XV. Ein mathematisches Hilfsprinzip.

    Bei unserer Ableitung der psychischen Maßfunktion aus dem Weber’schen Gesetze wird uns ein mathematisches Hilfsprinzip von Nutzen sein, was ich vor seinem allgemeinen Ausspruche zuerst an einigen Beispielen erläutern will 1).

    Logarithmen und zugehörige Zahlen schreiten einander nicht proportional vor. Wenn man aber die Differenz zweier einander nahen Zahlen und die Differenz der zugehörigen Logarithmen nimmt, so besteht merkliche Proportionalität zwischen den zu einander gehörigen Teilen der Differenz oder kleinen Zuwüchsen der einen Zahl und des zugehörigen Logarithmus, worauf bekanntlich das Interpolationsverfahren durch Hilfe der in den Logarithmentafeln beigefügten Differenzen beruht.

    Eine Kurve schreitet im Allgemeinen ihrer Länge nach nicht proportional mit der Abszisse vor. Nimmt man aber einen so kleinen Teil der Kurve, daß er merklich mit einer Geraden übereinstimmt, so besteht für diesen kleinen Teil merkliche Proportionalität zwischen den zu einander gehörigen Zuwüchsen der Abszisse und der Länge der Kurve.

    Die Bewegung der Erde um die Sonne ist nicht gleichförmig, sondern in der Sonnennähe werden in derselben Zeit größere Räume zurückgelegt, als in der Sonnenferne; kurz, der Fortschritt der Zeit und der zugehörige Fortschritt der Erde im Raume gehen einander im Ganzen nicht proportional. Aber in einem drittel und halben Tage wird merklich das Drittel und die Hälfte des Raumes zurückgelegt, der in einem ganzen Tage zurückgelegt wird. Es ist nur dieses Drittel, diese Hälfte eben so wie der ganze an einem Tage durchlaufene Raum in der Sonnennähe größer als in der Sonnenferne.

1) Man findet dasselbe u. a. in Cournot’s Traitê des fonctions (I. p. 19) erläutert und mit besonderem Gewichte hervorgehoben.
 
 
    Das Licht erleuchtet eine Fläche in dem doppelten Abstande bloß mit ¼ der Intensität, als im einfachen Abstande. Also die Stärke der Beleuchtung nimmt im Ganzen nicht im einfachen, sondern im quadratischen Verhältnisse des Abstandes des Lichtes von der beleuchteten Fläche ab. Faßt man aber nur eine kleine Verrückung des Lichtes ins Auge, so wird die Änderung der Beleuchtung zur Änderung des Abstandes nicht im quadratischen, sondern einfachen Verhältnisse stehen, das quadratische Verhältnis aber sich wieder insofern geltend machen, als bei doppeltem Lichtabstande die Beleuchtungsänderung für eine gegebene kleine Lichtverrückung weniger beträgt, als bei einfachem Lichtabstande.

    Allgemein endlich: die beziehungsweisen Änderungen, Zuwüchse zweier von einander abhängiger kontinuierlicher Größen, von einem konstanten Ausgangswerte an oder innerhalb irgend eines Teiles der Größen verfolgt, gehen einander merklich proportional, so lange sie sehr klein bleiben, wie auch das Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Größen beschaffen sein mag, und wie sehr der beziehungsweise Gang der Größen im Ganzen und nach größeren Teilen von dem Gesetze der Proportionalität abweichen mag.

    Dabei hat man nicht außer Acht zu lassen, daß, während die zu einander gehörigen Änderungen zweier Größen, von einem gegebenen Ausgangswerte an verfolgt, einander proportional gehen, so lange sie sehr klein bleiben, doch das Größenverhältnis dieser bezugsweisen Veränderungen sehr verschieden sein kann, je nachdem man dieselben von diesem oder jenem Ausgangswerte, oder innerhalb dieser oder jener zusammengehörigen Teile beider Größen verfolgt, wie schon oben bei den letzten Erläuterungsbeispielen geltend gemacht wurde.

    Fragt man, was heißt sehr klein im Ausspruche des Prinzips? — sehr klein ist doch ganz relativ — so ist die hiernach allerdings noch übrige Unbestimmtheit im Ausspruche des Prinzips durch folgende Erläuterung zu heben: Es lassen sich in jedem Falle die zu einander gehörigen Teile so klein nehmen, daß das Gesetz der Proportionalität zwischen den noch kleineren Teilen derselben merklich besteht; oder, insofern auch der Ausdruck merklich noch eine Unbestimmtheit einschließt, daß es so weit besteht, daß die Abweichung unter eine beliebige Grenze fällt. Wie klein sie aber dazu zu nehmen sind, kommt einerseits auf die funktionelle Beziehung der Größen, anderseits die Approximation an, die man verlangt, und Beides läßt keine allgemeine Regel zu. Absolut genau freilich wird die Proportionalität, abgesehen von spezialen Fällen, nur innerhalb unendlich kleiner Teile sein, und die Approximation daran um so größer sein, je mehr man sich dem Unendlichkleinen nähert.

    Man habe Acht, daß das ausgesprochene Prinzip nicht nur an kein bestimmtes Abhängigkeitsverhältnis zwischen den gegebenen Größen, sondern auch an keine bestimmte Natur dieser Größen, d. h. der Objekte, auf welche der Größenbegriff Anwendung findet, sondern nur an den allgemeinen Begriff kontinuierlicher Größenabhängigkeit gebunden ist. Wo sich also eine stetige Größenabhängigkeit vorfindet, da gilt es. Nun aber findet sich eine solche zwischen der Reizgröße und Empfindungsgröße vor. Wir wissen zwar bis jetzt noch kein bestimmtes Verhältnis anzugeben, nach welchem die Empfindung sich mit der Reizeinwirkung ändert, so lange wir noch kein Maß der Empfindung haben; aber wir wissen doch, daß die Empfindung sich in stetiger Abhängigkeit von der Reizeinwirkung ändert, daß die Lichtempfindung, Schallempfindung zu- und abnimmt nach Maßgabe als der physische Lichteinfluß, Schalleinfluß zu- und abnimmt, gleich viel, in welchem Verhältnisse, und dies genügt, um unser Prinzip darauf anzuwenden.

    Wir können daher unbedenklich den Satz aussprechen: die Änderungen der Empfindung sind den Änderungen der Reizgröße merklich proportional, so lange die Änderungen beiderseits sehr klein bleiben.

    Gesetzt z. B. zwei Gewichte haben einen gewissen kleinen Unterschied, und dieser wird mit einer gewissen Stärke, Intensität, Deutlichkeit empfunden, so können wir nach unserem Prinzip sagen, daß ein doppelt so großer Unterschied, von derselben Ausgangsgröße an verfolgt, als merklich doppelt so groß, ein dreifacher als merklich dreimal so groß empfunden wird; was aber nur so lange gültig bleibt, als der Unterschied der Gewichte klein bleibt, und was nicht ausschließt, daß ein gleich großer Gewichtsunterschied zwischen Gewichten von anderer Größe mit ganz anderem Werte empfunden wird, worüber das mathematische Prinzip keine Auskunft gibt, indes hier das Weber’sche Gesetz von der Erfahrungsseite her ergänzend eintritt.

    Einen direkten experimentellen Beweis, daß dem so sei, kann man nicht verlangen, da vielmehr die Aufgabe, die Größenabhängigkeit zwischen Reiz und Empfindung im Sinne mathematischer Prinzipien festzustellen, die Anwendung der, ohne Rücksicht auf alles Experiment gültigen, mathematischen Prinzipien der Größenabhängigkeit, wozu das eben angeführte gehört, von selbst voraussetzt. Einen indirekten Beweis für die Anwendbarkeit dieses Prinzips auf psychische Größen aber kann man darin finden, daß die mit Hilfe desselben festgestellte Abhängigkeit zwischen psychischen und physischen Größen, zu deren Darlegung wir uns jetzt wenden, zu erfahrungsmäßig bewährbaren Resultaten führt, wie sich im Verfolge zeigen wird.