XXXI. Verallgemeinerung des Maßprinzips der Empfindung. 1)

    Die Maßformel, Unterschiedsformel und Unterschiedsmaßformel, welche uns zum Maße der Empfindung, Empfindungsunterschiede und empfundenen Unterschiede gedient haben, stützen sich auf das Weber’sche Gesetz und die Tatsache der Schwelle (Reizschwelle und Unterschiedsschwelle), und bleiben richtig, so lange dieses Gesetz und diese Tatsache richtig bleiben.

1) Psych. Maßprinzipien S. 179 ff.
 
 
    Inzwischen haben wir anerkennen müssen, daß das Weber’sche Gesetz, wenn auch wahrscheinlich von unbegrenzter Allgemeinheit und Gültigkeit in Beziehung auf die inneren psychophysischen Bewegungen, doch in seiner Beziehung auf den äußeren Reiz nur in den Grenzen mittlerer Erregbarkeit als gültig anzusehen ist und mancherlei Störungen und Komplikationen unterliegt, unter gewissen Verhältnissen sogar seine Gültigkeit ganz verliert.

    Aus diesem Gesichtspunkte ist die Behauptung und Verwertung einer schon früher gemachten Bemerkung wichtig, daß nur jene Formeln, aber nicht das Prinzip unseres Maßes ihre Gültigkeit auf die Gültigkeit des Weber’schen Gesetzes stützen, daß vielmehr nach demselben Prinzipe nur mittelst anderer Formeln eben so gut ein Maß der Empfindungen, Empfindungsunterschiede und empfundenen Unterschiede gewonnen werden kann, indem das Wesentliche, worauf sich unser Prinzip in seiner vollen Allgemeinheit stützt, nur die Möglichkeit ist, die Gleichheit kleiner Änderungen, Zuwüchse der Empfindung für gegebene Reizzuwüchse in verschiedenen Teilen der Reizskala zu konstatieren, wofür uns nicht nur eine, sondern drei gute Methoden zu Gebote stehen. Indem wir die ganze Empfindung aus konstanten Zuwüchsen dg von Null an, welche als Funktion zugehöriger Reizzuwüchse din den verschiedenen Teilen der Reizskala bestimmt sind, erwachsen denken, erhalten wir den Maßwert der ganzen Empfindung g durch Summation ihrer Zuwüchse von Null bis zum Werte g, welcher einem gegebenen Reize b entspricht, oder allgemeiner den Unterschied g - zweier Empfindungen g, g ', welche den Reizen b, b ' entsprechen, als Summe der in das zugehörige Intervall fallenden Zuwüchse. Des Näheren stellt sich dies so:

    Gesetzt, wir haben gefunden, daß derselbe nur eben merkliche Unterschied gespürt wird, wenn wir den Reiz, der allgemein b heiße, von der Größe b' an um db ', von der Größe b" um db " u. s. f. wachsen lassen, wobei db ', db " sehr kleine, nach der Stelle der Reizskala, in der die Beobachtung geschieht, d. i. nach der Größe von b veränderliche Reizzuwüchse bezeichnen; so setzen wir allgemein

F (b ) db = c

wo F eine zunächst unbekannte Funktion und c eine Konstante bedeutet, und bestimmen die Funktion F so, dass, wenn die zu einander gehörigen Werte b' und db ', b " und db " u. s. f. in F (b ) dsubstituiert werden, wirklich überall ein konstanter Wert c erhalten wird, auf dessen, von der Wahl willkürlicher Einheiten abhängigen, absoluten Wert nichts ankommt. Im Falle des W eber’schen Gesetzes wird der Gleichung genügt sein, wenn bein konstantes Verhältnis zu dbehält, mithin

zu setzen, d. i. F (b ) =  zu nehmen sein, wo K eine beliebige Konstante ist. Stünde bei wachsendem Reize b der Reizunterschied db , welcher nötig ist, einen gleich merklichen Unterschied zu geben, in umgekehrtem statt direktem Verhältnisse zu b, so würde F (b ) sein Kb . Entspräche in allen Teilen der Reizskala ein gleich großer Reizunterschied dder gleichen Merklichkeit, so würde F(b ) sich bloß auf K reduzieren. Diese drei beispielsweisen Fälle entsprechen also den drei Gleichungen:

                                                                                                            K b db = c
                                                                                                             K db = c.

Nun kann es aber auch der Fall sein, daß sich keine so einfache oder für die ganze Reizskala allgemein gültige Beziehung zwischen db und b zu einem konstanten Werte findet. Dann ist es doch immer möglich, mittelst einer der bekannten Interpolationsformeln F(b ) für jeden gegebenen Teil der Reizskala, für den man das Maß sucht, nach den in diesem Teile durch Beobachtung gefundenen zu einander gehörigen Werten b' und db ' b " und db " u. s. w. so zu bestimmen; daß der Bedingung

F(b) db gleich einer Konstante genügt wird.

    Was als konstanter Wert auf Seite der Empfindung beobachtet werden kann, ist, genau genommen, nicht ein wahrer Empfindungsunterschied, sondern empfundener Unterschied, wenn wir die seit dem 22. Kapitel eingeführte Unterscheidung von Empfindungsunterschieden im engeren Sinne und empfundenen Unterschieden festhalten. Insofern aber die Empfindungsunterschiede nur als der besondere Fall unter den empfundenen Unterschieden begriffen sind, daß die Empfindlichkeit eine vollkommene wäre, können wir bei denselben Werten von b und db , wo der empfundene Unterschied konstant ist, auch den zugehörigen Empfindungsunterschied als konstant ansehen, also die Gleichung F(b )db = c solidarisch für kleine Empfindungsunterschiede und empfundene Unterschiede bestehend halten, und dg als kleinen Empfindungsunterschied für c in vorigen Gleichungen substituieren. Diese Solidarität ist vielleicht nicht a priori ganz evident, ihre Voraussetzung aber das, was das Maß einerseits möglich macht, anderseits die erfahrungsmäßigen Resultate wiedergibt.

Hat man nun solchergestalt die Gleichung

                                        dg = F(b ) db mit der Bestimmung von F(b ), so wird man sie als Differenzialgleichung betrachten und als solche integrieren können; indem man unter dg einen sehr kleinen konstanten Empfindungsunterschied, unter db einen sehr kleinen mit b variablen Reizunterschied versteht. So erhält man den endlichen Unterschied zweier Empfindungen g, g ', die zwei Werten b, b ' zugehören, unter folgender Form

und die Empfindung g allein unter der Form

wenn b der Reizwert ist, bei welchem die Empfindung null wird, welcher Wert allgemein gesprochen null sein oder einen endlichen Wert haben könnte, wovon sich das Letztere nach Erfahrung gültig zeigt.

    Hiernach geben die drei, oben beispielsweise aufgestellten, Formeln folgendes Ergebnis:

, wobei k = 

g = k (b² - b²), wobei k = 

g = k (b - b), wobei k = K.

    Um von dem Empfindungsunterschiede zum empfundenen Unterschiede aufzusteigen, wird man dann denselben Gang einzuschlagen haben, welcher (Kap. 24) an der Funktionsform

erläutert worden ist, ohne daß dies weiterer Ausführung bedürfen wird.

    Man sieht aus Vorigem, daß das Weber’sche Gesetz in der Tat für das Prinzip des Empfindungsmaßes gar keine wesentliche Bedingung ist; nur die wichtigsten Anwendungen dieses Maßes werden sich immer auf dies Gesetz zu stützen und zu beziehen haben.

    Das Vorige in Rücksicht genommen, dürfte das Fundament unseres Maßes durch eine Wendung nach zwei Seiten in voller Allgemeinheit sicher gestellt sein. Wenn man uns einwendet, die auf Weber’s Gesetz gestützte Fundamentalformel, auf die wir unser Maß der Empfindung von vorn herein gründeten, treffe nicht überall streng, in manchen Fällen gar nicht zu, wenn wir sie auf den äußeren Reiz beziehen, so erwidern wir, daß sie doch in weiten Versuchsgrenzen und gerade in solchen, in denen sich die Empfindungen im Durchschnitte halten, zutrifft; und daß es unstreitig nur nötig sein würde, sie, statt auf Reize, auf die psychophysischen Bewegungen, die dadurch ausgelöst werden, zu beziehen, um sie stets genau zutreffend zu finden. Und wenn man uns einwirft, daß wir hierdurch in das Gebiet der Hypothese geraten, so erwidern wir, daß wir uns von aller Hypothese frei machen und alle Abweichungen vom Weber’schen Gesetze decken können, wenn wir, ohne uns an die Fundamentalformel zu binden, in jedem Falle besonders untersuchen, welchen Zuwüchsen des Reizes in jedem Teile der Reizskala ein konstanter Wert empfundenen Unterschiedes entspricht, und daß dann die Allgemeinheit unseres Maßprinzips ebenso bestehen bleibt.

    Einige Beispiele können dienen, dies noch bestimmter herauszustellen.

    Im Gebiete der Lichtempfindung hat die Gültigkeit des Weber’schen Gesetzes eine untere Grenze, welche wir darauf geschrieben haben, daß die Lichtempfindung nicht bloß vom äußeren Lichtreize b abhängt, sondern abgesehen davon schon die konstante Empfindung des Augenschwarz besteht, welche so angesehen werden kann; als wenn sie durch einen inneren Lichtreiz erzeugt würde, der das Äquivalent einer kleinen Größe äußeren Lichtreizes bildet. Ohne Rücksicht auf diese Vorstellungsweise und Behauptung des Weber’schen Gesetzes aber werden wir den Tatsachen entsprochen finden, wenn wir setzen

wo a eine konstante Größe bedeutet, die zum äußeren Lichtreize hinzuzufügen ist. Durch Integration dieses Wertes erhalten wir als Empfindungsunterschied

und bei so großen Werten von b, b ', daß a merklich dagegen verschwindet

    Ein anderes Beispiel:

    Ich habe Th. I. S. 205 angeführt, daß nach meinen Versuchen die Empfindlichkeit für Temperaturunterschiede gegen die Frostkälte hin in ohne Vergleich rascherem Verhältnisse abnimmt, als dem Weber’schen Gesetze entspricht, und daß man für niedere Temperaturen t in Reaumur’schen Graden den eben merklichen Temperaturunterschied D erhalte, wenn man (14,77 - t)3 mit 0,002734 multipliziert oder, was dasselbe, mit 365,7 dividiert. Die nach dieser Voraussetzung berechneten Werte sind (s. Kap. 32) in Zusammenstellung mit den beobachteten Werten gegeben.

    Nun bin ich keineswegs geneigt, die Formel

D = (14,77 - t)3. 0,002734

für mehr als eine, innerhalb gewisser Temperaturgrenzen und vielleicht für die besondere Individualität des Beobachters und der Versuche approximativ gültige empirische zu halten. Um so besser aber kann sie uns hier dienen, zu zeigen, daß wir in der Tat mit dem Prinzipe unseres Maßes nicht an irgend eine allgemeine gesetzliche Beziehung zwischen Reiz und Empfindung gebunden sind. Sie repräsentiert jedenfalls den Gang der Empfindung bezüglich der Temperatur bei meinen Versuchen.

    Der Wert D vertritt uns hier den Wert db und t den Wert b. Wir haben also, indem wir kurz setzen 14,77 = T

                                                                db = ( T - b )3 0,002734. Mithin

                                                                                            0,002734 = 

und, da 0,002734 konstant ist, allgemein

    Daß wir hier dg mit negativem Vorzeichen einführen, hängt davon ab, daß der Natur der Sache nach, je nachdem mit Wachstum von b die Empfindung wächst oder abnimmt, dg mit gleichem oder entgegengesetztem Vorzeichen als db einzuführen ist. Insofern wir es nun hier mit Kälteempfindungen zu tun haben, bei welchen Letzteres gilt, wird auch ein negatives dg einem positiven db zugehörig zu setzen sein. Integrieren wir nun vorige Gleichung von b= t' bis b = t, so erhalten wir den zugehörigen Empfindungsunterschied

    Man kann nun bemerken, daß, wenn man t oder t' = T nehmen wollte, g- g ' einen positiven oder negativen unendlichen Wert annehmen würde; was damit zusammenhängt, daß im Übergange zwischen den Empfindungen der Wärme und Kälte welcher unstreitig bei T anzunehmen ist, Diskontinuität der Funktion, welche ihr Maß gibt, eintreten muß. Außerdem reicht die empirische Gültigkeit der Formel nicht bis zum Werte von t = T. In den Grenzen aber, wo sie als gültig anzusehen, kann man mittelst derselben Aufgaben wie folgt lösen: Bei 5° ist die Kälteempfindung geringer als bei 0°, und der Unterschied beider Empfindungen hat eine gewisse Größe. Natürlich ist der Unterschied größer zwischen den Empfindungen bei 0° und 10°. Die Formel gibt das Verhältnis dieser beiden oder irgendwelcher anderer dergleichen Unterschiede. Hier ist eine Tabelle über die verhältnismäßige Größe dieser Unterschiede, reduziert auf den empfundenen Unterschied zwischen 0° und l° R. als Einheit.
 
 

Empfindungs-unterschiede

g- g '

zwischen den Temperaturen
1 0° und 1°
2,24 0 — 2
3,82 0 — 3
5,85 0 — 4
8,55 0 — 5
12,26 0 — 6
17,36 0 — 7
24,99 0 — 8
36,90 0 — 9
57,06 0 — 10

Hiernach ist z. B. der Unterschied der Temperaturempfindung von 0° bis 10° (= 57,06) zwischen 6 und 7maI so groß als zwischen 0° und 5° (wo er 8,55), und der Unterschied zwischen 5° und 10° (= 57,06 — 8,55) zum Unterschiede zwischen 0° und 5° wie 48,51 zu 8,55, oder über 5mal so groß. Nimmt man die Differenzen der aufeinanderfolgenden Werte von g - , so erhält man die Empfindungsunterschiede für die sukzessiven Temperaturintervalle von je 1° wie folgt:
 
 

Empfindungs-unterschiede

g- g '

zwischen den Temperaturen
1 0° und 1°
1,24 1 2
1,58 2 — 3
2,03 3 — 4
2,70 4 — 5
3,71 5 — 6
5,10 6 — 7
7,63 7 — 8
11,91 8 — 9
20,56 9 — 10

Also wird der Temperaturunterschied zwischen 9 und 10° R. über 20mal so stark empfunden als zwischen 0° und 1° R., vorausgesetzt, daß das Gesetz wirklich bis 0° gültig bleibt, obwohl es nicht ganz so weit durch Versuche verfolgt worden. Und somit verlangsamt sich die Zunahme der Kälteempfindung gegen den Frostpunkt hin außerordentlich.

    Dies ist übrigens schon aus der Versuchstabelle selbst einleuchtend. Denn wenn nach ihr bei 4°,6 R. eine Differenz von 2°,8 erfordert wird, um eben so merklich zu sein, als z. B. bei 9º,15 R eine Differenz 0,48 ist, so heißt dies, man muß bei 4º,6, um 2°,8 fortschreiten (die Temperatur 4°,6 in der Mitte des Schrittes liegend gedacht), um die Empfindung einer gleich großen Temperaturänderung zu erhalten, als wenn man bei 9°,15 um 0º,48 fortschreitet. Jedoch ist die Größe dieses nötigen Fortschrittes nicht als Maß der Empfindung der Temperaturänderung anzusehen, da keine einfache Proportionalität damit stattfindet, sondern nur eine, durch obige Formel ausgedrückte, funktionelle Beziehung dazu.

    Volkmann hat sich durch Versuche überzeugt, daß die Empfindlichkeit der Haut für Distanzen durch Kälte sehr geschwächt wird. Nun ist interessant zu sehen, daß Kälte so zu sagen auch die Empfindlichkeit für sich selbst schwächt.