt, was einer solchen Übersetzung den Weg verlegt, und zu einer Ablösung der letzteren von der Unterlage, an welche die ersteren noch geknüpft sind, nötigt.

    Aber gerade das Verhältnis der Erinnerungen und sinnlichen Anschauungen bot sich uns von vorn herein (Kap. 36) als ein vorzugsweise geeignetes Beispiel dar, die Anwendbarkeit des Funktionsprinzips in dieser Beziehung zu erläutern, und ich halte es unnötig, hierüber auf neue oder weitere Ausführungen einzugehen.

    Die Mißlichkeit einer derartigen Scheidung zwischen den sinnlichen und Vorstellungsphänomenen, daß jene eine psychophysische Begründung haben, diese nicht mehr haben, tritt um so schlagender hervor, wenn wir auf den, in den Tatsachen des folgenden Kapitels sich von selbst herausstellenden, Übergang achten, der von den sinnlichen Anschauungen durch die Nachdauer der Eindrücke, die Erscheinungen des sogenannten Sinnengedächtnisses, die willkürlich erzeugten Sinnesphantasmen, die Illusionen (wo äußere Gegenstände nur falsch gesehen werden), die Halluzinationen mit oder ohne Reproduktion früherer Sinneseindrücke (wozu die Wahnbilder der Verrücktheit mit gehören) zu den wirklichen Erinnerungs- und Phantasiebildern achten.

    Was bei der Ansicht, daß die Erinnerungsbilder so gut psychophysisch fundiert sind, als die Anschauungsbilder, am schwierigsten erscheinen kann, ist die Möglichkeit, so zahllose Dinge im Gedächtnisse zu behalten und in Erinnerung zu reproduzieren. Aber sie ist nicht wunderbarer, als die doch tatsächlich bestehende physisch begründete Möglichkeit, die Fertigkeiten zu den verschiedensten Hantierungen in derselben Hand zu vereinigen und wechselnd in Ausübung zu bringen. Auch darf man nicht vergessen, daß das Erinnerungsvermögen, so unbeschränkt es in gewissem Sinne ist, so beschränkt von anderer Seite ist. Es unterliegt Gesetzen der Assoziation, welche die Verbindung und Folge der Erinnerungen regeln, und eben so wie verwandte Fertigkeiten der Hand sich unterstützen und disparate stören können, ist es mit den Erinnerungen der Fall.

    Sich den psychophysischen Mechanismus oder die organische Einrichtung auszumalen, mittelst deren die Leistungen, welche das Erinnerungsvermögen fordert, wirklich vollziehbar sind, wäre natürlich sehr vorzeitig, so lange wir noch kaum eine Ahnung über das Prinzip der Nervenwirkung überhaupt, und mithin über die Weise, wie es dabei zu verrechnen wäre, haben. So viel läßt sich nur ganz im Allgemeinen sagen, daß der Mechanismus ein, wenn nicht im Prinzipe, aber in den aufgewandten Mitteln ungeheuer komplizierter und nicht fester, sondern veränderlicher, entwickelungsfähiger sein müsse. Diesen Bedingungen sehen wir entsprochen; und viel mehr ist für jetzt nicht zu verlangen. Doch läßt sich noch Einiges erläuternd zufügen.

    Die Nachklänge unserer Anschauungen in den Nachbildern haben nach den Erörterungen T. II, Kap. 33c an sich einen gesetzlich periodischen Ablauf, die Erscheinungen des Sinnesgedächtnisses, von denen im folgenden Kapitel die Rede sein wird, führen, periodisch, wenn auch in unregelmäßigen Perioden, selbst nach längerer Zeit noch Gestalten und Bewegungen ganz unwillkürlich in die Erscheinung zurück, und würden es unstreitig viel mehr tun, wenn nicht teils neue Eindrücke, teils die Zusammensetzung mit den alten den deutlichen Hervortritt einzelner periodischer Erscheinungen in diesem wogenden Meere bloß auf die Folgen sehr intensiver, oft wiederholter Eindrücke beschränkte. Es besteht aber doch hiernach faktisch in uns das Prinzip einer freiwilligen periodischen inneren Wiederholung nicht nur einzelner Bewegungen, sondern selbst Bewegungsfolgen, welche durch sinnliche Einwirkungen in uns erregt wurden, gleichviel worauf es beruhe, will man anders nicht schon die sinnlichen Phänomene von der physischen Unterlage loslösen; und so ist kein Hindernis zu glauben, daß dies Prinzip auch als eine der psychophysischen Grundlagen unseres Erinnerungsvermögens eine große Rolle spiele. Außerdem läßt sich voraussetzen, daß das Prinzip der ungestörten Koexistenz und Superposition kleiner Schwingungen und die damit zusammenhängenden Prinzipien der Interferenz und ungestörten Durchkreuzung von Wellen bei den sich kreuzenden, sich mit einander zusammensetzenden, sich zeitweise ins Unbewußtsein herabdrückenden und wieder daraus hervortretenden Erinnerungen nicht außer Spiel sein werden. Wenn wir sehen, wie alle physikalischen Hilfsmittel aufgeboten sind, das Auge und Ohr für die Aufnahme gesonderter Sinneseindrücke zu befähigen, so kann man es zwar bequemer finden, die Aufbewahrung und Wiederholung derselben als ein der Seele ohne alle äußeren Hilfsmittel zukommendes Vermögen anzusehen, aber es auch hiergegen nur konsequent finden, wenn man dieselbe an eine noch tiefergehende Verwendung der physikalischen Prinzipien und Hilfsmittel geknüpft hält, womit man nicht sowohl das Geistige herabsetzt, als die Natur heraufhebt, und wobei nichts hindert, das, was sich jetzt mit immanentem Bewußtsein durch die bewußte Tätigkeit selbst in jedem einzelnen Geschöpfe fortentwickelt, auch in der ersten Schöpfung der gesamten organischen Welt mit solchem geordnet zu denken. Gewiß ist, daß wir der Bequemlichkeit der Betrachtung durch die Anstalten der Natur nicht entsprochen finden. Die Seele ist nicht bloß an eine Sammlung von Sinnesorganen, sondern auch an ein Gehirn gebunden, durch das alle Sinnesorgane, und zwar in kompliziertester Weise verbunden sind.

    Wenn die Erinnerungsbilder, Phantasiebilder und das Denken begleitenden Schemate alle noch psychophysisch fundiert sind, so ist es auch das Denken selbst, indem jeder andere Stoff und Gang des Denkens ein anderes Material und eine andere Verknüpfungsweise der Schemate voraussetzt, ohne die überhaupt kein Denken stattfinden kann, wie eine andere Melodie und Harmonie nicht ohne andere Töne und eine andere Verbindungsweise der Töne sein kann. Nun gewährt ein Klavier in seiner verhältnismäßig geringen Zahl festliegender Tasten doch die Möglichkeit, die allerverschiedensten Melodien und Harmonien auszuführen, und so vielerlei und so hohe Gedanken der Mensch fassen mag, 28 Buchstaben reichen hin, sie auszudrücken; es kommt beidesfalls nur auf die Verbindung und die Folge an, in der die Tasten oder Buchstaben durchlaufen werden. Das Gehirn in seinen zahllosen, in verschiedener Weise tätigen Fibern aber enthält in dieser Hinsicht unvergleichlich reichere Mittel, also kann auch kein Hindernis sein, ihm mindestens eben so große Leistungen innerlich zuzutrauen, als wir äußerlich mittelst desselben ausführen.