XXXIV. Über die extensiven Empfindungen insbesondere.1)

    Durch E. H. Weber’s Untersuchungen 2) ist es sehr wahrscheinlich geworden, daß die Distanz zwischen zwei berührten oder vom Lichte getroffenen Punkten auf der Haut oder Netzhaut nach Maßgabe größer oder kleiner empfunden wird, als die Anzahl sog. Empfindungskreise größer oder kleiner ist, welche zwischen den gereizten Punkten liegen, wobei unter Empfindungskreis jede Stelle der Haut oder Netzhaut verstanden wird, welche mit Zweigen derselben elementaren Nervenfaser versorgt wird, oder jede Vereinigung solcher Zweige selbst; sofern hinreichende physiologische Gründe vorliegen, zu glauben, daß alle Zweige derselben Nervenfaser nur geeignet sind, solidarisch einen gemeinsamen Eindruck zum Gehirne zu leiten.

1) In Sachen S. 174—177. Revision S. 423 ff.

2) Der Tastsinn und das Gemeingefühl, in Wagner’s Wört. S. 528; und eine Abhandlung in den Berichten der sächs. Soc. 1853. S. 85; Auszug daraus in Fechner’s Centralbl. 1858. S. 585.
 
 

    Diese Ansicht ist freilich betreffs der Netzhaut bestritten worden, so namentlich neuerdings von Panum 3), und zwar hauptsächlich aus dem Grunde, "daß die seitlichen Netzhautpartien die Objekte nicht kleiner sehen als die zentralen, welche doch auf einem gleichen Flächenraume eine sehr viel größere Zahl empfindender Punkte haben." Unstreitig ist dieser Gegengrund beachtenswert, aber nicht entscheidend, weil er zu viel beweist. Denn wenn ich einen Finger doppelt so weit vor dem Auge halte, als den anderen, erscheint mir sein halb so großes Bild doch eben so groß, und zwar kann ich diese Täuschung durch keine Anwendung der Aufmerksamkeit heben. Es würde also nach Panum’s Schlußweise zu folgern sein, daß die Größe des Bildes auf der Netzhaut überhaupt keinen Einfluß auf die Größenerscheinung hat.

    3) Gräfe’s Arch. f. Ophthalmol. V, 1 ff.

    Sehr instruktiv in dieser Hinsicht ist folgender Versuch. Man halte einen Zirkel, am besten Stangenzirkel (um nicht Winkelschätzung mit einzumengen), mit einer gemessenen Distanz der Spitzen, Normaldistanz, vor die Augen, einen anderen ganz gleichen in etwa halb so großer oder doppelt so großer Entfernung so, daß beider Projektionen auf den Hintergrund neben einander fallen, und suche die Spitzendistanz des zweiten, Fehldistanz, nach dem Augenmaße der Normaldistanz gleich zu machen. Ungeachtet nun die Fehldistanz bei gleicher Größe mit der Normaldistanz in Betracht ihrer anderen Entfernung vom Auge ein doppelt so großes oder nur halb so großes Bild im Auge gibt als die Normaldistanz, macht man sie doch derselben, bis auf einen kleinen variabeln und konstanten, Fehler gleich; und zwar ist der konstante Fehler bei mir der Art, daß ich die Fehldistanz, wenn sie entfernter als die Normaldistanz ist, immer ein wenig zu klein, wenn sie näher ist, ein wenig zu groß mache, was den von der verschiedenen Entfernung abhängigen Unterschied zwischen der Größe der Distanzbilder nur noch vermehrt. Hingegen machte eine andere Person die Fehldistanz, sowohl wenn sie die nähere, als wenn sie die entferntere war, immer ein wenig zu groß, eine dritte die nähere ein wenig zu klein, die entferntere ein wenig zu groß. Dabei ist zu bemerken, daß auch, wenn man beide Distanzen aus gleicher Entfernung vom Auge vergleicht, ein kleiner konstanter Fehler begangen wird, der bei mir, sowohl bei Rechtslage als Linkslage der Normaldistanz gegen die Fehldistanz, negativ, bei der anderen Person positiv, bei der dritten positiv bei Rechtslage, negativ bei Linkslage der Normaldistanz ist 4).

4) Das Nähere dieser noch nicht vollendeten Versuchsreihe teile ich künftig anderen Ortes mit. Die Spitzen (blau angelaufene Stahlspitzen) waren parallel, längs einer Stange beweglich, und wurden mit zwei Augen gegen eine weiße Tür betrachtet. Bei Anwendung bloß Eines Auges kam bei der dritten der obigen Personen das gleich geschätzte Verhältnis beider Distanzen dem wirklichen Verhältnisse der Bilder im Auge etwas näher, was bei mir nicht der Fall ist, blieb aber auch dort noch weit hinter dem wirklichen Verhältnisse zurück.
 
    Wie leicht zu erachten, kann die der Wahrheit so nahe kommende Gleichschätzung hier weder auf Gleichheit der Bilder noch der Augenbewegung beruhen, sondern es müssen andere Umstände da sein, welche die in dieser Hinsicht stattfindende Ungleichheit bei der Schätzung korrigieren, und es sind Versuche der Art überhaupt gut geeignet, es scharf zu beweisen. Unstreitig ist es eine Erziehung durch Erfahrungen, welche die das Urteil mitbestimmenden Momente an die Hand gibt. Wenn aber das durch Erfahrungen erzogene Urteil über die Entfernung vom Auge unwillkürlich und zwingend bei der Größenschätzung mitbestimmend wirkt, warum nicht auch das durch Erfahrung erzogene Urteil über die Lage des Bildes auf der Netzhaut?

    Außerdem würde ich nach meinen eigenen Erfahrungen nicht einmal wagen, den Satz geradehin auszusprechen, daß das Bild auf den seitlichen Partien der Netzhaut noch eben so groß erscheine, als auf den zentralen. Ich finde es schwierig, wegen Undeutlichkeit des seitlichen Bildes ein sicheres Urteil in dieser Hinsicht überhaupt zu fällen; doch scheint mir immer die Ausdehnung eines hellen Gegenstandes bei Abwendung des Blickes davon im indirekten Sehen etwas zusammenzuschwinden und bei Zuwendung in direkter Fixation sich zu erweitern. Ich will jedoch hierauf kein besonderes Gewicht legen, da hierbei subjektive Täuschung möglich wäre, und Andere doch nicht dasselbe zu finden scheinen.

    Unstreitig kann man der Ansicht Weber’s noch nicht die Evidenz beilegen, welche physiologische Ansichten haben, die nur der unmittelbare Ausdruck von Tatsachen sind; doch scheint sie mir namentlich bei zusammenhängender Berücksichtigung dessen, was für Haut und Auge gilt, durch gewichtige Tatsachen gestützt und bisher noch als die lichtvollste Grundlage für die Theorie der extensiven Empfindungen, an die ich mich daher im Folgenden halten werde, was nicht hindert, in Nebenbestimmungen derselben von ihrem Urheber abzugehen oder solche noch in Frage zu stellen.

    Es ist bis jetzt noch streitig, ob die Empfindungskreise rein juxtaponiert sind oder in einander übergreifen (interferieren), wie viel im Minimo nötig sind, die Empfindung einer merklichen Ausdehnung oder Distanz zwischen zwei Punkten zu erzeugen, welche Rolle die Bewegung der Augen bei Schätzung der Größen, und Distanzen spielt. Diese Fragen sollen hier mit vielen anderen, das Distanzmaß betreffenden Fragen, über die ich keine neue Aufklärung zugeben weiß, dahingestellt bleiben 5), dagegen auf einige Punkte näher eingegangen werden, deren Untersuchung bezüglich der Stellung, die unsere Lehre zu den extensiven Empfindungen bei Annahme der Weber’schen Ansicht einzunehmen hat, besonders wichtig erscheint, oder für welche sich aus unserer Lehre neue Gesichtspunkte, oder aus Versuchen neue Tatsachen ergeben.

5) Man vergl. die Literatur dazu Th. I, S. 295.
 
    Auf manche Punkte, die hier besprochen werden könnten, gehe ich namentlich deshalb nicht ein, weil Untersuchungen darüber, mit welchen Volkmann beschäftigt ist, vielleicht geeignet sein könnten, in Zukunft noch mehr Licht darüber zu verbreiten.

    Der Kürze halber verstehe ich unter Nervendichtigkeit im Folgenden die Zahl Empfindungskreise im Verhältnisse zu der Ausdehnung, in der sie liegen, oder kurz ihre Zahl, dividiert durch diese Ausdehnung. Unstreitig kommt es schließlich vielmehr auf Anordnungs-, Verteilungs-, Zusammenhangsverhältnisse der zentralen Enden der Empfindungskreise als deren Verhältnisse auf Haut und Netzhaut selbst an; aber jene sind unbekannt, und die Beobachtung kann sich nur an letztere halten.

    Abgesehen von der angeborenen Einrichtung unserer Empfindungsorgane, welche uns nach Weber’s Prinzipe eine Ausdehnung um so größer erscheinen läßt, je mehr Empfindungskreise sie deckt, wird ein durch Erfahrung gebildetes Urteil noch durch viele Umstände bei der Größenschätzung mitbestimmt; und es ist wichtig, beides nicht zu vermischen, zu verwechseln oder eins zu einseitig geltend zu machen.

    So viel möglich, wird im Folgenden von den das Urteil bei der Größenschätzung nach Erfahrung mitbestimmenden Ursachen abstrahiert werden, um bloß das, was von der angeborenen Einrichtung abhängt, in Betracht zu ziehen.

    Wenn Ich die Augen schließe, habe ich ein schwarzes Gesichtsfeld, welches mir eine sehr geringe Ausdehnung zu haben scheint. Wenn ich die Augen öffne und in eine reiche Gegend blicke, scheint mir das Gesichtsfeld ungeheuer; wenn ich mich auf dem Meere befinde, ohne fernes Land oder ferne Schiffe zu sehen, oder auf einer öden Fläche, wo keine Gegenstände in der Ferne mir einen Anhalt des Urteiles über die Ferne des Horizontes geben, erscheint mir der Horizont sehr nahe, der Gesichtskreis eng.

    In allen diesen Fällen bleibt die angeborene Einrichtung, welche der Größenschätzung unterliegt, dieselbe; aber bei geschlossenen Augen fallen die unser Urteil nach Erfahrung mitbestimmenden Gründe, namentlich alle Verhältnisbestimmungen, weg. Ich halte daher die Größe des Gesichtsfeldes, so wie sie uns bei geschlossenen Augen erscheint, für diejenige, welche uns die bloß von der angeborenen Einrichtung abhängige Größenerscheinung, die der Ausdehnung und Nervendichtigkeit unserer Netzhaut entspricht, am reinsten repräsentiert.

    Es hat etwas Merkwürdiges, daß sich durch Öffnung unserer Augen am Tage die extensive Größe des Gesichtsfeldes scheinbar ungefähr in demselben Verhältnisse vergrößert, als dessen Helligkeit.

    Wundt in seiner Abhandlung über Tastversuche in Henle und Pfeufer Zeitschr. 1858 führt S. 262 folgenden Versuch an:

    "Man nimmt zwei gleiche Zirkel mit abgeschliffenen Spitzen, mit dem einen derselben berührt man bei einer bestimmten Zirkelöffnung die gewählte Hautstelle der dem Versuche sich unterziehenden Person; dieser, die ihr Gesicht vom Experimentierenden abgewendet hat, gibt man den zweiten Zirkel in die Hand und läßt sie mit diesem nach dem Augenmaße die Entfernung der Spitzen des ersten Zirkels, so wie sie ihr nach dem Gefühlseindrucke erscheint, bestimmen. Da hierbei die Unsicherheit des Augenmaßes im Vergleiche zur Unsicherheit der Gefühlsschätzung verschwindend klein ist, so gibt die Vergleichung der scheinbaren, aus der Gefühlswahrnehmung bestimmten Entfernung der Eindrücke mit ihrer wirklichen Entfernung ein unmittelbares Maß ab für die Feinheit der Haut in der Raumschätzung" u. s. w.

    Der hier ausgesprochenen Voraussetzung, daß die Unsicherheit des Tastmaßes unvergleichlich größer sei, als die des Augenmaßes, vermöchte ich nicht beizutreten, und mithin auch nicht dem darauf gebauten Maßprinzipe; vielmehr kommt die Feinheit in der Distanzschätzung durch das Tastmaß unter den dafür günstigsten Umständen der durch das Augenmaß ziemlich nahe.

    Ein eben so leichtes als genaues Mittel, dies zu konstatieren, liegt in Versuchen nach der Methode der mittleren Fehler, welche ich im 8. Kapitel auseinandergesetzt habe. Nun habe ich viele Versuche zu verschiedenen Zeiten und zu verschiedenen Zwecken über Augenmaß und noch mehr über Tastmaß nach dieser Methode angestellt, und bei beiderlei Maßen je nach der Anstellungsweise der Versuche, der Stufe der Übung und bei dem Tastmaße auch nach dem Hautteile sehr verschiedene Verhältnisse gefunden, niemals aber und nirgends solche, nach welchen die Genauigkeit der Schätzung durch das Tastmaß als verschwindend klein gegen die durch das Augenmaß gelten könnte, wennschon sie immer geringer für das Tastmaß als Augenmaß geblieben ist. Ich begnüge mich hier, die Maximumwerte, die ich bei beiderlei Maßen in möglichst vergleichbaren Versuchen mit geübten Organen erhalten habe, anzuführen.

    In einer Tastversuchsreihe nach der Methode der mittleren Fehler, welche ausführlich im folgenden Kapitel als Reihe VI. Abth. g beschrieben ist (wo man das Detail nachlesen kann), wurde auf dem Vordergliede des linken Zeigefingers eine Normaldistanz = 10d 6), angewandt. 400 Versuche (je 100 in einer anderen Zeit- und Raumlage angestellt) gaben einen einfachen reinen variabeln Mittelfehler der Schätzung, der (nach Korrektion wegen des endlichen m und wegen Größe der Intervalle) nur 1/85 der Normaldistanz betrug, einen konstanten Fehler (im Mittel seiner absoluten Werte bei allen 4 Zeit-Raumlagen bestimmt) gleich 1/42 der Normaldistanz. Der reine variable Fehler ist hierbei maßgebender als der konstante für die Genauigkeit der Distanzschätzung, weil der konstante Fehler nur von dem ungleichen Verhältnisse abhängt, in welchem die verglichenen Größen nach Zeit, Raum und anderen Umständen in den Vergleich eintreten, wie früher genügend besprochen ist. Übrigens kann auch der konstante Fehler bei Tastversuchen noch beträchtlich geringer ausfallen, als vorhin, denn bei einer anderen Abteilung derselben Versuchsreihe, d. i. Reihe VI. Abth. a, welche keine gleiche Genauigkeit der Distanzschätzung gestattete, daher einen erheblich größeren variabeln Fehler gab, wurde im Mittel ebenfalls von 400 Versuchen für dieselbe Normaldistanz auf demselben Fingergliede ein (korrigierter) reiner variabler Mittelfehler = 1/55 der Normaldistanz, ein konstanter Fehler nur = 1/90 der Normaldistanz erhalten. Die Abteilung a, wo der reine variable Fehler größer, der konstante Fehler kleiner war, und Abteilung g, wo das Umgekehrte stattfand, unterschieden sieh darin, daß bei Abteilung a die beiden Zirkel, durch welche die Distanzen (Normaldistanz und Fehldistanz) bestimmt wurden, von einem Gehilfen appliziert wurden, bei Abteilung g aber der Finger zwischen dem Normalzirkel und Fehlzirkel, welche neben einander festgeklemmt waren, hin- und herbewegt wurde, wie im folgenden Kapitel näher beschrieben ist, wodurch diese Versuchsreihe um so vergleichbarer mit der folgenden über das Augenmaß wird, sofern auch die Augen bei den Augenmaßversuchen von einer verglichenen Distanz zur anderen wandern. Letztere Applikation der Zirkel kann nach kurzer Übung viel gleichförmiger, als die durch einen Gehilfen, geschehen; daher der so viel kleinere variable Schätzungsfehler.

6) d = 1/2 par. Dezimallinie, = 0,72 Duod.-Linie.
 
    Die Versuche über das Augenmaß, bei welchen ich bisher die kleinsten Schätzungsfehler erhalten habe 7), sind mit Distanzen angestellt, welche durch die vertikalen, blau angelassenen, sich rein konisch zuspitzenden Stahlspitzen (von 19,7 d Länge) zweier ganz gleicher Stangenzirkel 8), gegen eine dem Fenster gegenüber befindliche weiße Tür als Hintergrund neben einander gehalten, bestimmt sind. Es gaben mir bei derselben Normaldistanz = 10 d, 200 Beobachtungen (100 bei rechter, 100 bei linker Lage der Normaldistanz) einen (korrigierten) reinen variabeln Mittelfehler = 1/126 der Normaldistanz und einen konstanten Fehler = 1/114der Normaldistanz, welcher bei beiden Lagen negativ war. Es wird Gelegenheit sein, anderwärts auf diese Reihe zurückzukommen, da dieselbe nur Teil einer, zu anderen Zwecken angestellten Reihe (vgl. o.) ist. 7) Sie sind sehr erheblich kleiner, als die, Th. I, S. 214 ff. bei geringerer Übung und mit unvollkommenen Maßregeln erhaltenen.

8) Also durch 4 parallele Spitzen, je 2 für eine Distanz. Drei parallele Spitzen, eine mittlere zwischen zwei seitlichen an derselben Stange sind unstreitig noch vorteilhafter zur Bestimmung beider zu vergleichender Distanzen, und ineine Stangenzirkel auch hierauf eingerichtet, aber ich habe noch keine Versuche auf diese Weise angestellt. Zur Vergleichbarkeit mit den Tastversuchen war obige Anwendungsweise vorzuziehen.
 
 

    Die Versuchsweise, welche Wundt auf seine Voraussetzung gründet, tritt unter die Th. I, S. 131 betrachtete Methode der Äquivalente, und kann sie auch das nicht leisten, was Wundt damit beabsichtigte, so hat sie doch einiges Interesse, insofern sie einen vergleichbaren Maßstab für die Schätzungsweise von Distanzen mit Haut und Auge an die Hand gibt.

    Freilich ist der Vergleich weit unsicherer, als wenn man sich der Methode der Äquivalente in einem Sinnesgebiete für sich bedient, und wohl überhaupt nur durch Erfahrungen, die wir früher beim beziehentlichen Gebrauche der beiderlei Sinnesorgane gemacht haben, vermittelt. Auch bin ich nicht ganz sicher, daß man sich nicht eine Art Vergleichsmaßstab dabei in der Phantasie willkürlich macht, und den einmal gemachten dann ungefähr einhält; indes findet man über gewisse Grenzen hinaus eine mit einer Tastgröße verglichene Augenmaßgröße entschieden und ganz unwillkürlich respektiv zu groß oder zu klein; so daß nur der Verdacht bleibt, ob nicht die Grenze der Schwankung durch eine Mitbestimmung Seitens der Phantasie verringert werde, was ich zwar bei den folgends mitzuteilenden Versuchen möglichst zu vermeiden gesucht habe, was ich aber doch nicht als fehlend verbürgen kann. Jedesfalls dürfte sich bloß durch viele Versuche an mehreren Personen und unter sehr abgeänderten Umständen etwas Bestimmtes aus derartigen Versuchen schließen und das Konstante vom Zufälligen scheiden lassen; es liegt mir aber kein wichtiger Gesichtspunkt vor, welcher zur Mühe so ausgedehnter Versuche auffordern könnte. Jedoch will ich die Resultate einer eigenen Versuchsreihe anführen, die eine Variation nach einigen Umständen enthält, ohne daß ich freilich schließlich eine besonders belangreiche Folgerung daraus zu ziehen wüßte. Vielleicht kann sie doch in Zusammenstellung mit etwa von Anderen vorzunehmenden Versuchen nützlich werden und auf einige dabei wahrzunehmende Punkte aufmerksam machen.

    Die Distanz, welche als feste dem Vergleiche untergelegt wird, heiße die A-Distanz, die äquivalent damit gefundene die B-Distanz.

    Eine A-Distanz = 10 d wurde auf einer, auf weißem Papiere gezogenen horizontalen schwarzen Linie durch zwei kleine Strichelchen abgegrenzt, aus gewöhnlicher Sehweite betrachtet und dann mit einem gestielten und an den Stielen gefaßten Zirkel ohne Zuziehung der Augen die äquivalent erscheinende B-Distanz dazu auf dem linken Mittelfinger gesucht, so daß allemal die hintere Spitze in die Gelenkfuge zwischen dem vorderen und Mittelgliede, die andere nach vorn aufgesetzt wurde. Im Mittel von 100 Versuchen fand ich in einer ersten Abteilung der Versuchsreihe mit 10 d des Augenmaßes 8,582 d des Tastmaßes äquivalent, was ich kurz schreibe:

Augenm. A 10 = Tastm. B 8,882.     Eine zweite Abteilung der Reihe gab mir eben so im Mittel von 100 Versuchen äquivalent mit 5 d Augenmaß 5,842 Tastmaß; also Augenm. A 5 = Tastm. B 5,842. Während bei der vorigen größeren Distanz die Augenmaßgröße überwog, überwog hier, wie man sieht, die Tastgröße.

    In einer dritten Abteilung wurde umgekehrt eine Distanz = 10 d auf dem Fingergliede abgegrenzt, und dazu auf einer langen Horizontallinie die dem Auge äquivalent erscheinenden B-Distanzen hinter einander mit Strichelchen abgegrenzt; dann jedesmal 16 solche Distanzen zusammen gemessen. Ich finde diese Gleichschätzung, wo die A-Distanz auf die Tastseite fällt, besonders unsicher, unsicherer als die in umgekehrter Richtung, und nicht durch langes Probieren zu heben. Die Abgrenzung der 10 äquivalent geschätzten Distanzen geschah daher immer schnell hinter einander nach eben so viel Hautberührungen mit dem Zirkel ohne Achthaben auf die vorher abgegrenzten Distanzen. Im Mittel von 100 Versuchen wurde mit Tastmaß A 10 äquivalent gefunden Augenmaß B 13,473.

    In einer vierten Abteilung wurde A Tastm. 5 = Augenm. B 3,202 gefunden.

    Man könnte meinen, es müsse den Vergleich erleichtern, wenn man die Augenmaßgröße fortgehends im Auge behält, während man das Tastäquivalent dazu sucht. Dies ist aber durchaus nicht der Fall. Nachdem ich die Augenmaßgröße in das Auge gefaßt habe, muß ich die Augen schließen, sonst weiß ich bei der geteilten oder zerstreuten Aufmerksamkeit das Tastäquivalent nicht dazu zu finden; und eben so schließe ich die Augen bei der umgekehrten Richtung des Vergleiches, während ich die Zirkel auf die Haut setze.

    Vorstehende 4 Versuchsabtheilungen sind nicht im Ganzen hinter einander angestellt, sondern an jedem Tage in continuo nur je 10 von jeder Abteilung, also im Ganzen 40; nach Tagen wechselnd in der Folge der Abteilungen I, II, III, IV, was mit ® bezeichnet werde, und IV, III, II, I, was mit ¬ bezeichnet werde. Um den Grad der Übereinstimmung der Reihe in sich zu beurteilen, folgen hier die Mittel der B-Äquivalente zu den obenstehenden A-Distanzen aus den einzelnen sukzessiven Fraktionen à 10 Beobachtungen.
 
 

Augenmaß A Tastmaß A
10
5
10
5
I
II
III
IV
® 8,56 6,28 12,15 3,28
¬ 9,03 6,15 15,31 3,55
® 8,77 6,48 13,69 2,41
¬ 8,73 5,35 13,35 3,50
® 8,61 6,08 12,52 2,38
¬ 8,17 5,61 14,12 3,82
® 8,19 5,66 13,53 3,00
¬ 8,56 5,66 13,26 3,13
® 9,12 6,02 13,14 3,35
¬ 8,08 5,13 13,66 3,60
Totalmittel 8,582 5,842 13,473 3,202

    Man sieht, daß bei II und IV die Folge der Beobachtungen einen entschiedenen Einfluß hatte, indem ¬ bei II kleinere, bei IV größere Werte gibt, als ® .

    Nach den vorigen 4 Abteilungen wurden jetzt 4 neue Abteilungen in ganz entsprechender Weise, nur so angestellt, daß die Distanzen, welche in den vorigen als B im Totalmittel gefunden wurden, jetzt (unter Abrundung bis auf 1/2 Einheit) als A dem Verfahren untergelegt wurden. So wurden, zusammengestellt mit den vorigen Resultaten, folgende in den 4 Abteilungen V, VI, VII, VIII erhalten.

                    Augenmaß.         Tastmaß.         Verhältnis.                                                             I A 10                 = B 8,582         1 : 0,8582                     II A 5                  = B 6,842            1,1684

                    III B 13,473         = A 10                0,7422

                    IV B 3,202            = A 5                1,5615

                    V A 13,5               = B 11,088        0,8213

                    VI A 3,5               = B 4,172          1,1918

                    VII B 10,181        = A 8,5              0,8349

                    VIII B 3,915         = A 5,5             1,4040


Die einzelnen Fraktionen von V bis VIII gaben:
 
 

Augenmaß
Tastmaß B
= 13,5
= 3,5
= 8,5
= 5,5
V
VI
VII
VIII
® 12,16 4,43 8,48 3,33
¬ 10,57 4,19 10,00 4,25
® 11,17 4,64 9,24 3,75
¬ 10,52 3,84 10,35 3,95
® 11,39 3,96 9,82 3,95
¬ 10,54 3,81 11,42 4,25
® 11,26 4,20 11,99 3,74
¬ 11,03 4,19 9,79 4,35
® 11,35 4,38 10,07 3,36
¬ 10,89 4,08 10.68 4,22
Mittel 11,088 4,172 10,181 3,915

Die Folge V, VI, VII, VIII gilt hier als ® , die entgegengesetzte als ¬ . Wie man sieht, ist der Einfluß der Folge hier in allen 4 Abteilungen merklich.

    Überblickt man die Verhältniszahlen der Tabelle der Resultate, so sieht man, daß die Abteilungen, worin einander nahe A-Werte der Augenmaß- oder Tastgröße enthalten sind, wie II und VI, IV und VIII, auch nahe zusammenstimmende Verhältniszahlen geben, was geeignet sein kann, das Zutrauen in diese Art Versuche etwas zu erhöhen. Hingegen ist das Verhältnis zum Teil erheblich verschieden, je nachdem (merklich) dieselben Größen als A oder B darin eingehen. I und VII zwar stimmen auch hierbei noch sehr gut, nicht so III und V, indem Augenmaß B 13,478 äquivalent mit Tastmaß A 10; Augenmaß A 13,5 mit Tastmaß B 11,088 ist; eben so wenig stimmen II und VIII. Aber auch wenn man im Tastgebiete für sich Äquivalenzversuche zwischen verschiedenen Hautteilen anstellt, finden sich entsprechende Verschiedenheiten in der Größe der Äquivalente je nach der Richtung des Vergleiches, wonach es immer nötig ist, das Mittel zwischen einander nahen A- und B-Werten zu nehmen. Dies ist in folgender Tabelle geschehen.

Augenmaß.         Tastmaß.

III. V. 13,487      = 10,544

I. VII. 10,091      = 8,541

II. VIII. 4,458     = 5,671

IV. VI. 3,351      = 4,586

Die Tastgrößen steigen hiernach viel langsamer auf, als die ihnen äquivalenten Augenmaßgrößen; jene überwiegen bei kleinen, diese bei großen Distanzen im Äquivalente.

    Wenn wir auf der Haut im Sinne von Weber’s Auffassung die Distanz zweier Zirkelspitzen als eine Funktion der Zahl der zwischenliegenden Empfindungskreise schätzen, ohne daß doch diese Kreise selbst gereizt sind, und mithin, ohne daß sie bei der Empfindung selbst beteiligt scheinen, so ist der Grund von Weber selbst im Allgemeinen darin gesucht worden 9), daß wir durch frühere Erfahrungen, wo dieselben gereizt wurden, eine sich später unbewußt geltend machende Kenntnis derselben erworben haben, und solche hiernach in stillschweigender Erinnerung zwischen die gegenwärtig gereizten Punkte einschieben, indem wir den Abstand der gereizten nach der Menge der zwischenliegenden nicht gereizten, aber durch frühere Erfahrungen uns ihrem Dasein nach bekannten, beurteilen.

9) Berichte der sächs. Soc. 1852. 111.
 
    "Setzen wir, es würden auf zwei benachbarte Empfindungskreise zwei Eindrücke hervorgebracht, so würden diese in einen Eindruck zusammenfließen müssen; denn wir nähmen keinen Zwischenraum zwischen ihnen wahr. Um einen solchen wahrzunehmen, müßte wenigstens ein Empflndungskreis zwischen den berührten Empfindungskreisen liegen, auf dem wir daselbst den Eindruck vermißten, den wir sonst dort zu empfangen und zu empfinden gewohnt waren; denn gerade der Umstand, daß wir auf den Empfindungskreisen, welche zwischen zwei berührten Teilen der Haut liegen und auf denen wir oft Eindrücke empfunden haben, einen Mangel der Empfindung wahrnehmen oder daselbst Empfindungen von anderer Art erhalten, erweckt in uns die Vorstellung von einem Zwischenraume."

    Hiernach würden nicht gereizte Empfindungskreise fehlenden Empfindungskreisen bezüglich der Empfindungsleistung äquivalent sein, insofern nicht die frühere Reizung uns vom Dasein derselben eine Kunde gegeben, die uns bei der gegenwärtigen Distanzschätzung zu statten kommt.

    So konsequent diese Ansicht auf die Grundvoraussetzung und die Tatsachen begründet erscheint, steht ihr doch eine wichtige Schwierigkeit entgegen. Die Zahl der Empfindungskreise in der zwischen den Zirkelspitzen gefaßten Hautstrecke, die früheren Erfahrungen können dieselben bleiben, und doch die Ausdehnung, welche uns die Strecke zu haben scheint, sich ausnehmend ändern.

    Nach Chloroformierung oder Einnahme narkotischer Stoffe (Morphin, Atropin, Daturin) müssen die Zirkelspitzen außerordentlich viel weiter gestellt werden, als sonst, um sie noch als distant zu empfinden, wie Lichtenfels und Fröhlich durch ausführliche und mehrfach abgeänderte Versuche gezeigt haben 10). Volkmann hat mir mitgeteilt, daß nach schon früher von ihm angestellten Versuchen Erkältung der Haut denselben Erfolg habe, und Rüte, er habe bei einer Person, welche auf einer Seite des Gesichtes unvollständig gelähmt war, beobachtet, daß die Zirkelspitzen beträchtlich weiter auf dieser Seite entfernt werden mußten, um noch Distanzempfindung zu geben, als auf der gesunden Seite. Ausgedehntere Erfahrungen hierüber hat neuerdings Wundt in der S. 315 angeführten Abhandlung bekannt gemacht.

10) Sitzungsber. d. Wien. Akad. VI, 1857. S. 338.
 
    Außerdem wirkt Übung sehr stark abändernd ein, wie Versuche von Czermak, Volkmann und mir selbst 11) übereinstimmend gezeigt haben, und zwar nach Volkmann’s und eigenen Versuchen in der Art, daß nicht einmal das Verhältnis der Empfindlichkeit bei verschiedenen Hautteilen nach gleicher Übung unverändert bleibt. 11) Abgesehen von den in Verbindung mit Volkmann angestellten, welche er in den Sitzungsber. der sächs. Soc. 1858. S. 38 bekannt gemacht hat, stehen mir darüber Erfahrungen nach der Methode der Äquivalente zu Gebote.
 
    Beim Gesichtssinne kommen nach Ätherisierung, im Haschischrausche, bei manchen Gehirnlei-den ähnliche Phänomene vor, als beim Tastsinne, deren Grund freilich in etwaigen Veränderungen der Gestalt und Lage der brechenden Medien oder Akkommodationsänderungen gesucht werden könnte, wenn ihnen nicht so analoge Phänomene beim Tastsinne zur Seite ständen, für welche jene, ohnehin nicht sehr wahrscheinliche, Erklärung nicht passen würde.

    Panum, in seiner Abhandlung "Die scheinbare Größe der gesehenen Objekte" in Gräfe’s Arch. f. Ophthalm. 1859. V, 1, führt (p. 16) namentlich folgende Tatsachen an; "Als ich vor etwa 10 Jahren einmal allein auf meinem Zimmer wegen einer unerträglich heftigen Neuralgie Äther inhalierte, machte ich eine Beobachtung, die mir unvergesslich geblieben ist, und über die ich oft vergeblich nachgedacht und Fachgenossen befragt habe. Ich fixierte nämlich, auf dem Bette liegend, ein an der Wand hängendes großes Bild, und nachdem ich in den Armen und Beinen ein dem sogenannten Einschlafen der Glieder ähnliches prickelndes Gefühl gehabt, und bei möglichst starkem Kneipen meiner Finger fast gefühllos gefunden hatte, wurde das Bild scheinbar immer kleiner und schien dabei in eine große Ferne hinauszurücken. Als es ganz klein geworden war, verschwand es, indem mir Alles vor den Augen schwarz wurde und heftiges Ohrenbrausen eintrat. Ich hörte nun mit der Ätherinhalation auf und lag eine Weile regungs- und empfindungslos mit offenen Augen da; dann, als die Sinnesempfindung zurückkehrte, wurde auch sogleich das Bild wieder wahrgenommen, anfangs sehr klein und fern, dann näher kommend und größer werdend, bis es, nachdem Empfindung und willkürliche Bewegung völlig zurückgekehrt waren, die gewöhnliche Größe erreicht hatte..... Ein befreundeter Kollege, dem ich die angeführte Erscheinung mitteilte, versicherte, daß ihm dieselbe auch, und zwar in seinen Knabenjahren in der Kirche, vorgekommen sei, indem er, mit aller Anstrengung das Gefühl der Schläfrigkeit bekämpfend, und mit unverwandtem Blicke den Prediger anschauend, diesen immer kleiner werden und in weite Ferne hinausrücken sah. Ein Anderer behauptete, in einem Typhus dieses Phänomen des Kleinerwerdens und des damit verbundenen in die Fernerückens angestarrter Objekte gehabt zu haben; und endlich erfahre ich, daß diese Erscheinung in der Psychiatrie sehr wohl bekannt ist und gar nicht selten von Personen, die an Gehirnaffektionen leiden, mit sehr großer Bestimmtheit angegeben wird. Im Haschischrausche soll sie überdies konstant sein."

    Insofern diese Tatsachen sich nicht ungezwungen der Auffassung Weber’s unterordnen lassen dürften, bin ich geneigt, sie unter Mitbezugnahme auf die Verhältnisse der extensiven Gesichtswahrnehmung unter folgenden Gesichtspunkt zu fassen.

    Auch ohne äußere Reizung bei geschlossenen Augen gewährt uns unsere Netzhaut die extensive Empfindung des schwarzen Gesichtsfeldes, was darauf beruht, daß sämtliche Empfindungskreise derselben durch schwache innere Erregung immer von selbst über der Schwelle sind, nur daß es, eben wie auch bei jeder durch einen schwachen äußeren Reiz bewirkten Empfindung erst einer besonderen Richtung der Aufmerksamkeit bedarf, diese Empfindung zum Bewußtsein zu bringen. Also schätzen wir hier die Distanz zwischen irgend welchen zwei Punkten der Netzhaut nicht nach der Zahl zwischenbefindlicher nicht gereizter, ihrem Dasein nach nur durch frühere Erfahrungen bekannter, Punkte; sondern nach der Zahl innerlich erregter und vermöge dessen eine Empfindungsleistung gewährender Punkte, und würden, wenn ein Teil dieser Punkte gelähmt würde, eine geringere Distanz erblicken, trotzdem, daß die früheren Erfahrungen dieselben bleiben.

    Meines Erachtens nun verhält es sich entsprechend mit dem Distanzgefühle der Haut, nur daß die Hautnervenfasern normalerweise nicht immer in eben solcher Vollständigkeit durch innere Erregung über die Schwelle gehoben sind, als die Gesichtsnervenfasern, sondern durch mancherlei Umstände darüber gehoben werden und darunter sinken können.

    In der Tat ist sicher immer ein Teil der Hautnerven, welche zwischen zwei Zirkelspitzen gefaßt werden, trotzdem, daß sie nicht ebenfalls berührt werden, in der Art erregt, daß wir vom Dasein und der Zahl der aktuell erregten das Ausdehnungs- und Distanzgefühl ohne Rücksichtnahme auf frühere Erfahrungen abhängig machen können. So, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf diesen oder jenen Teil der Haut richten, fühlen wir daselbst nicht nur meist Wärme oder Kälte, sondern haben auch abgesehen davon ein Gefühl, welches uns von dem Dasein und der Ausdehnung des Teiles eine gewisse direkte Kunde gibt, nur daß das Gefühl dieser Ausdehnung bei Weitem nicht so bestimmt wie im Auge ist; wir können von keiner so bestimmten und festen Erscheinung eines Tastfeldes wie Gesichtsfeldes sprechen. Vielleicht aber wird man am leichtesten zugestehen, daß auf dieses Gefühl doch überhaupt etwas zu geben, und daß es nicht sowohl von früheren Erfahrungen als gegenwärtiger Erregung der Tastnerven abhängt, wenn man sich des Unterschiedes erinnert, den der Zustand der Taubheit der Haut bei Druck auf einen Hautnervenstamm von dem gewöhnlichen Zustande darbietet — bekanntlich nämlich erscheint uns ein Arm, dessen Nerv gedrückt ist, wie ein ganz fremder Körper, — und so sehr wir die Aufmerksamkeit darauf richten mögen, es wird nicht gelingen, dasselbe Gefühl seines Daseins und Umfanges zu reproduzieren, was wir sonst dadurch zu erwecken vermögen.

    Von nicht geringem Interesse scheint mir in Bezug hierauf auch das Gefühl körperloser, ja so zu sagen raumloser, Existenz, welches sehr allgemein als Erfolg des Ätherisierens angeführt wird, sofern das Hautgefühl, was uns hauptsächlich von dem Dasein unseres Körpers Kunde gibt, durch die Einwirkung des Äthers leicht unter die Schwelle herabgedrückt werden kann, obwohl unstreitig auch der Verlust des Muskelgefühles, was uns die Schwere unseres Körpers empfinden läßt, hierzu beiträgt, wie denn beide Empfindungen überhaupt meist zusammenwirken. Sollten wir im gewöhnlichen Zustande gar keine Empfindung von der Existenz unseres Körpers durch Haut- und Muskelgefühl haben, so könnte natürlich durch das Ätherisieren auch keine verloren gehen; daß sie aber dadurch verloren gehen kann, beweist von anderer Seite eben so wie der Erfolg des Druckes auf einen Hautnerven die Variabilität dieses Gefühles je nach dem Zustande, in dem sich die Nerven finden.

    So schreibt Granier de Cassagnac 12) von der Wirkung des Ätherisierens: "Es war mir, als ob alles Äußere verschwände; ich fühlte nicht mehr das Flacon in meiner Hand, bemerkte kaum, daß ich Kleider am Leibe hatte, und der Boden, auf welchem ich stand, schien mir seine ursprüngliche Realität verloren zu haben.. . . die äußere und materielle Welt ist nicht mehr vorhanden. Wenn man sitzt, fühlt man nicht mehr den Stuhl, und wenn man liegt, nicht mehr das Bett unter sich; man glaubt förmlich in der Luft zu schweben." — Ein anderer Beobachter 13) gibt an: "Ich empfand von der Außenwelt überhaupt, ja von meinem eigenen Körper nichts mehr. Die Seele war gleichsam ganz isoliert und getrennt von dem Körper." — Dr. Bergson 14) gibt an: "Die Eigenschwere der Glieder verschwindet und man glaubt in der Tat in der Luft zu schweben.... Im Tastsinne tritt ein Gefühl von Einschlummern der Hautnerven auf, und dieses steigert sich unter prickelnder Empfindung nach und nach bis zu dem Grade, daß starkes Drücken auf die Haut der Hand, Kneipen, Stechen, Brennen gar nicht mehr empfunden wird." — Ähnliches wird von der Einwirkung anderer Narkotika berichtet. So schreibt Madden (Fror. Not. XXVI, S. 14) von der Wirkung eines Opiumrausches: "Im Gehen bemerkte ich kaum, daß meine Füße die Erde berührten; es war mir, als glitte ich, von einer unsichtbaren Kraft getrieben, die Straße entlang, und als ob mein Blut aus irgend einem ätherischen Fluidum bestände, das meinen Körper leichter machte, als die Luft."

        12) Hamb. lit. u. krit. Bl. 1847. Nr. 13.

        13) Pfeufer, Zeitsch. 1847. Bd. VI, S. 79.

        14) Mag. für Lit. des Ausl. 1847. März.

— Ein anderer Beobachter sagt von der Wirkung des Haschisch 15): "Die hervorgerufenen Sensationen waren eine so außerordentliche Leichtigkeit, so zu sagen Luftigkeit,".... und weiter: "die Limitationsempfindung (das Gefühl der Begrenzung innerhalb der Schranken von Fleisch und Blut) fiel augenblicklich weg. Die Mauern des organischen Leibes barsten und stürzten in Trümmer, und ohne zu wissen, welche Gestalt ich trug, da ich das Gesicht, ja jede Vorstellung von Form verlor, fühlte ich nur, daß ich mich zu einem unermesslichen Raumumfange ausgedehnt habe 16)" u. s. w.

         15) Mag. für Lit. des Ausl. 1854. Nr. 72.

16) unstreitig ist die Empfindung einer Ausdehnung ins Unbestimmte ohne Gestalt und Begrenzung weniger als eine Steigerung, denn als ein Verlust des Gefühles räumlicher Bestimmtheit zu fassen.
 
    Ähnlich als das Einatmen einschläfernder Substanzen scheint die natürliche Annäherung des Schlafes zu wirken. "Das leibliche Gefühl, — sagt Purkinje 17) — besonders das der Haut, verliert (beim Einschlafen) allmälig die Empfindlichkeit für die mittleren Warme- und Kältegrade; auch der Druck der Umgebung wird nicht mehr empfanden. Der Körper scheint auf der Unterlage mehr zu schweben, als darauf zu lasten. Oft geschieht es dann, daß, wenn durch plötzliche Weckung das Gefühl in die gedrückten Hautstellen wieder einschießt, es scheint, wie wenn wir aus dem Zustande des Schwebens mit einem male auf harten Boden gefallen wären, eine Erfahrung; die wohl die meisten beim ersten Einschlafen werden gemacht haben." 17) Wachen, Schlaf und Traum in Wagner’s Wört. S. 420.
 
    Interessant ist es, mit der Wirkung der Narkotika die sehr anders geartete des Strychnins zu vergleichen. Während Lichtenfels von Morphin, Atropin, Daturin die auffallendste Verminderung der extensiven Empfindlichkeit erfuhr, so war dagegen die Verminderung nach dam Gebrauche von Strychnin, obwohl bestimmt angebbar und merklich, doch im Verhältnisse zu jenen Stoffen nur gering. Es zeigte sich aber, daß derselbe Druck, welcher sonst nur eine matte Empfindung erzeugte, nach Strychnin-Einnahme eine sehr helle und bestimmte hervorruft, daß die Qualität der Empfindung verändert wird und die Dauer der Nachempfindung auffallend groß ist. — "Wenn man im normalen Zustande den Knopf des Tasterzirkels zuerst an die Haut des Armes und dann an die Zunge andrückt, so erscheint die erstere Empfindung matt, die letztere sehr scharf und begrenzt, aber gerade so hell wird durch Strychnin die Empfindung an der Haut des Armes, gleichsam als wäre die Dichtigkeit des wirksamen Agens vermehrt." (Wien. Sitzungsber. 1851. VI, S. 345. 352.)

    Man kann sich nun leicht denken, daß der Einfluß der Lähmung, der narkotischen Substanzen, der Ätherisierung und Chloroformierung dahin geht, die Empfindung einer Anzahl Empfindungskreise unter die Schwelle herabzudrücken, und hierdurch denselben Erfolg hervorzubringen, als wenn eine Anzahl dieser Empfindungskreise ganz fehlte oder abstürbe; ja fast scheint diese Auffassung notwendig, wenn man in Rücksicht zieht, daß Absterben bloß der größte Grad der Lähmung und das tiefste Sinken unter die Schwelle ist.

    Hiermit würde sich zugleich erklären, daß wir die kleinste Verrückung einer Zirkelspitze an Teilen, wie dem Oberarme, erkennen, wo zwei Zirkelspitzen, zugleich aufgesetzt, einen beträchtlichen Abstand fordern, um überhaupt als distant zu erscheinen. Indem wir eine Zirkel-spitze durch eine gegebene Distanz hindurchführen, erheben wir sukzessiv alle zwischenbe-findlichen Empfindungskreise durch die eintretende Reizung über die Schwelle, indes in derselben Distanz, wenn sie zwischen zwei ruhende Zirkelspitzen gefaßt wird, ein großer Teil der ungereizten Empfindungskreise unter der Schwelle bleibt.

    So gut aber diese Erklärung zu den bisher besprochenen Tatsachen paßt, gibt es doch eine Tatsache, die ihr direkt zu widersprechen scheint, und von der ich gestehe, daß sie mich lange in Verlegenheit gesetzt hat; wie ich denn ihre Erklärung nur auf einen, bis jetzt hypothetischen, Gesichtspunkt zu stützen wüßte, der zwar, wie man schließlich sehen wird, mit dem vorigen in sehr natürlichen Zusammenhang tritt, von dem man aber allerdings wünschen kann, daß er noch von anderer Seite als durch das Bedürfnis dieser Erklärung gestützt wäre.

    Volkmann hat die Bemerkung gemacht, und ich finde sie bestätigt, daß eine auf einen Hautteil aufgesetzte Kante von gegebener Länge nach unmittelbarer Beurteilung wie nach der Methode der Äquivalente nicht nur nicht größer, sondern sogar etwas kleiner erscheint, als die dieser Länge entsprechende Distanz zweier Zirkelspitzen auf demselben Hautteil, ungeachtet doch durch den Reiz des Druckes der vollen Kante mehr Empfindungskreise über die Schwelle gehoben werden sollten, als in der leeren Zirkeldistanz sich darüber finden. Auch der Kältereiz vergrößert bemerktermaßen nicht, sondern verkleinert die extensive Empfindung.

    Um diese Angaben mit einigen Zahlen zu begleiten, stellte ich so eben eine kleine Versuchsreihe deshalb an. Eine 8 par. Lin. messende, aus einer starken Visitenkarte geschnittene, Kante, auf das Vorderglied des Zeigefingers (auf der Volarseite der Länge des Gliedes nach, mit dem hinteren Ende in die Gelenkfuge) aufgesetzt, erschien in 5 Versuchen (ohne Zuziehung des Auges) äquivalent mit folgenden Zirkeldistanzen:

7,5;     7,3;     6,9;     7,0;     7,2     Linien,

                                                                Mittel 7,18. Ähnliche Verhältnisse habe ich zu anderen Zeiten auf dem Finger wiedergefunden.

    Auch auf dem Oberarme habe ich mit Kantenlängen von 25 bis 30 Linien zu verschiedenen Zeiten dergleichen Versuche angestellt und stets kleinere Zirkeldistanzen denselben äquivalent gefunden; nur schwankte das Verhältnis sehr bei Versuchen an verschiedenen Tagen, wie mir denn der Vergleich der vollen mit der leeren Distanz durch das Gefühl hier viel schwieriger erscheint, als auf dem Finger. Im Ganzen würde ich geneigt sein, teils nach direktem Vergleiche, teils nach der Methode der Äquivalente den Vorteil scheinbarer Größe für die leere Zirkeldistanz gegen die volle Kantenlänge auf dem Arme noch größer, als auf dem Finger zu finden, jedenfalls nicht geringer. Um ein sicheres und allgemeingültiges Resultat in dieser Hinsicht zu erhalten, würden aber erst unabhängige Versuche an einer Mehrzahl von Individuen nötig sein.

    Der Gesichtspunkt, den ich zur Erklärung aufstelle, ist nun dieser:

    Dächten wir uns, daß die Tastnervenfasern, welche gesonderte Empfindungen vermitteln, im Gehirne oder an einer Stelle vor dem Gehirne eben so konfluierten, als die einen gemeinsamen Empfindungskreis bildenden Zweige derselben Faser, so würden auch ihre Tätigkeiten und die davon abhängigen Empfindungen konfluieren, und eine gemeinsame Erhebung vieler solcher Fasern über die Schwelle nur eine große Intensität, nicht Extension der Tastempfindung mitführen können, eben wie es von den Zweigen eines und desselben Empfindungskreises gilt. Unstreitig haben wir also vorauszusetzen, daß die Tätigkeiten der diskret empfindenden Fasern sich zwischen ihnen (durch ihre Verbindungsglieder im Gehirne) nicht in derselben Kontinuität forterstrecken, als in ihnen und ihren Zweigen, sondern zwischen ihnen sei es fehlen oder unter die Schwelle sinken, und hierdurch eine Scheide der Empfindung begründen; denn sonst wäre kein Grund, warum nicht die verschiedenen Fasern ein gleich einfaches Empfindungsresultat geben sollten, als Zweige eines und desselben Empfindungskreises; sie stellten hiermit eben nur einen solchen dar.

    Nun kann man sich aber leicht denken, daß, wenn der Druck einer Kante oder der Temperaturreiz auf einen Trakt der Haut wirkt, die Steigerung der psychophysischen Tätigkeit nicht bloß auf die Tastnerven und ihre zentralen Endigungen beschränkt bleibt, sondern sich auch auf deren Verbindungen unter einander im Gehirne erstreckt und einen Teil derselben mit über die Schwelle hebt, so daß die vorher diskreten Nervenfasern nun teilweise mit Tätigkeiten oberhalb der Schwelle konfluieren und dadurch Zweigen eines und desselben Empfindungskreises äquivalent werden.

    Schon sonst ist hinreichend bekannt, daß ein Empfindungsreiz, nach Maßgabe als er stärker ist, Reflexbewegungen in größerem Umfange auszulösen vermag, was voraussetzt, daß die Nerventätigkeit sich von einem Empfindungsnerven zu einem Bewegungsnerven durch die zwischen beiden in den Zentralorganen bestehenden Verbindungen fortzuerstrecken vermag, und zwar nach Maßgabe der Stärke des Reizes und anderen Umständen so, daß einmal eine merkliche Anregung des Bewegungsnerven dadurch stattfindet, anderemale nicht. Das Entsprechende, was man nach den Tatsachen des Reflexes und zur Erklärung derselben bezüglich der Empfindungsnerven und Bewegungsnerven anzunehmen nötig findet, wird man nun bloß nötig haben, zur Erklärung der Tatsachen, um die es sich hier handelt, auch bezüglich der Nervenfasern, die in demselben Tastnerven beisammen liegen, anzunehmen, was um so weniger Schwierigkeit haben kann, als die anatomische Verbindung dieser Fasern unstreitig eine engere ist, als die zwischen zwei verschiedenartigen Nerven.

    Natürlich wird sich die durch den Reiz auslösbare Tätigkeit überall nur in einer gewissen Solidarität in den Nerven und deren Verbindungsgliedern im Gehirne ändern können, und darum diese und die vorige Erklärung überhaupt nicht streng auseinander zu halten sein. Ohne uns nun hier in weite Ausführungen einlassen zu wollen, ist doch denkbar, daß die Tätigkeit bei Abänderung des Reizes in stärkerem Verhältnisse in den Nerven als deren Verbindungsgliedern steigt und sinkt, und unter Umständen selbst in ersteren auf Kosten der letzteren steigen, oder zum Vorteile derselben sinken kann. Und so könnte die Übung bei Tastversuchen mitführen, daß mehr Tastnervenfasern mit ihren zentralen Endigungen über die Schwelle treten, indes zugleich mehr Verbindungen unter die Schwelle sinken; wie denn auch der Einfluß der Übung bei mechanischen Bewegungsfertigkeiten zugleich dahin geht, die Muskeln zu kräftigen, und die einzelnen Partien derselben gesonderter bewegen zu lassen, sicher nicht ohne einen Miteinfluß auf die Nerven. Auf die eine oder andere Weise aber wird der Einfluß der Übung das Distanzmaß nur bis zu einem gewissen Maximum vergrößern können; denn, wenn alle Empfindungskreise über die Schwelle erhoben sind, oder alle im Gehirne geschieden sind, so muß das Maximum erreicht sein. In der Tat hat sich ein solches Maximum bei den von Volkmann und mir in Verbindung angestellten Übungsversuchen, welche oben erwähnt wurden, übereinstimmend und mit Entschiedenheit herausgestellt.

    Es gibt noch einige Tatsachen, die mit unseren Ansichten in Beziehung gesetzt werden können, und von einer Seite sehr gut in dieselben hineintreten, indes sie von anderer Seite geeignet sein könnten, Zweifel dagegen zu erwecken, sofern sie, wenn auch nicht in bestimmtem Widerspruch damit, sich denselben bisher noch nicht ungezwungen unterordnen lassen.

    Wie oben bemerkt, wird die Bewegung einer Zirkelspitze auf dem Arme als eine Fortrückung empfunden, wenn sie auch nur ganz wenig beträgt, indes eine viel beträchtlichere Distanz der ruhend aufgesetzten Zirkelspitzen auf dem Arme nicht als Distanz empfunden wird. Dies ließ sich darauf schieben, daß der Reiz der Zirkelspitze jeden Empfindungskreis, den er trifft, über die Schwelle hebt, indes in der Distanz zwischen den ruhenden Spitzen viele Empfindungskreise unter der Schwelle bleiben. Ist aber dem so, so muß der Vorteil der bewegten Spitze vor der ruhenden Distanz bezüglich der dadurch erzeugten extensiven Empfindungsgröße auf solchen Teilen schwinden, wo alle Empfindungskreise über der Schwelle sind, und jedenfalls geringer auf den Teilen von größerer extensiver Empfindlichkeit als auf denen von geringerer sein. Dies ist nun wirklich ganz entschieden der Fall; nur überschreitet das Resultat des Versuches so zu sagen das Ziel, indem zwar nicht die Mehrzahl, aber doch nicht wenige Personen, darunter ich selbst, die scheinbare Größe einer von der Zirkelspitze durchlaufenen Distanz auf dem Finger sogar entschieden kleiner finden, als dieselbe Distanz zwischen ruhende Zirkelspitzen gefaßt, wofür es schwer ist, eine Erklärung zu finden. Bevor ich auf die Diskussion dieses seltsamen Resultates eingehe, führe ich das Tatsächliche an.

    Um den Versuch anzustellen, setze ich an mir selbst oder an einer anderen Person 18) die eine Zirkelspitze in die Gelenkfuge zwischen dem Vordergliede und Mittelgliede des Zeigefingers (Volarseite) und die andere etwa 9 bis 10 par. Linien nach vorn 19), achte auf das Distanzgefühl, hebe dann die Spitze, welche in der Gelenkfuge steht, und fahre mit der anderen Spitze, immer ohne Zuziehung der Augen, bis zur Gelenkfuge herab.

18) Bei mehrfachen Versuchen habe ich gefunden, daß es keinen Unterschied macht, ob man den Versuch an sich selbst anstellt, oder von einem Anderen an sich anstellen läßt.

19) Man kann auch andere Finger und größere Längen des Fingers zum Versuche anwenden, indem man z. B. die hintere Spitze in die Fuge zwischen dem zweiten und hintersten Gliede, die andere auf die Kuppe des Vordergliedes aufsetzt. Ich finde auch hier den Längenuntersehied je nach der obigen Versuchsweise beträchtlich.
 
 

    Dieser Weg der bewegten Spitze nun, er heiße kürzlich b, erscheint mir so zu sagen unbegreiflich kürzer als die Distanz zwischen den ruhenden Spitzen, welche r heißen.

    Ich wiederholte den Versuch sofort an einer anderen Person, natürlich, wie bei allen späteren Prüfungen an Anderen, ohne die zu erwartende Richtung des Resultates anzugeben. Sie erklärte nach einigen Wiederholungen ganz unbefangen, daß ihr b etwa halb so lang als r erscheine, womit mein eignes Gefühl sehr gut übereinstimmt; und merkwürdigerweise äußerten Hankel und Volkmann unabhängig von einander sich eben so; es komme ihnen b etwa halb so lang vor als r.

    Hiernach und nach Proben an noch mehreren anderen Personen kann kein Zweifel sein, daß wirklich b viel kleiner als r erscheinen kann. Nur ist das Resultat keineswegs allgemein. Ich habe im Ganzen 28 Personen, mich selbst eingeschlossen, geprüft, von welchen 17 gar keinen deutlichen Unterschied zwischen b und r finden konnten; 10 fanden b kürzer als r und zwar die Mehrzahl sehr entschieden kürzer; 1 fand umgekehrt b anfangs entschieden länger als r, doch bei Wiederholung des Versuchs glich sich das Gefühl für beide allmälig aus. Eben so sagt mir Volkmann, der selbst (bei rascher Bewegung) sehr entschieden b kürzer als r fand, daß vier andere Personen, mit denen er den Versuch anstellte, keinen Unterschied hätten finden können, indes der, zufällig anwesende, Prof. Dubois denselben wie er selbst fand. Dies zusammengenommen, so hätten von 34 Personen 12 b kürzer als r gefunden, 21 keinen deutlichen Unterschied, 1 (anfangs) b länger als r.

    Ich selbst habe an mir keinen entschiedenen Einfluß auf den Erfolg des Versuches bemerken können, je nachdem ich die Zirkelspitzen mit stärkerem oder schwächerem Drucke oder mit schnellerem oder langsamerem Zuge führte. Doch scheint bei Anderen die Geschwindigkeit einen Unterschied zu machen.20) Das Resultat hat sich bei mir zu verschiedenen Zeiten immer konstant in derselben Richtung wiedergefunden, und jedesmal deutlich gleich beim ersten Versuche; doch hat es mir mehrmals geschienen, als ob einige Wiederholung den scheinbaren Unterschied zwischen b und r noch steigere; und wahrscheinlich findet ein gewisser Einfluß der Wiederholung wirklich statt, da ich auch bei einigen anderen Personen eine entschiedene Aussage über einen stattfindenden Unterschied erst nach einiger Wiederholung und in einem (obenbemerkten) Falle sogar anfangs die entgegengesetzte Aussage erhielt.

20) Volkmann schreibt mir: "Ich empfinde die Zirkeldistanz wirklich größer, als die gestrichene Hautstelle von gleicher Ausdehnung. Der Unterschied ist gar nicht weit vom Duplum entfernt. Ob die Geschwindigkeit des Streichens einen Einfluß habe, will ich nicht mit Bestimmtheit behaupten, doch scheint es mir so. Es kommt mir nämlich vor, als ob schnelles Streichen den Unterschied steigere, oder mit anderen Worten, daß bei langsamerem Streichen die in Vergleich gestellten Dimensionen sich ziemlich gleich groß ausnehmen." Dubois fand den Einfluß der Geschwindigkeit in demselben Sinne als Volkmann.
 
    Ich habe ferner versucht, ob die einfache Zirkelspitze von der Gelenkfuge nach der Fingerkuppe aufwärts geführt einen längeren Weg zu beschreiben schiene, als in umgekehrter Richtung dieselbe Strecke abwärts geführt. Die Mehrzahl der Personen fand keinen deutlichen Unterschied, die aber einen solchen fanden, gaben (in von einander unabhängigen Versuchen) ausnahmlos an, daß ihnen der Weg von der Fuge aufwärts länger erscheine, als nach der Fuge abwärts, darunter mehrere, die keinen deutlichen Unterschied zwischen b und r fanden. Unter den 28 Personen, die ich dem vorigen Versuche unterwarf, von denen jedoch mehrere diesen zweiten Versuch nicht angestellt haben, haben ebenfalls 10 jenen Unterschied gefunden, so daß doch auch hierbei nicht bloßer Zufall stattzufinden scheint.

    Endlich stellte ich Versuche folgender Art an: Ich gab einem Zirkel, dessen Spitzen durch Wachs- oder Siegellackkügelchen abgestumpft waren 21), eine große Spannweite, ließ durch eine andere Person denselben mit einem Ende auf meinen Zeige- oder Mittelfinger, mit dem anderen auf den Unterarm aufsetzen, und nun nach der Längsrichtung des Fingers und Armes so hin- und herführen, daß das eine Ende sich auf dem Finger, das andere auf dem Arme mit derselben Geschwindigkeit bewegte. Da die Nervendichtigkeit der Fingerhaut größer als die der Armhaut ist, so hätte man meinen sollen, der auf dem Finger durchlaufene Raum oder die Geschwindigkeit der Bewegung auf dem Finger müßte entschieden größer als auf dem Arme erschienen sein. Aber ich habe in mehrmals wiederholten Versuchen, sowohl die ich von Anderen an mir anstellen ließ, als selbst an anderen Personen anstellte, nichts Entschiedenes finden können. Manchmal schien mir die eine, andermal die andere Spitze sich schneller zu bewegen, oder den größeren Raum zu durchlaufen, und auch von den anderen Personen erhielt ich teils schwankende, teils geradezu sich widersprechende Aussagen. Der scheinbare Erfolg scheint hier hauptsächlich von der Einbildung abhängig.22)

21) Zu vorigen Versuchen wurden sie unabgestumpft angewendet; bei dem jetzigen aber ist keine glatte Führung der Spitzen ohne obige Maßregel zu erzielen.

22) Dieser Versuch tritt mit Fragen in Beziehung, welche Czermak in einer kleinen Abhandlung "Ideen zu einer Lehre vom Zeitsinne " in den Sitzungsberichten d. Wien. Akad. 1857. April veröffentlicht hat, ohne daß er jedoch etwas zur Aufklärung derselben beizutragen vermag.
 
 

    Versucht man, sich Rechenschaft von dem Ausfalle voriger Versuche zu geben, so kann man es zuvörderst als möglich halten, daß die Kombination der von der Zirkelspitze durchlaufenen Punkte in der Erinnerung prinzipiell ein anderes Resultat scheinbarer Extension gibt, als die Zusammenfassung der gleichzeitig zwischen die ruhenden Zirkelspitzen gefaßten Punkte, und es ist in der Tat a priori nicht zu behaupten, daß eine Übereinstimmung beider Fälle im Resultate stattfinde. Nur würde es schwer sein, den so verschiedenen Ausfall dieser Versuche bei verschiedenen Individuen damit zu vereinbaren, und es scheint nicht, daß beim Auge eine solche Verschiedenheit sich geltend macht.

    Ich gestehe also offen, daß ich eine sichere Erklärung für diese Verhältnisse nicht habe. Inzwischen ließe sich vielleicht ein Erklärungsversuch an folgenden bis jetzt freilich noch ganz fraglichen Punkt knüpfen.

    Gesetzt, man hat in einer gegebenen Hautstrecke ah eine Reihe Empfindungskreise

a     b     c     d     e     f     g     h Jeder gehöre einer isolierten Tastnervenfaser an, welche sich mit ihrer Tätigkeit oberhalb der Schwelle findet. Werden nun alle nach der Reihe von der Zirkelspitze durchlaufen, ohne dabei mit ihren Tätigkeiten zu konfluieren, so wird, wie sich dies bei vielen Personen gezeigt hat, ah eben so groß erscheinen können, als zwischen die ruhenden Spitzen gefaßt, weil die Zahl der diskret empfindenden Fasern sich dabei weder vermehrt noch vermindert. Gesetzt aber, durch den Reiz der Zirkelspitze konfluierten von den vorher isolierten Punkten jedesmal mehrere, z. B. drei, zum Äquivalent eines Empfindungskreises nach dem oben erörterten Prinzipe, also sukzessiv abc, bcd, cde . . . im Fortschritt der Spitze von a zu b und c, so fragt sich, ob die ganze Distanz ah hierbei noch eben so groß erscheinen kann, als wenn die Punkte a, b, c als isolierte durchlaufen werden oder so zwischen den ruhenden Zirkelspitzen bestehen. Dies scheint mir bis jetzt nicht sicher a priori entscheidbar oder durch Erfahrung entschieden. Sollte ah auf diesem Wege kleiner erscheinen können, so würde der Erfolg des Versuches bei denen, welche b kleiner als r finden, dadurch erklärbar sein. Aber man sollte freilich erwarten, daß die Verstärkung des Druckes beim Versuche dann einen Einfluß äußerte, den ich doch nicht konstatieren kann. Unstreitig zwar sind von vorn herein nicht alle Punkte a, b, c ... über der Schwelle, sondern ein Teil derselben wird erst durch die Zirkelspitze darüber gehoben, und so kann sich die Wirkung eines stärkeren Druckes in dieser Hinsicht mit der des vermehrten Confluxes in gewisser Weise kompensieren; doch haftet immer noch viel Zweifel an der Erklärung. Der Einfluß der gegensätzlichen Richtung der Bewegung mag wohl, wo er sich gezeigt hat, an irgend einem Nebenumstande liegen, und weniger Gewicht darauf zu legen sein.

    Von fundamentaler Wichtigkeit ist folgende früher schon mehrfach berührte, bis hierher verschobene, Frage:

    Hängt die Größe der extensiven Empfindung nach gleicher Funktion von der Zahl der in Anspruch genommenen tätigen Empfindungskreise ab, als die Größe der intensiven Empfindung von der Größe des Reizes?

    Mit anderen Worten, gilt in dieser Hinsicht das Weber’sche Gesetz und sind unsere hierauf gestützten bisherigen Formeln auf die extensive Empfindung anwendbar, sofern wir Zahl der tätigen Empfindungskreise für Größe des Reizes darin substituieren ?

    Die im 9. Kapitel angeführten Versuche haben gezeigt, daß das Weber’sche Gesetz sich beim Augenmaße für den Versuch bestätigt; es ist aber auch gezeigt worden, daß diese Bestätigung für die Entscheidung unserer Grundfrage nichts bedeutet, weil die Versuche unter Einfluß der Augenbewegung ausgeführt sind; ja ihre wahre Bedeutung ist bis jetzt noch nicht aufgeklärt. Eben da ist angeführt worden, daß das Weber’sche Gesetz beim Tastmaße sich für den Versuch nicht bestätigt; im folgenden Kapitel werde ich die Versuche dazu anführen, und diese Versuche scheinen maßgebender zu sein, weil Bewegung hierbei nicht ins Spiel kommt.

    In der Tat trifft die, auf das Weber’sche Gesetz gestützte, Maßformel bezüglich der extensiven Empfindung nicht zu. Große Linien müßten uns nach dieser Formel in einem logarithmischen Verhältnisse gegen kleinere verkürzt erscheinen; aber eine doppelt so lange Linie wird auch von einem guten Augenmaße als doppelt so lang taxiert, und dies ist selbst noch im Nachbilde bei geschlossenen Augen der Fall, wo Bewegungen das Urteil nicht mitbestimmen können.

    Inzwischen lehrt eine gründlichere Betrachtung, daß, wenn wirklich die Zahl der Empfindungskreise bei extensiven Empfindungen die Stärke des Reizes bei intensiven vertreten sollte, ein kleinerer und größerer Reiz nicht durch einen kleineren und größeren Teil der Ausdehnung der Netzhaut, sondern nur durch eine kleinere und größere ganze Netzhaut vertreten werden könnte, die wir aber in unseren Versuchen nicht herstellen können, so daß die Beobachtungen, auf die wir Bezug genommen, überhaupt ungeeignet sind, die Frage gründlich zu entscheiden, da sie immer nur auf kleinere und größere Teile der Netzhaut und Haut gehen. Des Näheren nämlich stellt es sich so damit:

Die Totalität der tätigen Empfindungskreise unserer Netzhaut wird unter Voraussetzung, daß ihre Zahl für die extensive Größe der Empfindung dieselbe Bedeutung hat, als die Stärke des Reizes für die Intensität, eine gewisse Ausdehnung für die Empfindung, ein scheinbares Gesichtsfeld von gewisser Größe repräsentieren. Wenn diese Totalität, gleichviel welche Zahl Empfindungskreise befassend, um einen gegebenen Verhältnisteil vermehrt wurde, so würde nach dem Weber’schen Gesetze, im Falle seiner Anwendbarkeit, das scheinbare Gesichtsfeld um gleich viel wachsen, und zwei Netzhäute von der Größe n und na würden bei gleicher Nervendichtigkeit scheinbare Gesichtsfelder haben, die sich wie log a und log n a verhalten, wenn die Zahl der Empfindungskreise, bei der überhaupt die Ausdehnung merklich zu werden beginnt, = 1 gesetzt wird. Ziehen wir aber nur Teile der einmal gegebenen Netzhaut gegen einander in Betracht, wie es bei allen unseren Versuchen der Fall ist, sofern alle Längen und Distanzen nur in der einmal gegebenen, nicht willkürlich abzuändernden, Netzhaut abgegrenzt sind, so ist es bezüglich der extensiven Empfindung dasselbe, als bezüglich der intensiven, wenn wir einen Bruchteil der Intensität eines Reizes gegen den anderen in Betracht ziehen. Da leistet jeder gleich viel mit dem anderen. Der nte Teil der Netzhaut wird dann den nten Teil des ganzen Gesichtsfeldes repräsentieren müssen, und ein n-mal so großer einen n-mal so großen Teil des Gesichtsfeldes, nach dem ganz einfachen Prinzipe, daß die Summe der Teile dem Ganzen gleich ist.

    In der Tat, nehmen wir einmal an, ein kleiner Teil der Netzhaut werde verhältnismäßig größer empfunden, als die ganze Netzhaut, wie ein schwacher Lichtreiz nach der Maßformel verhältnismäßig stärker empfunden wird, als ein starker, so würde durch die Summation dieser scheinbaren Ausdehnungen der Teile eine größere scheinbare Ausdehnung herauskommen, als für die ganze Netzhaut, was sich widerspricht. Wenn nun aber doch ein schwacher Lichtreiz nach der Maßformel verhältnismäßig stärker empfunden wird, als ein starker, so rührt dies daher und ist nur insofern der Fall, als der schwache nicht Teil eines starken ist, sondern neben ihm oder nach ihm einwirkt. Insofern aber ein schwacher Lichtreiz Teil eines starken, im Selben Raum- und Zeitpunkte einwirkenden, Lichtreizes ist, kommt ihm auch keine größere Wirkung auf die Empfindung zu, als den übrigen schwachen Teilen, und steht diese also in Proportion zu der Größe, die er von dem ganzen Lichtreize bildet. Ganz entsprechend bei der Auffassung der extensiven Größe der Netzhaut, als hier bei der intensiven Größe des Reizes.

    Eine entsprechende Betrachtung würde auf das Ausdehnungsmaß der Haut anzuwenden sein.

    Ich sage nicht, daß durch diese Betrachtungen die Anwendbarkeit des Weber’schen Gesetzes und der davon abhängigen Formeln auf die extensiven Empfindungen gesichert ist, sondern nur, daß danach die Möglichkeit dieser Anwendung noch besteht. Einen entscheidenden Erfahrungsbeweis wüßte ich nicht zu finden; inzwischen gibt es manche Folgerungen dieser Anwendung, die an sich von Interesse und der Prüfung aus einem gewissen Gesichtspunkte nicht ganz unzugänglich sind, und auf die ich daher noch mit Einigem eingehen will.

    Insofern unter sonst gleichen Umständen die Zahl der tätigen Empfindungskreise der Netzhaut der Größe der Netzhaut proportional ist, ersetze ich zuerst Zahl der Empfindungskreise durch Größe der Netzhaut, indem ich auf die stattfindende Ungleichförmigkeit der Nervendichtigkeit der Netzhaut bei demselben Individuum, und Ungleichheit dieser Dichtigkeit zwischen verschiedenen Individuen zuerst noch keine Rücksicht nehme, was nachher geschehen wird. Unter scheinbarem Gesichtsfelde wird stets das Gesichtsfeld verstanden werden, so wie es im geschlossenen Auge, abgesehen von Erfahrungseinflüssen, erscheint.

    Nach Anwendung unserer Maßformel wird, damit überhaupt ein scheinbares Gesichtsfeld von einer spürbaren Ausdehnung erzeugt werde, eine gewisse Ausdehnung der Netzhaut (Zahl der diskret tätigen Empfindungskreise) erfordert werden, welche als Schwellenwert anzusehen ist, und unter Voraussetzung, daß dieser Schwellenwert als Einheit der, allgemein mit a zu bezeichnenden, Ausdehnung der Netzhaut gilt, und k in der Maßformel = 1 gesetzt wird, wird log a das Maß der scheinbaren Ausdehnung des Gesichtsfeldes geben.

    Soll sich das scheinbare Gesichtsfeld ver-n-fachen, so muß log a in n log a = log an übergehen, d. h. die Netzhaut, welche dieses n-fache Gesichtsfeld geben soll, muß eine Ausdehnung erlangen, welche nicht die n-fache Größe, sondern die n-te Potenz derjenigen Größe hat, die der Netzhaut mit einfacher Ausdehnung zukommt.

    Ist die Größe der Netzhaut schon sehr gewachsen, so wird eine Verdoppelung ihrer Größe das scheinbare Gesichtsfeld in keinem merklichen Verhältnisse mehr verändern, sofern dann log 2 gegen log a verschwindet.

    Hieraus erhellt, daß sehr große Augen, wenn es galt, große Leistungen mit möglichst wenig Aufwand von Mitteln zu erzeugen, teleologisch nicht vorteilhaft sind. Auch hat es die Natur vorgezogen, sich mit vielen Augen in vielen Geschöpfen, als wenig großen in wenigen zu beschauen, wobei freilich auch noch andere Vorteile in Betracht kommen. Gar zu kleine Augen aber würden eben so wenig vorteilhaft sein, da unterhalb der Ausdehnungsschwelle gar nichts mehr gesehen wird.

    Fragt man dann, mit welcher Netzhautgröße A die größtmögliche verhältnismäßige extensive Leistung erzielt werden würde, d. h. das größtmögliche scheinbare Gesichtsfeld im Verhältnisse zu der dazu verwandten Netzhautgröße, so wird man den Maximumwert des Ausdruckes

zu suchen haben; was durch Differenzierung nach bekannter Regel jenen Maximalwert wiederfinden läßt, der uns schon mehrmals begegnet ist,

A = e = 2,71828...

wo e die Grundzahl der natürlichen Logarithmen. Wonach die relativ vorteilhafteste Ausdehnung der Netzhaut die wäre, welche das 2,718. .-fache ihres Schwellenwertes ist.

    Untersuchen wir nun, welchen Einfluß die Größe der Netzhaut a auf die scheinbare Größe der darauf fallenden Bilder hat. Sei a der Teil der Netzhaut, welchen das Bild deckt. Nach dem (s. o.) aufgestellten Prinzipe wird die Größe, unter welcher das Bild erscheint, von der Größe sein, unter welcher die ganze Netzhaut erscheint, diese aber erscheint unter der Größe log a. Also wird die scheinbare Größe des Bildes sein - log a. Insofern nun a im Divisor dieses Ausdruckes steht, ist die Größe der Netzhaut nachteilig für die scheinbare Größe der darauf fallenden Bilder. Das Bild von gegebener Größe a deckt dann nämlich einen um so kleineren Verhältnisteil der ganzen Netzhaut a, und nach diesem Verhältnisteile richtet sich der Verhältnisteil, welchen die scheinbare Größe des Bildes von der scheinbaren Ausdehnung der Netzhaut bildet. Aber die scheinbare Ausdehnung der Netzhaut wächst zugleich im Verhältnisse von log a, und hiermit auch die absolute Größe des Verhältnisteiles, welcher auf das Bild kommt. Dies begründet von anderer Seite einen Vorteil der Vergrößerung der Netzhaut für die scheinbare Größe des Bildes.

    Nach Umständen kann nun der Nachteil oder Vorteil überwiegen, und auch hier gibt es einen Punkt größten Vorteils, der mit dem vorigen zusammenfällt. Das Maximum, d. h. wo ein Bild von gegebener Größe auf der Netzhaut möglichst groß erscheint, findet wieder bei einer Netzhaut statt, deren Ausdehnung A = e, im vorhin angegebenen Sinne.

    Bis jetzt haben wir uns nur die Ausdehnung der Netzhaut bei gleichförmiger und gleicher Nervendichtigkeit veränderlich gedacht. Denken wir uns jetzt die Nervendichtigkeit verschiedener Netzhäute bei gleicher Ausdehnung verschieden, so wird das scheinbare Gesichtsfeld sich in demselben Verhältnisse dadurch abändern, als durch Abänderung der Ausdehnung, insofern die Ausdehnung der Netzhaut selbst nur nach Maßgabe der Zahl der Empfindungskreise in ihr in Rechnung kommt, so daß eine doppelt so dichte Netzhaut ein eben so großes scheinbares Gesichtsfeld hat, als eine doppelt so ausgedehnte bei ungleicher Dichtigkeit.

    Allgemein, wenn D die immer noch als gleichförmig vorausgesetzte Nervendichtigkeit der Netzhaut, a ihre wirkliche Ausdehnung, a die Ausdehnung des Teils, auf den das Bild fällt, ist, so wird die scheinbare Größe des Gesichtsfeldes sein log D a, die scheinbare Größe des Bildes log D a, wonach durch Verdichtung der Netzhaut mehr für die scheinbare Größe des Bildes gewonnen werden kann, als durch Vergrößerung derselben, weil D nicht eben so wie a in den Divisor des Ausdrucks für die scheinbare Größe des Bildes eingeht. In der Tat sehen wir diesem Gesichtspunkte durch große Nervendichtigkeit bei geringer Größe der Netzhaut entsprochen. Indes kann natürlich die Nervendichtigkeit, d. h. Zahl der auf einer großen Fläche zusammengedrängten Netzhautelemente, falls sie sich einmal berühren, nur auf Kosten ihrer Ausdehnung vermehrt werden, wo dann jeder nur noch weniger Lichtstrahlen aufnehmen kann, was die Intensität der Empfindung vermindern muß.

    Übrigens kann die Vergrößerung von D verhältnismäßig nur um so weniger zur Vermehrung der scheinbaren Größe des Bildes beitragen, je weiter sie über einen gewissen Punkt hinausgetrieben wird. Denn ver-m-facht man D in der Formel, für die scheinbare Ausdehnung des Bildes, so wächst der Ausdruck um  log m, was gegen  log D a um so mehr verschwindet, je größer D a schon ist.

    Bisher war gleichförmige Nervendichtigkeit vorausgesetzt. Eine solche aber findet nicht wirklich statt, und unsere Theorie schließt die sehr merkwürdige, weil merkwürdig mit den Einrichtungen der Natur zusammenstimmende, Folgerung ein, daß ein besonderer Vorteil dadurch erzielt werden kann, daß der Teil der Netzhaut, auf den das Bild fällt, sehr nervendicht im Verhältnisse zum übrigen gemacht wird, indem der Bruchteil der gesamten Anzahl Empfindungskreise, den das Bild deckt, dadurch größer wird, ohne daß sich die im Divisor auftretende Gesamtzahl der Empfindungskreise a dadurch erheblich vergrößert.

    In der Tat, wenn D die mittlere Nervendichtigkeit, a die Ausdehnung der ganzen Netzhaut, d die Nervendichtigkeit und adie Ausdehnung des Teiles, auf den das Bild fällt, ist, so ist das ganze scheinbare Gesichtsfeld log D a, und die scheinbare Ausdehnung des Bildes  log D a; woraus folgt, daß die scheinbare Ausdehnung des Bildes bei gegebenem D im direkten Verhältnisse von d wächst.

    Hiernach erscheint die Einrichtung, nach der wir nur eine sehr kleine sehr nervendichte deutlich sehende Stelle bei einer im Verhältnisse dazu viel minder nervendichten übrigen Netzhaut haben, als die vorteilhaft möglichste, die größte verhältnismäßige Leistung im Sehen zu erzielen. Nur daß diese Einrichtung noch die zweite Einrichtung nötig machte, die Augen beweglich einzurichten, um hierdurch das Äquivalent eines großen deutlichen Sehfeldes zu erlangen. Entsprechend ist auch unser Tastorgan eingerichtet; und die nervendichtesten Stellen sind hier noch insbesondere an den freibeweglichsten Teilen, der Zunge und den Fingern, angebracht.

    Wenn über die Verhältnisse der Nervendichtigkeit zur Größe der Netzhaut und anderen Verhältnissen bei verschiedenen Tierklassen mehr bekannt wäre, als zur Zeit der Fall, würden sich unter Zuziehung des teleologischen Prinzips, ohne welches hier nichts auszurichten, vielleicht bestimmtere Bestätigungen dieser Theorie oder auch bestimmtere Einwürfe dagegen ergeben, da ich in der Tat weit entfernt bin, dieselbe für eine sichere auszugeben. Es gilt in dieser Hinsicht, was Bergmann 23) mit Bezug auf die durch Weber’s Versuche am Tastsinne begründeten Ansichten sagt:

"Somit kommen wir zu dem Resultate, daß die Größe des Bildes im Auge wohl nur in dem Maße ein genaues Sehen möglich macht, als damit eine Ausbreitung des Bildes über eine größere Zahl von Nervenendigungen verbunden ist. – Dadurch aber stehen wir der Frage gegenüber, nach welchem Maße die Verteilung der Nervenendigungen in den Augen verschiedener Tiere angeordnet sein mag? Die äußerst schwierige Anatomie der Netzhaut ist bis jetzt nicht im Stande, diese Frage zu lösen; aber es ist anzunehmen, daß die einstige Lösung Licht über manche Eigentümlichkeiten des Sehens verschiedener Tiere wird verbreiten müssen."

23) Anatom.-physiol. Unters. S. 470.
 
    Die Größe, welche das Bild eines möglichst deutlich gesehenen Gegenstandes auf der Netzhaut eines Geschöpfes deckt, hängt einerseits von der deutlichen Sehweite des Geschöpfes, andererseits dem Abstande des Kreuzungspunktes der Sehstrahlen von der Netzhaut, drittens von dem Radius des Auges und mithin der Netzhaut ab. Gesetzt nun, wir hätten Geschöpfe, bestimmt, aus viel größerer Entfernung deutlich zu sehen, als der Mensch, wie würden ihre Augen beschaffen sein müssen? Unstreitig so, daß die Kleinheit des Bildes, welches durch die große Entfernung der Gegenstände bedingt wird, durch andere Verhältnisse kompensiert würde. Welches werden diese Verhältnisse nach unserer Theorie sein? Das Verhältnis der Nervendichtigkeit auf dem deutlichst sehenden Teile zum übrigen, so wie der Radius, also die Größe des Auges, wird wachsen müssen, die Größe der Netzhaut aber nicht im Verhältnisse mit wachsen dürfen, weil die vorteilhafteste Ausdehnung der Netzhaut unabhängig von der Größe des Auges sich bestimmt. In der Tat bieten die Vögel, welche bei ihrer Bestimmung zum Fluge sehr weit zu sehen haben, durchschnittlich sehr große Augen, aber mit verhältnismäßig zur Größe des Auges kleinerer Netzhaut dar, als Säugetiere, wie ich der mündlichen Äußerung eines Sachkundigen entnehme. Über die Verhältnisse der Nervendichtigkeit ist mir nichts bekannt.

    In "Müller z. vergl. Physiol. des Gesichtss. S. 132" finde ich hingegen folgende Angabe: "Bei dem Adler und Geier soll die Netzhaut wie unter den Fischen bei der Gattung Zeus und bei den Meeräschen in den Meridianen einer Kugel gefaltet sein; und bei den Geiern soll die Netzhaut nach der Entwickelung dreimal größer sein, als in ihrer natürlich gestalteten Ausdehnung."

    Bei diesen Vögeln würde also die Netzhaut doch eine beträchtliche Größe haben; was nicht zu unserer Formel passen würde, insofern nicht diese Größe mit ihrem beträchtlichen Faserinhalte darauf berechnet wäre, den deutlich sehenden Teil sehr nervendicht mit Nervenenden zu machen.

    Jedenfalls sieht man, daß sich hier mancher Gesichtspunkt für interessante Untersuchungen anatomischerseits darbietet, zu welchen anzuregen nur der Zweck der vorigen Bemerkungen sein konnte.

    Unstreitig kommt es bei Ausführung dieser Theorie auch mit auf folgende Abwägung an: Große (vielzweigige) Empfindungskreise werden den Vorteil gewähren, intensive Empfindungen zu erzeugen, indem sich die Eindrücke darauf zu einer intensiven Empfindung summieren, aber den Nachteil, daß verschiedene einander juxtaponierte Eindrücke darauf verfließen, daß wegen verringerter Zahl derselben in gegebenem Raume die scheinbare Größe der Bilder sich verkleinert und die Größenschätzung unsicher wird, sofern nach dem, bezüglich der Volkmann’schen Konstante erörterten Prinzipe (Th. I, S. 230) eine Länge gleich groß erscheinen muß, mag sie mit ihren Enden auf die einander nächsten oder entferntesten Teile zweier Empfindungskreise fallen.