XLI. Partieller Schlaf; Aufmerksamkeit.

    Der Schlaf ist in der gewöhnlichen Bedeutung, in welcher er bisher ins Auge gefaßt worden, ein Phänomen, welches das Bewußtsein des ganzen Menschen oder anders das ganze Bewußtsein des Menschen trifft, und setzt voraus, daß nirgends die psychophysische Tätigkeit über die Schwelle erhoben sei. Aber wenn die Ansicht vom ausgedehnten Seelensitze triftig ist, so muß es möglich sein, daß die psychophysische Tätigkeit anstatt auf einmal ganz unter die Schwelle zu sinken, jetzt hier, jetzt da darunter sinke, und der Mensch also partiell einschlafen und wachen könne.

    Diese einfache Konsequenz der Ansicht vom ausgedehnten Seelensitze findet ihre eben so einfache als direkte Bestätigung in der Erfahrung.

    Jede Zuwendung der Aufmerksamkeit zu einem Sinne ist als ein Erwachen dieses Sinnes, und jede Abwendung davon als ein Versinken in Schlafzustand zu fassen, aus dem ein Erwecken durch Willkür oder Reize stattfinden kann, und wohl selten oder niemals ist Alles, was vom Menschen überhaupt wach sein kann, auch wirklich zugleich wach. Wenn ein Mensch in so tiefes Nachdenken versunken ist, daß er nicht sieht und hört, was um ihn vorgeht, so schläft die Sphäre aller äußeren Sinne eben so wie beim wirklichen Schlafe. Ein Sinnesreiz muß dann ganz eben so wie bei diesem erst eine gewisse Stärke übersteigen, ehe er den betreffenden Sinn erweckt, erweckt ihn aber auch eben so sicher, wie den ganzen Menschen, wenn er solche übersteigt. Auch kann sich dieser Schlaf der äußeren Sinne eben so wie der allgemeine Schlaf mehr oder weniger vertiefen, und es gibt Zustände innerer Exstase, wo der Mensch mit offenen Augen und Ohren gegen alle äußeren Reize so gut wie unempfindlich ist.

    Umgekehrt schläft bei einem Menschen, der, wie man sagt, ganz Aug’ oder Ohr ist, nicht nur jeder andere Sinn, sondern auch die ganze Sphäre der inneren Vorstellungstätigkeit, deren psychophysischer Schauplatz nach später geltend zu machenden Gründen mit dem der sinnlichen Bilder zwar zusammenhängt, aber nicht zusammenfällt, und die hier zur Sprache kommenden Verhältnisse gehören selbst zu den Gründen, es anzunehmen.

    Nicht nur zwischen der äußeren und inneren Sphäre der Bewußtseinstätigkeit im Ganzen findet dieser Wechsel statt, sondern auch zwischen einzelnen Teilen derselben.

    Erwacht der Mensch des Morgens, so erwacht anfangs so zu sagen nur ein Punkt des ganzen Menschen, wie von der aufgehenden Sonne zuerst nur ein Punkt den Horizont, die Schwelle des Tages, übersteigt. Und schläft der Mensch ein, so ist er großenteils schon eingeschlafen, ehe er ganz einschläft. Will der Mensch vor dem Einschlafen seine Aufmerksamkeit noch auf etwas richten, so oszilliert wohl der letzte Punkt noch eine Zeit lang abwechselnd über und unter die Schwelle; indem er durch die Aufmerksamkeit momentan darüber gehoben wird, und bei Nachlaß derselben darunter sinkt.

    "Le sommeil ne s'empare pas brusquement de tout notre être, nos organes s'endorment successivement à des degrés variables: plusieurs veillent encore que d'autres sont déjà endormis, qui s'éveilleront peut-être à leur tour quand les premiers s'endormiront."... " Presque toujours la vue, c'est le sent, qui s'endort le premier.... Plus tard que la vue, l'ouïe s'endort .... De l'étude précédente sur l'état des sens dans le sommeil, il résulte, que s'ils ne s'endorment pas en même temps ni au même degré, leur réveil ne se fait pas non plus instantanément pour tous." (Longet, traité de physiol. T. I, p. 409 suiv.)

    Während des vollen Wachseins selbst ist der Mensch, wie früher (Kap. 40) schon besprochen, nicht im Stande, willkürlich einzuschlafen, sofern er den zu hoch gehenden Gipfel der psychophysischen Tätigkeit nicht durch Willkür unter die Schwelle herabzudrücken vermag; als welcher nur die Verteilung, aber nicht die Erzeugung derselben gehorcht; wohl aber, diesen Gipfel bald da-, bald dorthin zu verlegen, auszubreiten, zu konzentrieren, und so bald diese, bald jene Sphäre ins Wachen, eine andere in Schlaf zu versetzen, und den Eintritt des allgemeinen Schlafes selbst durch möglichst gleichförmige Verteilung der psychophysischen Tätigkeit in früher angegebenem Sinne indirekt zu fördern. So wechselt im Wachen der Gipfel der psychophysischen Tätigkeit die Stelle, und wie er an einer Stelle höher aufsteigt, sinkt die Tätigkeit nach dem früher auseinandergesetzten Prinzipe der Erhaltung der Kraft (Tb. I, Kap. 5) anderwärts tiefer unter die Schwelle, und vertieft sich hiermit anderwärts der Schlaf.

    Teilt sich die Aufmerksamkeit, so teilt sich die psychophysische Tätigkeit, die ihr unterliegt, es wird mehr ins Bewußtsein genommen, aber das Einzelne nur mit schwächerem Bewußtsein erfaßt und bedacht. Wie es scheint aber vermag der Mensch diese Teilung nicht zwischen verschiedenen Sinnesgebieten in der Art vorzunehmen, daß ihre Empfindungen zugleich als unterschiedene ins Bewußtsein treten, sondern es gelingt nur vermöge der abwechselnden Zuwendung von einer zur anderen.

    Nach Allem unterscheidet sich der partielle Schlaf vom allgemeinen wesentlich eben nur dadurch, daß er ein partieller ist, wovon aber einige wichtige Unterschiede abhängen, welche es erklärlich machen, daß doch der gemeinsame Name Schlaf nicht gleichgültig für beide gebraucht wird.

    Bei dem allgemeinen Erwachen so wie Einschlafen findet ein zeitlicher Wechsel zwischen dem Zustande des psychophysischen Systems unter und über der Schwelle überhaupt statt; bei dem partiellen bleibt die Schwelle immer überstiegen; es tritt bloß ein räumlicher Wechsel zwischen dem Übersteigen der Schwelle an einem Orte und Sinken darunter an einem anderen Orte ein. Damit hängt von selbst zusammen, daß das Erwachen aus dem allgemeinen Schlafe ohne Einfluß der Willkür erfolgt; diese kann, da sie selbst mit schläft, ihr eigenes Erwachen nicht bewirken; wogegen der partielle Schlaf bloß aus einer Verlegung des bewußten Zustandes an eine andere Stelle hervorgeht, welche also auch unter dem Einflusse des Bewußtseins erfolgen kann.

    Das Erwachen aus dem allgemeinen Schlafe kann durch einen Sinnenreiz jeder Art, das Erwachen einer einzelnen Sinnessphäre nur durch den ihr adäquaten Reiz erfolgen, natürlich, da jenes Erwachen eben nur darin besteht, daß irgend eine von allen den Sphären wach wird, die insbesondere wach sein und durch den adäquaten Sinnesreiz wach werden können.