XXII. Unterscheidung von Empfindungsunterschieden und Kontrastempfindungen.1)

 
 
    Außer der Summe der Empfindungen, welche in Abhängigkeit von der Summe und Verteilungsweise des Reizes über verschiedene Zeit- oder Raumpunkte statt hat, gilt es auch, den Unterschied der Empfindungen nach seiner Abhängigkeit von der Verschiedenheit der Reizung an diesen Punkten in Betracht zu ziehen. Aber ehe wir die darauf bezüglichen Formeln aufstellen, wird es nötig sein, eine Unterscheidung zu machen, die bisher nicht besonders hervorgehoben worden ist, und die doch wichtig ist.

        1) In Sachen S. 9. Revision S. 183. 330. Psych. Maßprinzipien S. 188.
 

    Eine Empfindung kann sich recht wohl von einer anderen unterscheiden, ohne daß der Unterschied deshalb als Unterschied empfunden wird, ins Bewußtsein tritt. Dies leuchtet unmittelbar bei Empfindungen ein, die in verschiedenen Individuen bestehen. So groß der Unterschied derselben sein mag, er kann doch nicht empfunden werden, sondern die eine Empfindung wird empfunden, die andere wird empfunden, aber der Unterschied derselben wird nicht empfunden, da dazu gehörte, daß die eine mit der anderen in dasselbe Bewußtsein fällt. Nicht minder leuchtet es ein bei Unterschieden von Empfindungen desselben Individuums, die in der Zeit so weit aus einander liegen, daß die eine vergessen ist wenn die andere eintritt. Zwar ist hier ein gemeinsames Bewußtsein für beide da, aber indem keine Erinnerung von einer zur anderen hinüberreicht, fehlt offenbar ein Band im Bewußtsein, was zur Auffassung eines Unterschiedes derselben wesentlich ist. Und so kann ihr Unterschied eben so wie in zwei verschiedenen Individuen bestehen, und kann doch auch nicht als Unterschied empfunden werden.

    Zwei verschiedene Empfindungen werden überhaupt stets entweder auf der Erregung verschiedener Teile eines empfindenden Organs, wie des Auges, der Haut, beruhen, insofern verschiedenen Räumen zugehören, oder werden sukzessiv in verschiedenen Zeiten erregt sein, insofern verschiedenen Zeiten angehören, oder endlich sie werden verschiedenen Räumen und Zeiten zugleich angehören, und die Raum- und Zeitverhältnisse ihrer Erregung werden allwegs einen Einfluß äußern, ob und wie der Unterschied empfunden wird, indes der wirkliche Unterschied der Empfindungen bloß von ihrer wirklichen Größe, aber gar nicht von den äußeren Verhältnissen ihrer Erregungsweise abhängt. So gilt allgemein, daß der Unterschied simultan mit verschiedenen Organen oder verschiedenen Teilen eines Organs aufgefaßter Komponenten minder leicht merklich ist, als sukzessiv mit denselben Teilen aufgefaßter, wenn die Zwischenzeit nicht zu groß ist, und das allgemeine Vorkommen und die Abänderung konstanter Fehler je nach Abänderung der Raum- und Zeitlage der Komponenten läßt uns überall den großen Einfluß dieser Verhältnisse auf die Weise, wie Unterschiede empfunden werden, anerkennen.

    Also müssen wir die Möglichkeit und das Dasein verschiedener Empfindungen zugestehen, deren Unterschied doch nicht in das Bewußtsein fällt, und dürfen die Empfindung eines Unterschiedes nicht ohne Weiteres mit dem Unterschiede von Empfindungen identifizieren, wenn schon, unter sonst gleichen Umständen, ein stärkerer Unterschied zwischen Empfindungen auch eine stärkere Empfindung des Unterschiedes mitführt, so daß unter Umständen beide einer gemeinsamen Betrachtung unterliegen können. Im Allgemeinen aber ist der Unterschied festzuhalten zwischen Unterschieden, welche zwischen Empfindungen bestehen, ohne als Unterschiede aufgefaßt zu werden, und solchen, welche wirklich als Unterschiede ins Bewußtsein treten. Beide sollen, wo es ihre Unterscheidung gilt, als Empfindungsunterschiede schlechthin oder im engeren Sinne und als empfundene Unterschiede oder Empfindungen von Unterschieden bezeichnet werden; auch werden wir für letztere den Ausdruck Kontrastempfindungen brauchen können, da das, was man Kontrast nennt, wesentlich mit einem, der Empfindung unterliegenden, Unterschiede von Eindrücken, Reizen zusammenfällt. Doch wird Vorstehendes nicht hindern, da, wo es nicht sowohl auf eine Gegeneinanderstellung von Empfindungsunterschieden im eben angegebenen engeren Sinne und empfundenen Unterschieden als vielmehr auf eine gemeinsame Betrachtung derselben ankommt, wie bisher den Namen Empfindungsunterschiede im weiteren Sinne als den gemeineren für beide zu gebrauchen, indem sich kaum eine andere gemeinsame Bezeichnung für beide finden lassen dürfte und der Zusammenhang doch nicht leicht eine Zweideutigkeit über den Sinn des Gebrauches lassen dürfte.

    Mit voriger Unterscheidung löst sich folgender scheinbare Widerspruch.

    Lassen wir einen Ton oder ein Licht oberhalb der Schwelle an Stärke immer mehr wachsen, so spüren wir das kontinuierliche Anwachsen durch alle Zwischenwerte vom niederen zum höheren Werte, und jeder kleinste Zuwachs des Reizes bewirkt notwendig einen Zuwachs der Empfindung, da nur so die Empfindung vom niederen zum höheren Werte aufsteigen kann. Also wird jeder kleinste Reizzuwachs oder Reizunterschied in einem entsprechenden Empfindungszuwachse, Empfindungsunterschiede gespürt. Von anderer Seite aber hat uns die Tatsache der Unterschiedsschwelle bewiesen, daß nicht jeder kleinste Reizzuwachs, Reizunterschied oberhalb der Schwelle gespürt wird, sondern daß es einer gewissen Größe desselben bedarf, sonst ist er unmerklich. Ein zu kleiner Licht-, Gewichtsunterschied wird nicht gespürt. Die ganze Methode der eben merklichen Unterschiede beruht hierauf.

    Hier scheinen sich zwei Tatsachen direkt zu widersprechen. Nach der ersten wird jeder kleinste Reizunterschied oberhalb der Schwelle gespürt, nach der zweiten wird er nicht gespürt, sondern bedarf erst einer gewissen endlichen Größe. Aber Tatsachen können sich nicht in Wahrheit widersprechen, sondern der Widerspruch kann nur in unserer Auffassung ruhen, indem wir identifizieren, was nicht identisch ist, und so löst sich denn jener scheinbare Widerspruch einfach dadurch, daß wir beachten, es handelt sich einesfalls um einen bloßen Empfindungsunterschied, zweitenfalls um einen empfundenen Unterschied; die Unterschiedsschwelle aber ist bloß eine Sache des letzteren.

    In der Tat, wenn der Ton oder das Licht kontinuierlich wächst, wächst zwar die Empfindung mit, und wir vermögen uns wohl der gewachsenen Empfindung, nicht aber des Wachstums als eines solchen besonders bewußt zu werden, der Unterschied geht, wie wir uns ausdrücken mögen, in der Empfindung ununterscheidbar auf, bis das Wachstum eine gewisse Größe erreicht oder überschreitet; dann können wir uns auch noch besonders bewußt werden, daß die spätere Empfindung größer als die frühere ist, und nach dem Kontinuitätsprinzipe den Schluß ziehen, daß sie auch bis dahin durch alle Zwischengrade gewachsen sein mußte, ohne daß wir doch das Wachstum durch die kleinsten Differenzen mit besonderen Empfindungen verfolgen konnten.

    Hiernach können wir auch die Empfindungsunterschiede im engeren Sinne, sofern sie zwischen und mit den Empfindungen bestehen, ohne doch als Unterschiede empfunden zu werden, und die wirklich als solche empfundenen Unterschiede als in der Empfindung aufgehende und besonders aufgefaßte Empfindungsunterschiede unterscheiden.

    Man kann bemerken, daß in dem Falle, wo jeder kleinste Unterschied zwischen zwei Empfindungen wirklich empfunden würde, die Unterscheidung zwischen Empfindungsunterschieden und empfundenen Unterschieden müßig sein, vielmehr der empfundene Unterschied mit dem Empfindungsunterschiede zusammenfallen würde. Nun kann man sich unter allen möglichen Weisen, wie ein Unterschied empfunden werden kann, auch den Fall als Grenzfall denken, daß wirklich schon der kleinste Unterschied, der besteht, auch empfunden würde, welches den größtmöglichen Grad der Unterschiedsempfindlichkeit bezeichnen würde. Insofern kann ein Empfindungsunterschied stets mit einem solchen Grenzfalle identifiziert werden, und Gesetze und Verhältnisse bezüglich der Abhängigkeit der Empfindungswerte von den Verhältnissen der Reize, welche für jeden Grad der Empfindlichkeit gleich gültig bleiben, auch wenn sie nur an empfundenen Unterschieden konstatiert werden konnten, doch eine Übertragung auf Empfindungsunterschiede gestatten, da wir uns die Empfindlichkeit bloß bis zu ihrer Grenze gesteigert zu denken hätten, um die Größe des empfundenen Unterschiedes mit der des Empfindungsunterschiedes zusammenfallen zu sehen. So hat das Weber’sche Gesetz nur an empfundenen Unterschieden bewährt werden können; aber dies hindert nicht, es auch für Empfindungsunterschiede im engeren Sinne triftig zu halten, und unter Zuziehung des mathematischen Hilfsprinzips die Fundamentalformel für kleine Empfindungsunterschiede daraus abzuleiten, welche dann weiter zur Maßformel und zu der im folgenden Kapitel zu betrachtenden Unterschiedsformel führt.

    Die Auffassung eines Unterschiedes von Empfindungen ist ein besonderer Bewußtseinsakt, der, wie wir gesehen, in und mit dem Dasein der Empfindungen nicht von selbst gegeben ist, sondern noch besondere Bedingungen zum Zustandekommen fordert. Wir können ihn einen höheren Bewußtseinsakt als die einfache Auffassung einer Empfindung nennen, sofern er einen Vergleich zwischen einer Mehrheit von Empfindungen, also das Bewußtsein einer Beziehung zwischen denselben, voraussetzt.

    Der Begriff der geistigen Höhe tritt hier zum erstenmale nach dem von uns eingeschlagenen Gange auf, und dieses erste Auftreten ist wie jeder Anfang zu beachten. Wir verstehen diesen Begriff fortan allgemein so, daß, wenn A die bewußte Beziehung oder Verknüpfung zwischen den Phänomenen a und b konkret einschließt oder abstrakt ist, A höher als a und b genannt wird. Wonach unsere ganze Seele, welche die bewußte Beziehung aller ihrer Phänomene einschließt, das konkret Höchste, die Bewußtseinseinheit in uns das abstrakt Höchste, eine einfache Empfindung überhaupt das Niedrigste ist, was es in uns gibt. In der Tat haben wir den Unterschied zwischen der abstrakten und konkreten Fassung der Höhe überall zu machen, je nachdem wir die Beziehung abstrakt oder das Bezogene mit denken. So können wir auch beim empfundenen Unterschiede die Empfindung des Unterschiedes abstrakt oder die unterschiedenen Empfindungen mit denken.

    Auf eine Auseinandersetzung des ganzen Stufenbaues geistiger Höhe im Menschen ist es jetzt nicht abgesehen, sondern der erste Schritt dieser Leiter und die Richtung des Aufsteigens hat uns zunächst erst zu beschäftigen.

    Insofern sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, daß ein empfundener Unterschied des Maßes nicht minder fähig ist, als die Empfindungen selbst, zwischen denen er besteht, daß beide Maße getrennt und verbunden werden können; und daß nicht minder auch die Unterschiede zwischen Empfindungsunterschieden empfunden werden können, und diese höheren Empfindungen prinzipiell meßbar sind, ist direkt dargetan, daß das höhere Geistige, abstrakt wie konkret, dem Maße nicht minder zugänglich ist, als das niedere, und daß es auch an einem Prinzip hierbei, vom Niederen zum Höheren aufzusteigen, nicht fehlt.

    Vertiefen wir die bisherigen Betrachtungen, so werden wir finden, daß die Unterscheidung, die wir zwischen zwei Arten Empfindungsunterschieden zu machen fanden, sich auch auf die Empfindungen selbst erstreckt, sofern jede Empfindung, auch als Empfindungsunterschied von Null und umgekehrt betrachtet werden kann. In der Tat begegnen wir bei den Empfindungen einer scheinbaren Antinomie derselben Art, als bei den Empfindungsunterschieden, die sich auch auf dieselbe Art lösen läßt.

    So wie ein Reiz sich über die Schwelle hebt, tritt nach unserer Maßformel Empfindung ein, und wenn er sich noch so wenig über die Schwelle hebt. Aber sich dieser Empfindung in solcher Weise bewußt werden, daß man sie mit anderen, die wir zu einer anderen Zeit haben, oder die in anderen Organteilen erregt sind, vergleichen und danach von anderen unterscheiden kann, das kann man erst, wenn sie eine gewisse Stärke erreicht hat. Bis dahin mögen wir sie eine in niederem Sinne bewußte, der Kürze halber halbbewußte nennen, darüber hinaus eine höher bewußte, kurz vollbewußte.

    Es gibt einen charakteristischen Unterschied zwischen beiden Graden des Bewußtseins. An halbbewußte Empfindungen vermag man sich nicht zu erinnern, an vollbewußte vermag man es. Dieser Unterschied knüpft sich an den Wesensunterschied beider. Um eine Empfindung von einer anderen unterscheiden zu können, muß man sie in Erinnerung über dieselbe superponieren oder mit derselben zusammenhalten können. Die Schwelle des Vollbewußtseins liegt also da, wo die Möglichkeit der Erinnerung erwacht, und hat mithin eine angebbare und sehr wichtige Bedeutung. Unzählige Empfindungen mögen wir als halbbewußte haben, ohne daß wir uns ihrer erinnern können.

    Was von Empfindungen gilt, läßt sich auf das ganze Bewußtsein übertragen. Der Moment, wo der Mensch früh Morgens erwacht, ist nicht zugleich der, wo er sich seines Wachens bewußt wird oder bewußt werden kann, sondern dazu muß erst das Wachsein bis zu gewissem Grade gediehen sein oder ein Erweckungsmittel eine gewisse Stärke erreichen. Umgekehrt, wenn jemand einschläft, erlöscht das höhere Bewußtsein, was er von seinem Bewußtsein hat, etwas vor dem vollen Einschlafen. Kein Mensch kann sich je des Momentes erinnern, wo er eingeschlafen und wo er erwacht ist. In der Tat, man greift wohl, um Schlaf zu erlangen, zum Mittel des Zählens. Schläft man dann wirklich ein, so wird man sich nie erinnern können, welches die letzten Zahlen waren, die man noch gezählt hat, ehe man eingeschlafen ist.

    In einer größeren Dauer scheint der halbbewußte Zustand bei Trunkenheit und Chloroformierung vorzukommen; da sich Trunkene nach vergangenem Rausche oft absolut nicht dessen erinnern können, was während der Trunkenheit mit ihnen vorgegangen ist und sie selbst vorgenommen haben; und da manche Chloroformierte während der Operation über Schmerzen schreien, von denen sie nachher nichts mehr wissen.

    Unstreitig kommt es, damit ein Empfindungsunterschied empfunden; eine Empfindung vollbewußt werden, ja, daß sie überhaupt bewußt werden könne, nicht bloß auf die Größenverhältnisse des Reizes, sondern auch den Grad der Aufmerksamkeit an; aber wir setzen hier, wie früher stets, einen gleichen Grad der Spannung der Aufmerksamkeit, so weit sie von Willkür abhängt, voraus, um bloß das, was von der Größe der Reize abhängt, in Betracht zu ziehen; da von der Repräsentation der Aufmerksamkeit erst in der inneren Psychophysik die Rede sein kann.

    Man kann es auffallend finden und könnte es vielleicht a priori unmöglich finden, daß Kontrastempfindungen, Empfindungen von Unterschieden eben so gut zwischen sukzessiven als simultanen Eindrücken entstehen können, oder selbst zwischen ersteren noch deutlicher ausfallen können , als zwischen letzteren; denn wie kann ein Vergangenes noch sein Verhältnis zu einem Gegenwärtigen geltend machen? Nun haben wir nicht nötig, uns für jetzt hierüber in Spekulationen einzulassen, da unsere Formeln nur auf der Tatsache fußen und auf die Tatsache gehen, und diese jedenfalls besteht. Inzwischen kann darauf hingewiesen werden, daß der vergangene Eindruck unstreitig noch in Nachwirkungen gegenwärtig fortbesteht, die zu den neuen Eindrücken in Beziehung treten, und es ist sehr wohl denkbar, daß sukzessiv auf denselben Organteil gemachte Eindrücke unter sonst gleichen Umständen deshalb leichter unterschieden werden, als simultan auf verschiedene Organteile gemachte, weil die sich zeitlich sukzedierenden Eindrücke auch räumlich sich sukzedierende und mithin sich nicht mischende Nachwirkungen hinterlassen, wogegen von simultanen Eindrücken Wirkungen abhängig sind, die ineinander greifen. Doch soll dies hier bloß als eine beiläufige Hypothese aufgestellt werden.