XXVI. Die höheren Unterschiedsmaßformeln.1)

    Die einfache Unterschiedsmaßformel ließ eine Verallgemeinerung in doppeltem Sinne zu, einmal sofern wir, statt auf einfache Unterschiede, auf Unterschiede zwischen Unterschieden Rücksicht nahmen, zweitens, sofern wir, statt die Schwellenwerte für die verschieden angebrachten Reize als gleich anzunehmen, eine mögliche Verschiedenheit derselben, bei welcher ein Größenwechsel der Reize einen Einfluß auf das Resultat gewinnt, berücksichtigten. Die Unterschiedsmaßformel läßt eine entsprechende Verallgemeinerung in doppeltem Sinne zu, indem sie sich ebenfalls einmal von einfachen Unterschieden auf Unterschiede zwischen Unterschieden, zweitens von dem Falle, wo der Größenwechsel der Reize das Resultat nicht ändert, auf den Fall, wo er dasselbe ändert, ausdehnen läßt. Die Verallgemeinerung im ersten Sinne wird in diesem Kapitel, die Verallgemeinerung im zweiten Sinne im folgenden Kapitel behandelt werden.

1) Revision S. 186.
 
    Wenn eine bewusste Empfindung g nur nach Maßgabe stattfinden kann, als der zugehörige Reiz b (oder die von ihm repräsentierte innere psychophysische Tätigkeit) eine gewisse endliche Größe b übersteigt, und ein empfundener Unterschied g - g' = u1 nur nach Maßgabe als das zugehörige Reizverhältnis  eine gewisse endliche Größe v1 übersteigt, wobei wir die Buchstaben u, j,v mit einem Index wegen der Beziehung zum Folgenden bezeichnen, so ist vorauszusetzen und bestätigt sich durch Erfahrung, daß auch ein Unterschied zwischen zwei Empfindungsunterschieden u - u' = u2 nur nach Maßgabe empfunden werden, als besonderer in das Bewußtsein treten kann, als das zugehörige höhere Reizverhältnis , d. i. Verhältnis zwischen zwei Verhältnissen  eine gewisse endliche Größe v2 übersteigt, u. s. f., so daß wir, unter beliebig weiter Fortsetzung dieser Steigerung haben

                u. s. w.

Hiervon entspricht die Formel für u1 der einfachen Unterschiedsmaßformel; die anderen, welche wir höhere Unterschiedsmaßformeln nennen können, lassen sich in analoger Weise als diese ableiten. Beschränken wir uns hier, nur die empfundenen Unterschiede zweiter Ordnung u2 des Näheren in Betracht zu ziehen.

    Ihre Inbetrachtnahme ist nicht müßig, weil sie wirklich in Betracht kommen. Die Erkenntnis der Unreinheit eines Tonintervalls ist vielleicht der einfachste und zur einfachen Erläuterung geeignetste Fall eines empfundenen Unterschiedes u2. In der Tat ist die empfundene Unreinheit eines Tonintervalls nichts anderes als der empfundene Unterschied zwischen zwei Intervallen, dem reinen und dem unreinen; jedes dieser Intervalle aber als empfundenes der empfundene Unterschied zwischen zwei absoluten Tonhöhen. Soll nun die Unreinheit wirklich empfunden werden, so muß der Unterschied zwischen dem reinen und unreinen Intervalle eine gewisse Größe übersteigen. Außerdem ist selbstverständlich, daß, um einen Unterschied zwischen Unterschieden zu empfinden, wir diese Unterschiede selbst empfinden müssen; dazu aber gehört, daß sie ihrerseits eine gewisse Größe übersteigen müssen; aber endlich auch die Höhe jedes Tones für sich muß eine gewisse Größe übersteigen, soll er als Ton empfunden werden, und mithin die Empfindung eines Unterschiedes dafür möglich sein, so daß also das Zustandekommen eines Bewußtseinsphänomens höherer Ordnung mit dem Übersteigen der höheren Schwelle das Übersteigen jeder niederen voraussetzt.

    Nicht bloß die Empfindung der Unreinheit eines Tonintervalls, auch der musikalische Eindruck, den die Folge der reinen Intervalle in der Melodie und noch mehr ihrer Komplexe in der Harmonie macht, ist Sache empfundener Unterschiede höherer Ordnung, und zwar spielen hierbei Unterschiede viel höherer als der zweiten Ordnung eine Rolle mit.

    Nicht minder hat man bezüglich der Stärke der Empfindung empfundenen Unterschieden höherer Ordnung eine Bedeutung beizulegen. Der Eindruck des crescendo und decrescendo, des vervielfältigten Wechsels zwischen dem piano und forte der Musik beruht hierauf und unterstützt den Eindruck der Melodie und Harmonie, wenn schon er für sich aus unbekanntem Grunde keines entsprechenden ästhetischen Eindruckes, als Melodie und Harmonie für sich, fähig ist. Das Gebiet der Lichtempfindung gewährt uns andere Beispiele. Wenn wir drei Sterne b, b ', b " von verschiedener Helligkeit oder sog. Größe haben, so kann man fragen, ob der Unterschied z. B. zwischen b und b' größer sei, als der Unterschied zwischen b' und b ‘‘, oder, bei 4 Sternen, ob der Unterschied zwischen b und b' größer sei, als zwischen b" und b"'. Um sich zu entscheiden, wird der Unterschied zwischen den Unterschieden, die man vergleicht, wieder eine gewisse Größe übersteigen müssen, die sogar bei Sternintensitäten, wir wissen wieder nicht warum, verhältnismäßig viel größer sein muß, als bei Tonhöhen; doch fordert die astronomische Schätzung von Sterngrößendifferenzen solche Vergleiche.

    Ziehen wir nun die, für die empfundenen Unterschiede zweiter Ordnung gültige, Unterschiedsmaßformel zweiter Ordnung

näher in Betracht, indem wir dabei den allgemeinsten Fall zu Grunde legen, daß wir 4 Reize, Tonhöhen, Sterngrößen oder was es sei, haben, b, b ', b ", b '"; daß zwischen den beiden Unterschieden von b zu b' und von b" zu b"' der Unterschied aufgefaßt werden soll, daß b > b' und b" > b'" sei, so werden wir uns das Zustandekommen dieser Formel des Näheren so erläutern können.

Der empfundene Unterschied erster Ordnung zwischen b und b' sei

Der empfundene Unterschied gleicher Ordnung zwischen b" und b"' werde in Betracht der gleichen Ordnung auch durch ein Strichelchen unten bezeichnet, in Betracht der anderen Reize aber, zwischen denen er besteht, durch ein Strichelchen oben vom vorigen unterschieden, und sei mithin

So wird zuvörderst der in der Empfindung aufgehende Unterschied zwischen beiden empfundenen Unterschieden die einfache Differenz beider sein, d. i.

In der Tat kann ein Unterschied zwischen empfundenen Unterschieden eben so gut empfunden als nicht empfunden sein, letzteres z. B. wenn die beiden empfundenen Unterschiede sich in zwei verschiedenen Menschen finden, oder zwischen ihnen in demselben Menschen eine zu lange Zwischenzeit besteht, oder sie zu wenig differieren. Soll nun der Empfindungsunterschied

zum empfundenen Unterschiede werden, so muß der Wert des Reizverhältnisses zweiter Ordnung eine gewisse Größe erreichen, die wir V nennen wollen, bei welcher der Nullwert des empfundenen Unterschiedes zweiter Ordnung eintritt, was für den Ausdruck des empfundenen Unterschiedes u2 gibt

Indem wir aber für  den einzigen Buchstaben j2 und für  setzen , erhalten wir

    Diese Formel führt zu einer Verallgemeinerung des Weber’schen Gesetzes in einer seiner Ausdrucksweisen. Nach dem Weber’schen Gesetze wird ein Unterschied zwischen zwei Reizen als gleich groß empfunden, wenn das Verhältnis zwischen den Reizen, die den Unterschied geben, gleich groß ist. Nach voriger Formel wird ein Unterschied zwischen zwei Reizunterschieden als gleich groß empfunden, wenn das Verhältnis zwischen den zugehörigen Reizverhältnissen gleich groß ist. Denn j1 und 1, welche den Quotienten j2 bilden, stellen ja die Reizverhältnisse  dar. Man darf aber nicht übersehen, daß die Gültigkeit des Weber’schen Gesetzes wie dieser Verallgemeinerung an eine Bedingung gebunden ist. Das Weber’sche Gesetz setzt eine Konstanz der Schwelle v1, wie die jetzige Verallgemeinerung desselben eine Konstanz der Schwelle v2 voraus.

    Das Gebiet der Musik bietet uns im Zusammenhange einen bemerkenswerten Beleg eben so für die Gültigkeit dieser Verallgemeinerung des Weber’schen Gesetzes, als für eine, auf der Variation von v2 beruhende, Abweichung von der Gültigkeit dar, welche ihre gemeinsame Repräsentation in unserer Unterschiedsmaßformel zweiter Ordnung finden.

    In der Tat, die Unreinheit eines Tonintervalls wird in verschiedenen Oktaven gleich leicht erkannt; dies entspricht unserer Verallgemeinerung, sofern zur Auffassung der Unreinheit gehört, daß der Unterschied zweier Tonintervalle, wozu zwei verschiedene Schwingungsverhältnisse gehören, erkannt werde. Sei das reine Schwingungsverhältnis n, das unreine v, so wird die Unreinheit erkannt werden, wenn  den Wert v2 erlangt; aber eben so auch, wenn  den Wert v2 erlangt; es kommt also auf die absolute Größe von 2v und 2n nicht dabei an, indem v2 davon nicht abhängt.

    Hingegen wird die Abweichung einer Quinte von der Reinheit verhältnismäßig leichter als die irgend eines anderen Intervalls derselben Oktave erkannt, und bestehen überhaupt in dieser Hinsicht Unterschiede zwischen den verschiedenen Intervallen (vgl. Th. I. S. 261). Dies entspricht einer Abweichung von der Verallgemeinerung des Weber’schen Gesetzes und beweist, daß, indes die Konstanz von v2 für die gleichen Intervalle verschiedener Oktaven stattfindet, diese Konstanz nicht für die verschiedenen Intervalle derselben Oktave besteht, wie denn hierzu keine aprioristische Notwendigkeit vorliegt.

    Substituieren wir in unsere Unterschiedsmaßformel zweiter Ordnung für j1 und 1 ihre Werte, so haben wir

und setzen wir hierin b' = b", welches dem Falle entspricht, daß wir die 4 Reize auf drei in der Ordnung b, b ' b "' reduzieren, und den Unterschied von b zu b' mit dem von b' zu b'" vergleichen, so haben wir, indem wir statt b'" nun b" einführen:

welches zeigt, daß der empfundene Unterschied zwischen zwei solchen Unterschieden auf die Schwelle tritt, wenn der Quotient aus dem Quadrate des mittleren Reizes in das Produkt der äußeren Reize einen gewissen Wert v2 erlangt.

Man kann aus unseren höheren Formeln folgern, was die Erfahrung bestätigt, daß das Bewußtsein eine um so größere Intensität erlangen muß, je höherer Ordnung die Unterschiede sind, die von demselben gefaßt werden sollen, so daß z. B. ein Unterschied zweiter Ordnung nur mit einer Intensität ins Bewußtsein treten kann, welche diejenige erreicht oder übersteigt, die einer einfachen Empfindung beim Werte b = bv1 v2 zugehört. Denn man darf nicht meinen, dass der empfundene Unterschied u2, indem er beim Werte j2 = v2 auf die Schwelle tritt, stets mit einem Nullwerte des Bewußtseins überhaupt auf die Schwelle tritt, sondern nur mit einem Nullwerte des Bewußtseins zweiter Ordnung auf die Schwelle zweiter Ordnung, wogegen das Bewußtsein der Unterschiede u1, u1' wo zwischen er besteht, gleichviel ob der höhere Unterschied dazwischen empfunden wird oder nicht, die Schwelle bei v1 schon überschritten haben kann. Dieses Überschreiten oder mindestens Erreichen, so wie das der Reizschwelle b ist, wie schon oben erörtert, in jedem Falle die Voraussetzung des Bewußtseins der höheren Ordnung u2. Es läßt sich aber wie folgt zeigen, daß in der Tat hierzu ein entsprechender Bewußtseinsgrad gehört, als wenn ein einfacher Reiz oder die entsprechende psychophysische Tätigkeit den Wert bv1 v2, erreicht.

Drücken wir die Formel für u2 wie folgt aus

Damit u2 bewußt empfunden, mithin die Schwelle zweiter Stufe überstiegen werde, muß die Größe unter dem Logarithmuszeichen größer als 1 sein, mithin

Es ist aber auch nötig, daß die Unterschiede erster Stufe beide bewußt empfunden werden, mithin nicht nur , sondern auch  sei, wenn mit v1 gemeinsam die zugehörige Schwelle bezeichnet wird, was für die vorige Ungleichung gibt

und mithin

                                                                                                              b > v1v2 b'

Endlich muß aber auch jeder der Reize b, b ' die Schwelle b überstiegen haben, was für die vorige Ungleichung gibt

                            b  > bv1 v2     Eben so wie die Unterschiedsmaßformel erster Stufe eine Maßformel für das Vollbewußtsein einer einfachen Empfindung erster Stufe als besonderen Fall einschließt, können wir auch aus der Unterschiedsmaßformel zweiter Stufe eine Maßformel für ein einfaches Vollbewußtsein zweiter Stufe ableiten; und wie das erste dadurch charakterisiert ist, daß wir die Empfindung nicht bloß haben, sondern uns auch bewußt werden können, daß wir sie gehabt haben, wird das zweite dadurch charakterisiert sein, daß wir uns bewußt werden können, wir haben dieses Bewußtsein gehabt. Wir erhalten diese Formel, indem wir zuvörderst den empfundenen Unterschied u2 als Unterschied zwischen einem bewußten Unterschiede u1 und einem Nullunterschiede betrachten, der beim Werte des Reizverhältnisses eintritt; was gibt

indem wir zweitens den Unterschied u1 als Unterschied betrachten zwischen einer bewußten Empfindung und einer Nullempfindung, welche dem Reize b' = b¢ zugehört, wodurch wir erhalten

wonach man in Übereinstimmung mit dem, was wir vorhin fanden, sieht, daß eine einfache Empfindung, um auf gleiche Stufe, als ein empfundener Unterschied zu steigen, das Produkt aller Schwellen bis zu dieser Stufe inclus. übersteigen muß.