XXVI. Historisches über die Ansicht von den einfachen Grundatomen.

    Die Ansicht, dass die Grundatome der Körperwelt einfach seien, hat sich bei mir vorlängst, und wie ich glaube, ziemlich unabhängig von äußeren Anregungen, jedenfalls nicht auf Anlaß der Herbart’schen einfachen Wesen, aus dem Gesichtspunkte entwickelt, die physikalische Atomistik philosophisch abzuschließen. Als ich mich inzwischen mit der Herbart’schen Metaphysik zu beschäftigen anfing, traten mir so manche Bezugspunkte, noch mehr aber gegensätzliche Gesichtspunkte zwischen unseren einfachen Wesen und den Herbart’schen entgegen, dass ich mich dadurch im Jahre 1852 zu einer für die Fichte’sche Zeitschrift bestimmten Abhandlung veranlaßt fand, zu der jedoch bloß eine Art Einleitung daselbst (1853) erschienen ist, worin ich auf unsere einfachen Wesen vorgreifend hinweise.

    Inzwischen kann ich in keiner Weise eine Priorität des Gedankens der einfachen Wesen als letzter Elemente der Körperwelt in Anspruch nehmen; vielmehr sind mir, wie ich bei eingehenderem Studium zum Teil schon selbst, zum Teil erst nach Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift aufmerksam gemacht durch Lotze1) und R. Grassmann2) fand, eine ganze Reihe Physiker und selbst Philosophen in dieser Hinsicht vorangegangen, worüber ich hier das Wesentlichste berichten will.3)

            1) Götting. gel. Anz. 1855. S. 1095.

            2)Dessen Atomistik, S. 22.

3) Eine etwas eingehendere historische Darstellung der monadologischen Ansichten von Leibniz, Kant und Herbart als hier findet man in Langenbeck’s Dissertation "Über Atom und Monade". Hannover 1854.
 
 
    In gewissem Sinne kann man die erste Aufstellung einfacher Atome in der Leibniz’ischen Monadologie finden, indem seine einfachen Wesen, sog. Monaden, substantiae simplices, zwar geistiger Natur, doch nach seiner ausdrücklichen Erklärung zugleich Elemente der Körperwelt (atomi naturae) sein sollen, nur in so unbewußtstem Zustande, wie ihn unsere Seele, eine bewußte Monade, zeitweis im traumlosen Schlafe oder Scheintod hat, wo Leibniz zwar immer nach perceptiones, aber nicht mehr apperceptiones, conscientiam, statuiert, über deren Unterschied man ihn selbst nachlesen muß. Zwar legt Leibniz den Monaden bei ihrer ihnen zugeschriebenen Einfachheit qualitative Verschiedenheit, innere Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit bei, bezieht dies aber eben auch nur auf die inneren oder geistigen Zustände, was nicht hindern würde, sie nach äußerer oder physischer Beziehung, eben so, wie dies in Lotze’s Monadologie geschieht, ganz wie unsere einfachen Atome zu denken. Inzwischen läßt Leibniz die Monaden physisch genommen nicht durch leere Zwischenräume getrennt sein, sondern statuiert ein solches Verhältnis zwischen ihnen, welches zwar nicht vom Metaphysiker, aber vom Physiker als Raumerfüllung zu fassen ist, d. h. (in seinem Sinne gedacht) welches sich in der durch prästabilierte Harmonie zwischen den Monaden vermittelten äußeren Erscheinung für die Monaden selbst so darstellt, dass der Raum als ein durch Materie in continuo erfüllter vom Physiker zu behandeln ist. Dies bildet eine wesentliche Abweichung von unserer einfachen Atomistik und der physikalischen Atomistik überhaupt. Dazu hat man zu bemerken, dass Leibniz seine Monadologie nur in idealistischem Sinne ausgearbeitet und keinen Einfluß auf die Physik dadurch geäußert hat.

    Vielleicht schiene daher ein Rückgang auf Leibniz bei einer Geschichte der einfachen Atomistik überhaupt müßig, wenn nicht einerseits sein System doch den wesentlichen Gesichtspunkt der Rückführung des materiellen Bestandes der Existenz auf einfache, in gewissem (freilich nur metaphysischem) Sinne absolut von einander abgeschlossene, Wesen mit der einfachen Atomistik gemein hätte, und nur noch der Zuziehung der physischen oder als physisch erscheinenden Distanzen bedürfte, um nach physischer Beziehung damit zusammenzufallen, und wenn nicht sein System doch als Ausgangspunkt mittelst Durchgangs durch Wolff zur Aufstellung der einfachen Atomistik durch Kant geführt hätte. Dass ihm die Verhältnisse, welche der Physiker an der Materie beobachtet, nicht als wahre Verhältnisse der Monaden überhaupt gelten, sondern nur als Sache der Erscheinung in den Monaden, würde an sich keinen Widerspruch gegen die physikalische Auffassung bilden, da diese überhaupt nur auf Erscheinung, Verhältnisse und Gesetze der Erscheinung in dem Sinne geht, welcher in den Zusatzkapiteln der vorigen Abteilung besprochen ist.

    Wenn schon also Leibniz nicht als Urheber der physikalischen einfachen Atomistik angesehen werden kann, ist er doch als der wichtigste Vorläufer derselben anzusehen.

    Das Wesentlichste von Leibniz’s Ansichten, so weit sie hier in Betracht kommen, dürfte in einer Reihe Paragraphen enthalten sein, welche sich in: Leibnitii Opera. P. II. Genevae, 1760. p. 20 ff., unter dem Titel: Principia philosophiae, seu theses in gratiam principis Eugenii, finden.

    Auf Leibniz fortbauend nimmt auch der Philosoph Christ. v. Wolff (1679–1754) in seiner Kosmologie monadische Substanzen als Elemente der Körperwelt an, ohne sie diskontinuierlich im Raume zu denken, und unterscheidet sich nur darin wesentlich von Leibniz, dass er ihnen nicht gleiche psychische Bedeutung beilegt, vielmehr einen vollständigen Dualismus zwischen Leib und Seele statuiert.

    Hingegen hat Kant in einer seiner früheren Schriften zwar nicht als der Erste die physikalische einfache Atomistik mit diskreten Teilchen ohne Rücksicht auf eine psychische Bedeutung aufgestellt, denn darin ist ihm, wie nachher anzugeben, Boscovich vorangegangen, aber doch zuerst aus philosophischem Gesichtspunkte dieselbe behauptet, nur später diese Ansicht wieder verlassen; und es ist in der Tat merkwürdig, dass dieser Philosoph, von dessen späteren Ansichten die hartnäckigste Opposition gegen die Atomistik vorzugsweise ausgegangen ist, die Abschließbarkeit derselben im einfachen Atomismus von vorn herein und zuerst unter den Philosophen erkannt hat.

    Jene frühere Aufstellung der einfachen Atomistik durch Kant findet sich in der von ihm im J. 1756 veröffentlichten Schrift: Metaphysicae cum geometria junctae usus in philosophia naturali, cujus specimen I. continet Monadologiam physicam. (Gesamm. Werke VIII. S. 409). Zwar spricht Kant schon hier von einer Erfüllung des Raumes durch die Kraft, aber nur in demselben Sinne, als auch der Physiker davon sprechen kann, so, dass doch das einfache Atom, die Monade, als Centrum sphaerae activitatis begrifflich von der Kraft und faktisch von anderen Centris isoliert bleibt, sich anderen mehr oder weniger nähern kann, und jeder Körper nur aus einer begrenzten Zahl solcher einfacher Elemente besteht, worüber Lotze die wichtigsten Sätze in dem Gött. gel. Anz. (1855. S. 1096), so wie Langenbeck in seiner Dissertation: Über Atom und Monade, S. 12 ff. zusammengestellt hat.

    Hingegen enthalten die 20 Jahre später erschienen metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft von Kant einen Versuch zur ausdrücklichen Widerlegung der Theorie von 1756,4) wovon Lotze sagt: "er ist mir nicht so klar erschienen, dass ich ihn hier reproduzieren könnte."

            4) Ges. Werke, Band VIII. S. 487.

    Herbart hat bekanntlich in gewisser Beziehung an Kant angeknüpft; doch ist diese nicht in Betreff seiner Annahme einfacher Wesen geschehen, worin er eben so wie Leibniz, nur mit gänzlichem Abweis von dessen prästabilierter Harmonie, zugleich Seelen (teils bewußte, teils unbewußte) und Elemente der Körperwelt sieht. Auch kann seine Ansicht eben so wenig als die von Leibniz als eine wirklich atomistische in physikalischem Sinne gelten, sofern er ausdrücklich die räumliche Diskretion dieser einfachen Wesen in physikalischem Sinne bestreitet, indem er in einem Kapitel seiner Metaphysik, was vom Ursprunge der Materie handelt, (sämmtl. W. IV. S. 272) wörtlich sagt: "Wer hier von Atomistik eine Spur finden wollte, der würde sich sehr irren. Atome können einander nicht durchdringen, bei uns aber ist partiale Durchdringung der ganze Grund, warum wir uns auf die gemachte Fiktion überhaupt einlassen. Und hier wird sich gerade die Ursache zeigen, warum bisher alle Versuche, aus Atomen oder Monaden die Materie zu erklären, fruchtlos bleiben mußten."

    Hingegen verbindet Lotze, hierin original gegen alle früheren und anderen Philosophen, den wesentlichsten Gesichtspunkt der physikalischen einfachen Atomistik, welcher räumliche Trennung der Atome fordert, mit dem der monadologischen, welcher in den einfachen Atomen zugleich Seelen sehen läßt, und man kann es eigentümlich finden, dass Lotze gerade den umgekehrten Gang als Kant genommen, welcher von der einfachen Atomistik anhebend bei der Verwerfung des Atomismus überhaupt stehen blieb, wogegen Lotze mit einer Verwerfung des Atomismus überhaupt anhebend, wie mir aus früherem persönlichen Umgang mit ihm bekannt ist, bei dem einfachen Atomismus stehen geblieben ist.

    Lotze’s erste Äußerungen über diesen Gegenstand finden sich in einer Anzeige der ersten Auflage dieser Schrift in den Götting. gel. Anz. 1855. S. 1097, wo er bezüglich des einfachen Atomismus sagt: "Ich selbst glaube, auf diese eigentlich doch nahe liegende Vorstellungsweise aus anderen und nächstens zu erörternden Gründen gleich selbstständig gekommen zu sein", und weiter: "In der Schilderung der Tauglichkeit dieser Hypothese (der einfachen Atome) zur Rekonstruktion der jetzt in der Physik geltenden Vorstellungen ist mir Fechner in seiner . . . Darlegung zuvorgekommen, die ich der aufmerksamen Beachtung, namentlich der philosophischen Leser empfehlen möchte; über die Gründe meines Glaubens an diese Auffassung muß ich mir dagegen vorbehalten, anderswo zu sprechen. Sie liegen im Allgemeinen in der Theorie des Raumes."

    Nun hat zwar Lotze, so viel ich weiß, von dieser theoretischen Begründung bis jetzt nur die S. 73 mitgeteilte Andeutung gegeben, wohl aber die psychologische Verwertung der Ansicht im ersten Bande seines Mikrokosmus unter dem Abschnitt "Das Leben der Materie" S. 374 ff. dargelegt. Hiernach identifiziert Lotze die Seelen der Menschen und Tiere mit einfachen räumlich diskreten Atomen, d. h. die nach ihren äußeren physikalisch verfolgbaren Wirkungen als solche aufzufassen sind, indes sie in sich Bewußtseinserscheinungen haben. Jede Seele eines Menschen oder Tieres hat einen punktförmigen Sitz im Gehirn5). Die übrigen Atome des Körpers und der Körperwelt sind den Seelen an sich gleichartige, nur nicht eben so zum Bewußtsein erwachte, wenn auch dieses Erwachens an sich fähige, Wesen. Hierin, sowie überhaupt in der Ausführung der Beziehungen von Leib und Seele, stimmt Lotze, wie nicht anders sein kann, wesentlich mit Herbart überein, verfolgt aber diese Beziehungen eingehender mit mehr Rücksicht auf die Schwierigkeiten, welche der einfache Seelensitz darbietet, läßt auch die gesamten Atome der Welt weder durch prästabilierte Harmonie im Sinne von Leibniz, noch die Störungsintentionen und dagegen geübten Selbsterhaltungen im Sinne von Herbart in Beziehung treten, sondern (Mikr. I. 413 ff. II. 45 ff.) durch eine "unendliche Substanz" oder ein "substanzielles Unendliches", in dessen Wesen alle Gesetze, aller Kausalzusammenhang der Dinge mit diesen selbst begriffen sind, welches in den einzelnen Erscheinungen und Dingen seinem Wesen nach überall voll gegenwärtig ist, aber doch dieses Wesen in keinem voll kund gibt, und das letzte Prinzip seines Wirkens und Webens in der Idee des Guten hat, ohne dass ihm jedoch Lotze den Namen Gott gibt oder, wie es scheint, eine bewußte Persönlichkeit beilegt.

            5) Medicin. Psychol. S. 115. Mikrokosmus I. S. 316.

    Als monadologische Ansichten haben sich noch ferner philosophischerseits geltend gemacht die Ansichten von Maximilian Drossbach, Herm. Langenbeck und J. H. Fichte, die freilich einer physikalischen einfachen Atomistik so fern liegen, dass eigentlich kein anderer Anlaß ist, ihrer hier zu gedenken, als einerseits zu zeigen, wie weit sich der Ideenkreis, in den die physikalische Atomistik eintritt, philosophischerseits überhaupt verzweigt hat, andererseits zu verhüten, dass man sich durch den Titel ihrer Schriften oder den Ausdruck Atom, den sie gebrauchen, verleiten lasse, etwas von physikalischer Atomistik darin zu suchen.

    Drossbach hat seine Ansichten in folgenden Schriften entwickelt: Die Harmonie der Ergebnisse der Naturforschung mit den Forderungen des menschlichen Gemüts oder die persönliche Unsterblichkeit als Folge der atomistischen Verfassung der Natur. Lpz, Brockhaus, 1858 und: die Genesis des Bewußtseins nach atomistischen Prinzipien. Lpz.., Brockhans, 1860. Auch er identifiziert Körperatome mit Seelen und gründet namentlich auf den unzerstörbaren Bestand derselben die Unsterblichkeit. Aber weder nimmt er die Körperatome für ausdehnungslos, noch den Raum zwischen ihnen für leer an (welches Letztere freilich Leibniz und Herbart auch nicht tun, aber doch Ersteres); Drossbach’s sogenannte Atome sind Kraftkugeln, wie er selbst sie mehrfach nennt, welche einander durchdringen, ohne ein vom Kraftinhalt substantiell unterschiedenes Zentrum, nur dass Drossbach doch die Zentren der Kraftkugeln als in endlichen Entfernungen von einander und demgemäß jeden Körper nur durch eine endliche Zahl derselben konstituiert denkt.

    Die Kraftkugeln sind sehr groß, z. B. die der Erde so groß, dass sie bis zum Monde und zur Sonne reichen (Harm. S. 46); doch von meßbarem Durchmesser (S. 39). "Aber die Atome bestehen nicht aus einer Kraft allein, folglich nicht aus einer meßbaren Kraftsphäre allein, sondern aus mehreren. Es kann gezeigt werden, dass nicht jede Kraft in einen gleich großen Raum wirkt, vielmehr wirken die einen Kräfte in sehr große Entfernungen, während andere in der nächsten Nähe wirken. Daher besteht jedes Atom aus einer Menge Kraftkugeln von verschiedenem Durchmesser, welche aber alle einen Punkt zu ihrem Mittelpunkte haben" (S. 39).

    Langenbeck in seiner Inauguraldissertation: Über Atom und Monade. Hannover 1858, erklärt die Seelen für monadische Wesen, deren Verhältnis zu den physikalischen Atomen er aber im Wesentlichen dahingestellt läßt, wenn schon er metaphysische Beziehungen dazwischen statuiert und andeutet.

    S. 6. "Unsere Atome sind die ihrer Natur nach Unteilbaren und haben als solche mit den Atomen der Naturwissenschaft – vielleicht – nichts gemein, als nur den Namen.– S. 37. "Die physikalischen Atome sind einstweilen nur Bilder unserer naturphilosophischen. Ob sie in Wirklichkeit mehr sind, ob sie diesen gleichgesetzt werden können, lassen wir dahingestellt". . . "Vielleicht haben wir hier gar nicht mit den Atomen der Naturwissenschaft . . . zu tun, sondern mit unteilbaren, gegen die möglicherweise selbst das Atom der Physik schon eine Molecula – wohl gar eine kolossale Moles ist."

    J. H. Fichte in s. Anthropologie. 2. Aufl. 1860. S. 198 stellt einen qualitativen Atomismus auf, welchen es hier genügen muß, durch eine resümierende Stelle aus seinem Werke zu bezeichnen.

    "Und so bekennen auch wir uns ausdrücklich zur Lehre von ""Atomen"" einfachen Unzerlegbar-keiten, aber qualitativer Art, welche ihren Raum setzen – erfüllen und durch ihre innere Affinität, so wie durch die damit zwischen ihnen herrschende Wechselwirkung das Phänomen relativ undurch-dringlicher Körper erzeugen. Sie sind daher nicht Atome in der Bedeutung kleinster, den ""leeren Raum"" erfüllender, qualitativ gleichartiger (d. h. qualitätsloser), mechanisch unzerstörbarer ""realer Raumpunkte"", sondern im Sinne qualitativ unterschiedener Urelemente, welche damit zugleich als wahrhaft ""unteilbare"" und ""unzerstörbare"" gedacht werden müssen, weil eben ein jedes in seiner ursprünglichen Qualität den anderen gegenüber selbstständig und eigentümlich sich zu behaupten vermag."

    Das Bisherige enthält das, was mir von den philosophischen Auffassungsweisen der einfachen Atomistik und damit sachlich oder nominell zusammenhängenden Vorstellungsweisen bekannt ist. Um es zu resumieren, so nehmen Leibniz, Wolff, Herbart zwar einfache, metaphysisch unterscheidbare Wesen als letzte Elemente der Körperwelt an, fassen sie aber nicht als räumlich oder physisch diskret, sondern statuieren ein Verhältnis dazwischen, welches vom Physiker als kontinuierliche Raumerfüllung zu fassen ist; und da die Verneinung einer solchen zur physikalischen Atomistik wesentlich gehört, so sind sie eigentlich gar nicht als Atomisten im Sinne der Physik zu betrachten. Noch weniger gilt dies von Drossbach mit seinen ungeheueren Kraftkugelatomen und Langenbeck wegen unklar gelassener Beziehung seiner Atome oder Monaden zu physischen Atomen. Hingegen gehen Kant in seiner früheren Ansicht, Lotze und ich selbst auf die Annahme räumlich diskreter Atome entschieden ein; wir unterscheiden uns aber darin, dass Kant überhaupt seinen einfachen Atomen keinen psychischen Wert gibt, Lotze sie einzeln mit bewußten und unbewußten Seelen ähnlich wie Leibniz und Herbart identifiziert, ich selbst das Seelendasein an ihr Zusammensein knüpfe, ein Unterschied der Ansichten, von welchem das 28. Kapitel des Näheren handeln wird.

    Eine irgendwie eingehende physikalische Verwertung der einfachen Atomistik hat, mit Ausnahme meines eigenen Versuches in dieser Schrift, der doch auch in Spezialitäten wenig eingeht, von keiner der bisherigen Seiten statt gefunden. Jetzt komme ich zu denjenigen Auffassungen und Darstellungen derselben, welche rücksichtslos auf etwaige psychologische Verwertung ausschließlich in physikalischem Interesse gemacht worden sind, und uns hier vorzugsweise angehen.

    Irre ich nicht, so muß der Jesuit Roger Boscovich aus Ragusa (1711–1787), ein gründlicher Physiker und Mathematiker, als der eigentliche Urheber der physikalischen einfachen Atomistik mit räumlich diskreten Atomen angesehen werden; ja ich bin erstaunt, nachdem ich auf ihn aufmerksam geworden, die wesentlichsten Grundbestimmungen der einfachen Atomistik, wie sie von mir in dieser Schrift ohne vorherige Kenntnis seiner Ansicht vorgetragen wurden, schon mit so großer Klarheit, Entschiedenheit und Vollständigkeit ausgesprochen zu finden und selbst das, im vorigen Kapitel von mir mit der einfachen Atomistik in Beziehung gesetzte, Gesetz der Abwechselung anziehender und abstoßender Kräfte je nach der Distanz nicht minder von ihm damit in Beziehung gesetzt zu sehen, wenn schon ohne Bezugnahme auf multiple Kräfte, demnach in anderer Form. Auch ist er nicht bei der allgemeinen Aufstellung der Grundpunkte der einfachen Atomistik stehen geblieben, sondern hat die ganzen Hauptlehren der Physik auf ihrer Unterlage zu entwickeln gesucht.

    Die erste Darstellung seiner Ansichten hat Boscovich in verschiedenen Dissertationen 1745, 1754, 1755, 1757 (verzeichnet p. 3 seiner Theoria) gegeben, eine ausführliche Darstellung derselben aber in folgendem Werke: Theoria philosophiae naturalis reducta ad unicam legem virium in natura existentium, auctore P. Rogerio Josepho Boscovich, Societatis Jesu. Venetiis 1763.6)

            6) Grassmann zitiert eine andere Ausgabe, Wien 1758.

    Der Hauptgesichtspunkt, von dem Boscovich bei Begründung seiner Theorie ausgeht, ist, dass eine plötzliche Ausgleichung oder überhaupt Änderung der Geschwindigkeiten an einander stoßender, sei es elastischer oder nicht elastischer, hinter einander hergehender oder gegen einander laufender, Körper im Momente wirklicher Berührung nicht ohne Verletzung des Gesetzes der (Kontinuität veränderlicher Größen, eine allmälige nach Eintritt der Berührung nicht ohne Verletzung der Undurchdringlichkeit gedacht werden könne, wie man des Näheren aus dem im folgenden Kapitel gegebenen Auszuge seiner Theoria (insbesondere § 18) ersehen kann. Hierüber sowie über die Notwendigkeit, das Gesetz der Kontinuität veränderlicher Größen und die Undurchdringlichkeit als unverbrüchlich anzusehen, geht er in sehr ausführliche Erörterungen ein und sucht sie gegen entgegenstehende Ansichten sicher zu stellen. Beides vorausgesetzt aber müsse eine Repulsivkraft angenommen werden, welche es gar nicht zur Berührung beim Stoße kommen lasse, sondern eine allmälige Ausgleichung der Geschwindigkeiten schon vorher bewirke, und diese Repulsivkraft müsse mit der Nähe der Körper oder Körperteilchen ins Unbestimmte wachsend gedacht werden, damit sie auch durch noch so große Geschwindigkeit des anstoßenden Körpers nicht überwunden werden könne, sondern in jedem Falle das Zustandekommen der Berührung und somit die Annahme eines Sprunges in der Geschwindigkeit oder einer Kompenetration der Materie beim Stoße ausschließe. Bei Vorhandensein einer solchen in größter Nähe unbestimmbar großen Repulsivkraft aber könne es gar nicht zu einer zusammenhängenden Materie kommen.

    Nun wird allerdings der Dynamiker die Impenetrabilitas der Materie, hiermit eine wesentliche Voraussetzung in Boscovich’s Theorie, die von ihm (p. 12. 17 seiner Theoria) durch Induktion als begründet angesehen und später (p. 164. 165) im Sinne der Theorie selbst näher erläutert wird, nicht zuzugeben brauchen, vielmehr die chemischen Verbindungen und die Verdichtung der Körper durch Druck in entgegengesetztem Sinne geltend machen können.7) Hat man sich aber durch die in unserer physikalischen Atomistik zur Sprache gebrachten Gründe vorweg bestimmen lassen, die dynamische Deutung dieser Phänomene fallen zu lassen, so scheint die Boscovich’sche Betrachtung in der Tat geeignet, von der physikalischen zur einfachen Atomistik überzuführen, wenn schon sie als eine strenge nicht gelten kann; da man namentlich gegen die Notwendigkeit, eine mit wachsender Nähe ins Unbestimmte wachsende Repulsivkraft anzunehmen, einwenden kann, dass die Voraussetzung von Geschwindigkeiten, welche jede gegebene Grenze übersteigen können, ein unerwiesenes Postulat ist, denn möglicherweise könnte ein Maximum davon durch die realen Kraftverhältnisse der Materie selbst gesetzt sein. Sei dem aber wie ihm sei, so hat mich die historische Wichtigkeit der Boscovich’schen Theorie veranlaßt, im folgenden Kapitel einen wörtlichen Auszug ihrer Grundgesichtspunkte zu geben, ohne jedoch in die Ausführung der Physik auf der Basis dieser Gesichtspunkte einzugehen, welche man jedenfalls für antiquiert anzusehen haben dürfte.

7) Obwohl Kant in s. metaphys. Anf. d. Nat. (ges. Werke VIII. S. 483) den Satz aufstellt und in seinem Sinne beweist: "Die Materie kann in das Unendliche zusammengedrückt, aber niemals von einer Materie, wie groß auch die drückende Kraft derselben sei, durchdrungen werden.
 
 
    Unter den Philosophen stimmten Dugald Stewart aus Edinburg in seinen philosophical essays, Edinb. 1816, und James Mackentish (Mél. phil.) der Boscovich’schen Ansicht bei und nennen sie die beste auf diesem Gebiete, welche nichts gemein hat mit dem Idealismus Benkoley’s und nicht im Mindesten mit dem Dasein der äußeren Welt in Widerspruch tritt. Hingegen wurde dieselbe von Deluc aus dem Gesichtspunkte angegriffen, dass eine Tätigkeit ohne Substanz, wofür er die einem Punkt zugeschriebene Kraft erklärte, gar nichts sagen wolle. Auch hier also die Verwechselung von Punkt und Nichts. Ich kenne übrigens die Ansichten von Stewart, Mackentish und Deluc bloß aus Zitaten von Grassmann und Schyanoff.

    Bei den Physikern scheint der Versuch Boscovich’s keinen erheblichen oder nachhaltigen Eindruck gemacht zu haben, denn ich kenne keinen Physiker, der bis zu den dreißiger Jahren des jetzigen Jahrhunderts auf die einfache Atomistik zurückgekommen wäre; und wenn von dieser Zeit an eine ganze Reihe mathematischer Physiker Frankreichs sich dazu bekannt hat, ist es ohne Bezugnahme auf Boscovich und, wie es scheint, ganz unabhängig von ihm geschehen. Als solche neuere Vertreter sind insbesondere zu nennen und schon vorläufig genannt: Ampere, Cauchy, Séguin, Moigno, St. Venant.

    Wie es scheint, sind Ampere und nach ihm Cauchy diejenigen, welche unter den Neueren die Priorität haben.8) Da sich Cauchy auf Ampére bezieht, so ist Ampére Cauchy’n jedenfalls in Aufstellung der Ansicht vorausgegangen. Doch kenne ich Ampére’s Darstellung nicht aus eigener Ansicht; nach Grassmann’s Angabe findet sie sich im Cours da college de France 1835–1836. Aus Cauchy’s Darstellung entlehne ich auszugsweise Folgendes nach einer in Moigno’s Cosmos (1835. T. 11.) mit Anführungszeichen aus Cauchy’s Lecons wörtlich wiedergegebenen Stelle:

8) Grassmann führt in seiner Atomistik S. 23 unter den Vertretern der einfachen Atomistik zuerst Poisson auf, indem er sich dabei auf die Ann. dech, et de phys. XXXVI XXXIX. (1827. 1828) und das Journal de l'Ecole polyt. cah. 20. 1829 bezieht. Aber in den Abhandlungen Poisson’s, welche sich an diesen Orten finden, und die ich deshalb ausdrücklich eingesehen, finde ich wohl Hinweise auf die Notwendigkeit, die Gleichgewichts- und Bewegungsgleichungen elastischer und flüssiger Körper vielmehr auf die Annahme von molécules disjointes als eine Kontinuität der Materie zu gründen, nirgends aber eine Erklärung darüber, dass die molécules disjointes oder deren Atome als einfach oder als Punkte anzunehmen seien; glaube auch nach meinen Erinnerungen nicht, dass eine solche Erklärung sich überhaupt in einer Abhandlung von Poisson findet. – Von Moigno (Cosmos T. II. p. 374) wird Faraday mit Ampere und Cauchy in Verbindung als Vertreter der Ansicht von einfachen Atomen genannt, aber nur aus dem Gesichtspunkte, dass er die Materie auf Kraftzentra reduziert. Aber diese Kraftzentra sind nach ihm kontinuierlich (Philos. mag. 1841. Févr.), und er steht in sofern vielmehr im Gegensatz zur atomistischen Ansicht, welche eine räumliche Diskretion der Kraftzentra statuiert.
 
 
    ,,Suivant Newton, disait M. Cauchy, dans une de ses lecons de physique sublime à Turin, les molécules intégrantes des corps seraient solides, dures et invariables, en sorte, qu'elles ne pourraient changer de dimensions ni de figures. Mais cette opinion ne saurait s'accorder avec un phénomène récemment observé par M. Mitscherlich. En soumettant les cristaux à l'action de la chaleur, cet habile physicien a reconnu, qu'ils subissent des dilatations inégales dans les différents sens, et que les inclinaisons de leurs faces varient; or, pour expliquer ce phénomène, il faut nécessairement supposer, que par l'addition du calorique les molécules intégrantes non-seulement s'écartent les unes des autres, mais changent réellement de forme ... Ampère a fait voir, de son côté, que pour rendre raison de plusieurs phénomènes relatifs aux combinaisons de gaz, il suffisait de considérer les molécules des différents corps comme composés chacune de plusieurs atomes, dont les dimensions sont infiniment petites, relativement aux distances, qui les séparent. ... Si donc il nous était donné d'apercevoir les molécules intégrantes des différents corps soumis à nos expériences, elles présenteraient à nos regards des espèces de constellations; et en passant de l'infiniment grand à l'infiniment petit, nous retrouverions dans les dernières particules de la matière, comme dans l'immensité des cieux, des centres d'action sans étendue placés en présence les uns des antres. ... Dans l'opinion de M. Ampère, les dimensions des atomes, dans lesquels résident les centres d'action moléculaires, ne doivent pas être considérées seulement comme très-petites relativement aux distances, qui le séparent, mais comme rigoureusement nulles. En d'autres termes, ces atomes qui sont les véritables êtres simples, dont la matière se compose, n'ont pas d'étendue. ... Il semble, au premier coup d'oeil, que priver d'étendue une parcelle de matière, ce soit l'anéantir complètement; mais en y réfléchissant, il est facile de concevoir, comment la matière même composée d'atomes simples continue néanmoins à jouir des propriétés, qui manifestent sa présence, l'étendue ..., l'impénétrabilité ..., la tangibilité etc. etc. Dans la théorie mathématique de la lumière nous considérons la sensation lumineuse comme produite par la propagation du mouvement dans un éther composé d'atomes, qui n'auraient point d'étendue et qui agissent les uns sur les autres a de très-petites distances. "

    "II résulte de se qui précède que s'il plaisait à l'auteur de la nature, de modifier seulement les lois, suivant lesquelles les atomes s'attirent ou se repoussent, nous pourrions voir à l'instant même les corps le plus durs se pénétrer les uns les autres, les plus petites parcelles de matière occuper des espaces démesurées, ou les masses les plus considérables se réduire aux plus petites volumes, et l'univers se concentrer, pour ainsi dire, en un seul point."

    Séguin hat die Annahme einfacher Atome mit den Ansichten in Beziehung gesetzt, von welchen im Kap. 24 die Rede war, und Moigno nimmt bei Gelegenheit der Mittheilung derselben in Band I u. II seines Cosmos diese Annahme mit seiner gewöhnlichen Lebhaftigkeit in Schutz. In dem Compte rend. T. XXXVII. p. 705 knüpft Séguin dieselbe an vorgängige allgemeine Erörterungen über die Cohäsion mit folgenden Worten an: ,,Par cela même, qu'il n'y a pas de limites possibles à la petitesse, que l'on peut assigner aux molécules des corps, n'est-il pas plus simple, plus naturel plus élégant, et même plus en rapport avec l'idée, que nous avons des œuvres du Créateur, qui a dressé partout devant nous cette barrière infranchissable de l'infini ou de l'infiniment petit, contre laquelle notre esprit est obligé de venir sans cesse se briser, de considérer les dernières molécules des corps comme dépourvues de dimensions, ainsi que M. M. Ampère et Cauchy l'ont admis, ou mieux de les réduire à, do simples centres d'action, comme l'a fait M. Faraday?"

    Saint Venant’s Daratellung ist enthalten in seinem Mémoire sur la question de savoir s'il existe des masses continues, et sur la nature probable des derniéres particules des corps. Paris 1844. (Societé; philomatiqne de Paris. Sitzung am 20. Jan. 1844), das nach seinem größeren Teile von Grassmann in dessen Atomistik S. 29 ff. in wörtlicher Übersetzung reproduziert ist. St. Venant stellt eine ganze Reihe physikalisch-mathematischer Gesichtspunkte zur Begründung der einfachen Atomistik auf, ohne jedoch solche so scharf und klar zu entwickeln, dass ich zu einer eingehenden Mitteilung daraus Anlaß fände.

    Unter den deutschen Fach-Physikern und Mathematikern ist die Möglichkeit einfacher Atome bis jetzt nur beiläufig statuiert worden von W. Weber, Helmholtz, Hoppe, wie ich Kap. 21. mitgeteilt habe. Hiergegen hat der, in mathematischen Studien selbst nicht unbewanderte, Bruder des bekannten verdienstvollen Mathematikers H. Grassmann, Robert Grassmann9), in seiner Schrift: "Die Atomistik, erstes Buch der Lebenslehre oder der Biologie. Stettin 1862," die einfache Atomistik nicht nur im Allgemeinen behauptet, sondern auch die Hauptlehren der Physik und Chemie auf Grundlage derselben zu entwickeln versucht. Kann ich nun schon diesem Versuche aus den schließlich anzuführenden Gründen in wesentlichsten Punkten nicht beistimmen, so glaube ich doch in Betracht dessen, dass er manches Sinnreiche enthält, dass er nach Boscovich’s Theoria der erste Versuch einer derartigen Ausführung ist, und dass er mit meinem eigenen, im vorigen Kapitel gemachten, Versuche, zu den Grundkräften der einfachen Atome zurückzugehen, in Konflikt kommt, nicht umhin zu können, die Hauptpunkte dieses Versuches mit Folgendem etwas näher zu bezeichnen und meine ablehnende Stellung dazu zu motivieren.

9) Jetzt Buchhändler in Stettin, nachdem er früher Theologie studiert und das Lehrerexamen gemacht hat.
 
 
    Die Atomistik Grassmann’s, ein Schriftchen von 90 Seiten, ist nur das erste Buch eines in Aussicht gestellten größeren Werkes, in welchem sich der Verfasser die größte Aufgabe gestellt hat, welche sich die Wissenschaft überhaupt stellen kann, indem nämlich dies Werk in einer ersten Abteilung von 2 Bänden "die gesamten Welt- und Naturwissenschaften", im Ganzen aber "das Gebäude des menschlichen Wissens" überhaupt, darunter "allgemeine Wissenschaftslehre, Staatswissenschaft, Theologie, Metaphysik" zu umfassen bestimmt ist.

    In Betreff der Notwendigkeit, bis zur Annahme einfacher Atome zurückzugehen, fußt der Verf. wesentlich auf den französischen Vorgängern, ohne sich auf neue Begründung einzulassen. Geschichtlich gedenkt er auch Leibniz’s und Boscovich’s. Die Hauptsätze seiner Atomistik, wozu er geglaubt, eine neue Terminologie einführen zu müssen, sind folgende:

    Die letzten Teile der Körperwelt sind unteilbare, in einem leeren Raume schwebende Punkte, Atome, von bloßen Raumpunkten dadurch unterschieden, dass sie Kräfte äußern.

    Die Kräfte der letzten Punkte sind teils anziehender teils abstoßender Natur, befolgen aber sämtlich das Gesetz des umgekehrten Quadrats der Entfernung, was eben so durch Induktion nach der Beschaffenheit der besterkannten Grundkräfte, als nach dem Begriffe, den wir von einer Ausdehnung der Kraft im Raume haben müssen, folgt.

    Es sind ponderable und imponderable einfache Atome zu unterscheiden, Körperpunkte und E-Punkte (EIektrizitätspunkte) nach Grassmann’s Ausdruck. Erstere anlangend, "so muß man entweder behaupten, dass die einfachen Körperpunkte der Grundstoffe verschiedene Gewichte besitzen, welche den Mischgewichten der Stoffe entsprechen, oder man muß annehmen, dass die sog. Grundstoffe noch abermals zusammengesetzt seien und dass es Urstoffe gebe, welche schließlich erst aus einfachen Körperpunkten bestehen, deren Gewicht gleich sei. Die Erfahrung hat über diese Frage noch nicht entschieden und wird man daher zunächst an der ersten Auffassung festhalten müssen, wenn auch die letztere an sich sehr viel mehr Wahrscheinlichkeit besitzt". Wie dem auch sei, so ziehen sich die Körperpunkte sämtlich nach dem Gravitationsgesetze an, müssen aber doch nach dem alsbald anzugebenden doppelten Verhalten zu den E-Punkten für doppelter Art angenommen werden.

    Die E-Punkte sind ebenfalls zweierlei, + E und – E, indem sie durch die Grundbestandteile der entgegengesetzten Elektrizitäten repräsentiert sind, und die demgemäßen bekannten Abstoßungs- und Anziehungskräfte je nach Gleichartigkeit oder Ungleichartigkeit gegen einander äußern.

    Jeder Köperpunkt zieht den einen E-Punkt aber so stark an, als er den anderen abstößt; die Körperpunkte unterscheiden sich aber in + Punkte und – Punkte, je nachdem sie die – E oder + E-Punkte anziehen.

    Der Äther des Weltalls besteht in seinen letzten Teilen aus E-Punkten, welche je zwei zu einem E-Paare nach dem Bilde eines Doppelsterns vereinigt sind und deshalb nicht durch ihre Anziehung in einen Punkt zusammenlaufen, weil sie eben wie die Sterne eines Doppelsternes einander umkreisen. Die E-Paare des Äthers sind gewichtslos, weil Anziehung und Abstoßung der komponierenden E-Punkte gegen wägbare Körper sich die Waage halten. Grassmann beweist (S. 40) durch eine einfache Rechnung, dass, wenn zwei E-Paare mit ihren 4 Punkten in einer geraden Linie liegen und beide Paare weit von einander entfernt in Verhältnis zur gegenseitigen Entfernung der Punkte jedes Paares sind, die Anziehung oder Abstoßung beider E-Paare (je nach Zuwendung der ungleichartigen oder gleichartigen Punkte beider Paare) merklich im umgekehrten Verhältnis der vierten Potenz der Entfernung steht, und setzt dies damit in Beziehung, dass Cauchy bewiesen habe, "die Ätheratome ziehen sich gegenseitig an oder stoßen sich gegenseitig ab, umgekehrt wie die vierten Potenzen ihrer Entfernung."10)

10) Der Verfasser bemerkt (S. 39), dieser glückliche Gedanke, dass das Cauchy’sche Gesetz sich durch Repräsentation der Ätherteilchen als E-Paare erklären lasse, rühre von seinem Bruder H. Grassmann her. Er gibt die Stelle von Cauchy’s Beweis nicht an, bezieht sich aber dabei unstreitig auf Cauchy’s Mémoire sur la dispersion de la lumiére (p. 185), wo Cauchy jedoch nicht beweist, dass sich die Ätherteilchen nach obigem Gesetze anziehen oder abstoßen, sondern (p. 191) dass "dans le voisinage du contact cette action soit r répulsive et réciproquement proportionnelle au bicarré de la distance." Dabei liegt die, eine Vernachlässigung von Größen höherer Ordnung gestattende, Voraussetzung unter, dass der Äther des Himmelsraumes anders als der Äther in den Körpern alle Farbenstrahlen mit gleicher Geschwindigkeit fortpflanze; welche Voraussetzung Cauchy darauf begründet, dass die Sterne statt als (meist weiße) Lichtpunkte uns sonst als sehr schmale Streifen mit den Spektralfarben erscheinen müßten.
 
 
    Was wir Moleküle zu nennen gewohnt sind, nennt Grassmann Körner. Jeder aus Körnern zusammengesetzte Körper besitzt im natürlichen Zustande beide Arten E-Punkte, zu E-Paaren, Ätherteilchen verbunden, in gleicher Menge, welche aber durch die bekannten Mittel in der Art getrennt werden können, dass sie als freie Elektrizitäten zum Vorschein kommen.

    Jeder + oder – Körperpunkt eines Korns insbesondere ist von einem Kranze aus E-Paaren (Ätherhülle) umgeben, welche dem Körperpunkte den ungleichartigen Punkt zukehren, den gleichartigen davon abkehren. Hieraus resultiert, unter Voraussetzung, dass der Abstand der E-Punkte jedes Paares von einander klein im Verhältnis zum Abstande des E-Paares vom Körperpunkte ist, eine Anziehung des ganzen E-Paares gegen den Körperpunkt im umgekehrten Verhältnis des Kubus der Entfernung, wie wieder durch eine einfache Rechnung (S. 44) bewiesen wird. Indem bei einem + Körperpunkt alle – E-Punkte, bei einem – Körperpunkte alle + E-Punkte in sämtlichen Körnern nach Außen liegen, müssen sich die E-Paare der verschiedenen Körner eines aus gleichartigen Körnern zusammengesetzten Körpers selbst einander abstoßen. "Diese gegenseitige Abstoßungskraft hält vereint mit der etwaigen Zentrifugalkraft der E-Paare der Anziehungskraft der Körperpunkte (gegen einander) das Gleichgewicht und bestimmt die Entfernung der E-Punkte von den Schwerpunkten der Körperpunkte." (S. 41.) Bei Näherung der Körperpunkte gegen einander wächst die Abstoßung der daran gebundenen Kranzringe, nimmt hingegen bei wachsender Entfernung ab, womit sich die Erscheinungen der Elastizität erklären.

    Auf Grund dieser Hauptsätze entwickelt der Verf. in allgemeinen Betrachtungen die Hauptlehren der Elektrizität, des Galvanismus, der Wärme, des Lichtes, des Chemismus u.s.w.

    Nach einer mündlichen Unterhaltung, die ich Gelegenheit hatte, mit dem Verf. zu pflegen, gibt auch er den einfachen Atomen einen psychischen Wert im Sinne Lotze’s (ohne von dessen Ansicht zuvor Kenntnis gehabt zu haben) und hatte er die Absicht, in der Fortsetzung des Werkes, wozu seine Atomistik den Eingang bildet, diese Ansicht zu entwickeln.

    Was ich nun Bedenkliches in all dem finde, ist Folgendes:

    1) Die Ansicht, dass alle Grundkräfte das umgekehrte Verhältnis des Quadrats der Entfernung befolgen, kann triftig weder aus dem Begriffe der Kraft gefolgert werden, wie Kap. 16. besprochen ist, noch durch Induktion für andere als merkliche Entfernungen der Teilchen als erwiesen gelten. Die multiplen Kräfte, zu deren Annahme sich W. Weber durch die elektro-dynamischen Erscheinungen genötigt gesehen hat und auf die man noch durch andere Gesichtspunkte geführt werden kann (vgl. Kap. 25), fallen dabei ganz außer Betracht. Grassmann hat aber nicht gezeigt, wie sich dieselben Erscheinungen ohne diese Annahme erklären lassen.

    2) Alle Körperpunkte sollen sich gegenseitig anziehen, sowohl + Punkte unter einander, als – Punkte unter einander, als endlich + Punkte und – Punkte gegenseitig; in dieser Hinsicht also beiderlei Körperpunkte gleichartig sein, aber doch dadurch verschieden, dass die einen dieselben E-Punkte anziehen, welche die anderen abstoßen. Wie zweierlei Körperpunkte, werden zweierlei E-Punkte statuiert, aber während die gleichartigen Körperpunkte einander eben so anziehen, als die ungleichartigen, stoßen sich die gleichartigen E-Punkte ab und nur die verschiedenartigen ziehen sich an. Eine solche Incongruenz in den Verhältnissen der Grundkräfte erscheint mindestens sehr unwahrscheinlich.

    3) "Das Hervortreten der + E im Zink und der – E im Kupfer bei Berührung kann (nach Grassmann S. 48) offenbar nur darin seinen Grund haben, dass die Zinkpunkte mehr die + E, die Kupferpunkte mehr die – E von den E-Punkten anziehen, dass daher an der Berührungsstelle der beiden Metalle die beiden E-Punkte der E-Paare getrennt, die + E dem Zink, die – E dem Kupfer zugeführt werden, und dass sich beide auf den trefflichen metallenen Leitern ungestört ausbreiten."

    Aber wie kommt es dann überhaupt je zu einem natürlichen Zustande des Kupfers und Zinks, in welchem nach Grassmann (S. 38) wie nach der gewöhnlichen Annahme, + E und – E in gleicher Menge vorhanden sind? Das Kupfer sollte dann stets negativ, das Zink positiv gefunden werden. Wie kommt es, dass Zink die negative Elektrizität durch Überleitung eben so leicht annimmt und abgibt, als die positive u. s. w.?

    Ersterem Einwande könnte der Verfasser vielleicht dadurch zu begegnen suchen, dass in den kranzförmigen Umringen aus E-Punkten, welche die + Körperpunkte im Zink umgeben, alle – E-Punkte nach Innen, dem Körperpunkte näher liegen, als die + E-Punkte, im Kupfer umgekehrt. Damit sei der stärkeren Anziehung der ersteren auf die – E-Punkte, der letzteren auf die + E-Punkte bei Vorhandensein gleicher Mengen derselben in natürlichem Zink und Kupfer genügt. Aber zuvörderst wäre dann zu beweisen, was zu beweisen oder nur anzunehmen unmöglich sein dürfte, dass durch solche verschiedene Verteilung der + E-Punkte und – E-Punkte bei gleicher Menge derselben der verschiedenen Anziehungskraft der + Körper und – Körperpunkte in gleicher Weise Genüge geschehen kann. Denn man muß zwar zugestehen, dass wegen der gegenseitigen Anziehung der + und – E-Punkte sowohl der + Körper als – Körper beide enthalten wird, aber doch nicht in gleicher Menge. Sei es aber zugestanden, so wird nun um so weniger erklärlich, wie ein + Körper, in welchem die + E-Punkte alle nach Außen gekehrt sind, die + Elektrizität noch so leicht durch Überleitung aufnehmen und abgeben kann, als ein – Körper. Endlich widerspricht der Verfasser jener Anordnung der E-Punkte in festen Lagen, woraus er u. a. auch die Elastizitätsverhältnisse erklärt, durch die anderwärts aufgestellte Ansicht, dass die E-Punkte jedes E-Paares nicht nur im Äther des Himmelsraums, sondern auch in den Körpern (S.61), ausgenommen im Zwischenraume zwischen chemisch differenten Körnern (S. 62), um einander wie die Sterne eines Doppelsternes kreisen.

    Ich gestehe, dass es mir beim besten Willen nicht gelungen ist, über diese Widersprüche und was damit zusammenhängt hinwegzukommen; und wenn dem Verfasser eine Auflösung derselben zu Gebote steht, so liegt sie wenigstens nicht auf der Hand.