XXIV. Über die Qualität und Kräfte der einfachen Atome.

    Ob man die einfachen Wesen als quantitativ und qualitativ gleichartig oder gleichgültig zu halten habe, kann noch zweifelhaft erscheinen. Wenn man, wie ich mit Herbart, wenn schon in anderem Sinne, tue, das Gegebene als Ausgang und Anhalt nimmt, so muß man sich eben auch nach den Forderungen des Gegebenen richten, darf aber doch, so lange diese Forderungen nicht entschieden sind, immer das Einfachstmögliche im Auge behalten. Und das sind einfache Wesen, die gar keinen Anhaltspunkt zum Vergleich in sich schließen. Jede Ungleichheit würde mindestens noch eine Zerlegung nach zufälliger Ansicht in Herbart’s Sinne gestatten, die wir vielleicht entbehren können. Und so sage ich, die Erfahrung zwingt wenigstens bis jetzt noch nicht, diese einfachste Vorstellung als unmöglich zu verwerfen. Für jedes Atom von verschiedener Größe, Masse, Gestalt, chemischer oder dynamischer Beschaffenheit, was der Physiker, Chemiker, Kristallograph jetzt der Erklärung der Erscheinungen zu Liebe supponiert, läßt sich immer ein Molekül, eine Gruppe von verschiedener Ausdehnung, Gedrängtheit, Anordnung, relativer Bewegung unserer einfachen Wesen substituiert denken; und wenn man sich erinnert einerseits, dass die Erscheinungen der Chemie ohnehin zur Annahme zusammengesetzter Moleküle nötigen, andererseits dass schon so auffallende und mannigfache qualitative Verschiedenheiten, wie zwischen den einzelnen Farben, den einzelnen Tönen bestehen, auf Verschiedenheiten von Schwingungsverhältnissen haben zurückgeführt werden können, die nur abhängig sind von einer verschiedenen (die Spannung bedingenden) Anordnung ohne Rücksicht auf eine verschiedene Grundqualität der schwingenden Materie, so liegt bei unserer Unbekanntschaft mit den letzten Grundgesetzen des Molekularen auch allgemein gesprochen noch die Möglichkeit vor, dass alle sekundären Qualitäten, die uns die Körperwelt darbietet, aus verschiedenen Anordnungen und davon abhängigen Bewegungen einfacher Wesen von an sich gleichgültiger Qualität nach dafür bestehenden Gesetzen (in dem Kap. 4 besprochenen Sinne) ableitbar sind. Aber die Aussichtslosigkeit, dies mit unseren jetzigen Kenntnissen zu bewirken, ist anzuerkennen, und es liegt hierin überhaupt keine Lebensfrage für den Bestand, sondern nur für die einfachstmögliche Gestaltungsweise der atomistischen Grundansicht.

    Kann es nun in einer Darstellung der exakten Physik kein sonderliches Interesse haben, sich mit Andeutungen, Möglichkeiten, allgemeinen Fragen dieser Art, die bis jetzt keiner Entscheidung fähig sind, zu beschäftigen, so kann es doch hier einiges Interesse haben, wo es sich überhaupt handelt, über das physikalisch Feste im Verfolg der Richtung, die schon feststeht, hinauszugehen; und so mögen nachfolgende Erörterungen über hierbei einschlagende Gesichtspunkte und Tatsachen noch Platz finden.

    Schon mehrfach und von mehreren Seiten hat sich den Physikern und Chemikern der Gedanke aufgedrängt, unsere sog. einfachen Grundstoffe könnten noch zusammengesetzt sein. Wären sie es aber, so ließe sich auch denken, dass es vielmehr eine verschiedene Zahl und Anordnung als eine qualitative Verschiedenheit der Grundatome wäre, was sie verschieden machte. Insbesondere sind es die einfachen rationalen Verhältnisse zwischen den Atomgewichten vieler sog. einfachen Stoffe, welche auf solche Gedanken führen können. Und wenn sich doch nicht alle Atomgewichte als einfache Multipla von dem kleinsten bekannten Atomgewichte, dem des Wasserstoffs, darstellen lassen, wie das sog. Prout’sche Gesetz verlangt, so könnte dies darauf beruhen, dass auch der Wasserstoff noch aus Molekülen von einer Mehrzahl Atomen bestehend gedacht werden kann; wie denn Dumas, einer der eifrigsten Verteidiger des Prout’schen Gesetzes, statt des gewöhnlich angenommenen Atomgewichtes des Wasserstoffes nur die Hälfte oder gar ein Viertel desselben den Atomgewichten anderer Körper als Einheit zu Grunde legt.

    Freilich scheint dies noch nicht überall auszureichen, und namentlich hat neuerdings Stas1) auf Grund genauer Versuche mit einigen Stoffen dem Prout’schen Gesetze, selbst mit der Modifikationdurch Dumas, widersprochen, und Marignac2) unter Bezugnahme auf von ihm selbst angestellte, mit Stas’ Resultaten nahe übereinstimmende, Atomgewichtsbestimmungen die Unwahrscheinlichkeit erörtert, dass spätere Versuche eine bessere Übereinstimmung mit dem Prout’schen Gesetze ergeben werden.

            1) Erdmann’s J. LXXXII. – Fortschr. d. Phys. 1860. 14. Fortschr. d. Chem. 1860. l.
            2) Fortschr. d. Ch. 1860. 4.
 

    Wird das Atomgewicht des Sauerstoffs gleich 8 gesetzt, so folgt aus den Versuchen von Stas als Atomgewicht für folgende Elemente: Ag = 107,943 ; CI = 35,46 ; K = 39,13; Na = 23,05 ; N = 14,04 ; S = 16,037 ; Pb = 103,453,

    Prof, Erdmann, mit dem ich mich über diesen Gegenstand unterhielt, hob besonders das Atomgewicht des Kupfers, als Schwierigkeiten machend, hervor.

    Inzwischen nimmt Marignac selbst Anstand, das Prout’sche Gesetz geradezu für eine Täuschung zu erklären; indem er, unter Erinnerung an Tatsachen, zu bedenken gibt, ob nicht Verbindungen von konstanter Zusammensetzung einen normalen kleinen Überschuß eines Bestandteils enthalten können, der die Atomgewichtsbestimmung beeinflusse. Auch sind bei mehreren der Stas’schen Bestimmungen die Abweichungen vom Prout’schen Gesetze doch nur sehr gering.

    Natürlich würde alle Schwierigkeit wegfallen, wenn man das Wasserstoffmolekül selbst für noch zusammengesetzter ansehen dürfte, als es Dumas schon anzunehmen geneigt ist, indem sich das einfachste Atomgewicht, worauf alle anderen zu beziehen, damit so weit verkleinern würde, um, mit Rücksicht auf die doch nie ganz zu vermeidenden Bestimmungsfehler der Atomgewichte, in allen Atomgewichten einfache Multipla des einfachsten sehen zu können. Nun mag ich hierbei wohl daran erinnern, dass aus den, im folgenden Kapitel aufgestellten, Ansichten über die Natur der molekularen Grundkräfte von selbst folgen würde, dass kein wägbares Molekül, also auch das des Wasserstoffs nicht, weniger als 8 Atome enthalten dürfte; nur bin ich weit entfernt, das Hypothetische dieser Ansichten zu verkennen, welches selbst vielmehr der Stütze bedarf, als dass sich sichere Folgerungen darauf gründen ließen. Inzwischen wird doch, wenn man einmal an eine Zusammensetzung des Wasserstoffmoleküls zu denken hat, dieselbe durch keinen positiven Grund auf die Zahl von 2, 3 oder 4 Atomen eingeschränkt, und dies gibt folgender Betrachtung Raum:

    Gewiß bleibt, dass für eine nicht geringe Zahl von Stoffen, darunter alle die, welche die organische Substanz bilden, Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff und Stickstoff, einfache rationale Verhältnisse der Atomgewichte sich durch den Versuch so approximativ genau ergeben haben, dass man eine wirkliche Genauigkeit mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als in der Natur begründet halten darf. Ist aber dies der Fall, so muß man auch ein in der Natur begründetes Prinzip dazu voraussetzen, und da sich die Exzeptionen davon durch die freistehende Annahme einer hinreichenden Vielzahligkeit des Wasserstoffmoleküls immer als scheinbar deuten lassen, so möchte auf die Fälle des Zutreffens des Prout’schen Gesetzes mehr Gewicht zu legen sein als auf die Exzeptionen; zumal die Atomgewichte mehrerer einfachen Stoffe anerkanntermaßen geradezu gleich sind, d. h. durch den Versuch eine so geringe Verschiedenheit ergeben haben, dass man keinen Grund hat, an der wirklichen Gleichheit zu zweifeln. Die Gleichheit der Atomgewichte ist nämlich nur der einfachste Fall eines rationalen Verhältnisses, und ihr Statthaben in mehrfachen Fällen bliebe ganz unverständlich, wenn man nicht die chemische und physikalische Verschiedenheit solcher Stoffe auf Verschiedenheiten in der Anordnung ihrer Grundatome schreiben, mithin den Grundfall der Allotropie darin sehen wollte. Zu Hilfe kommt noch, dass die Stoffe, die dies Verhältnis zeigen, gewöhnlich in Verbindung vorkommen und in vielen Eigenschaften übereinstimmen. Es sind namentlich folgende:

    1) Platin, Iridium, Osmium,
    2) Palladium, Rhodium, Ruthenium,
    3) Kobalt und Nickel (beide magnetisch).

Auch von anderen Gesichtspunkten hat sich der Gedanke einer Zusammensetzung der sog. einfachen Grundstoffe mehrfach dargeboten.

So hat Clausius3) die Beziehungen, die zwischen dem Volumen der einfachen und zusammengesetzten Gase bestehen, überhaupt durch die Annahme zu erklären gesucht, dass in den sog. einfachen Gasen mehrere Atome zu einem Molekül verbunden sind, und auf dieselbe Annahme sind unabhängig von Clausius aus ganz anderen rein chemischen Gesichtspunkten auch Laurent und Gerhard,4) sowie Kekule5) gekommen.

        3) Pogg. Ann. CIII. 645.
        4) Pogg. Ann. CIII. 645.
        5) Kohulé, Lehrb. d. org. Ch. I. (1861.) 100 ff.
 

    Dumas macht auf eine gewisse Beziehung zwischen den zusammengesetzten Radikalen der organischen Chemie und den bisher als unzerlegt betrachteten Elementen der unorganischen Chemie aufmerksam, nach welcher er geneigt ist, die letzten nicht als wahre Elemente, sondern nur als für unsere Hilfsmittel unzerlegbar zu betrachten. 6)

        6) Liebig, Ann. CVIII. S. 324 oder Fortschr. d. Phys. 1858. S. 6.

    Der Sauerstoff ist bekanntlich durch verschiedene Mittel (namentlich Einwirkung von feuchtem Phosphor oder Elektrizität) der Umwandlung in einen Stoff von wesentlich anderen Eigenschaften, Ozon, oder nach neueren Entdeckungen von Schönbein vielmehr in zwei Stoffe Ozon und Antozon fähig, wovon jedoch letzteres bis jetzt bloß in Verbindungen, nicht isoliert, dargestellt ist. Beide zusammen bezeichnet man als aktiven Sauerstoff; durch Vereinigung bilden sie wieder gewöhnlichen Sauerstoff. Man hat dies mehrerseits (Weltzien, v. Babo) dadurch zu repräsentieren versucht, dass der gewöhnliche Sauerstoff aus einfachen Atomen und das Ozon aus zweiatomigen Molekülen bestehe, wogegen Clausius in mehreren Abhandlungen7) die umgekehrte Ansicht durchgeführt hat, die er schließlich wie folgt resümiert: "Die Moleküle des gewöhnlichen Sauerstoffes sind zweiatomig und enthalten je ein elektropositives und ein elektronegatives Atom. Der aktive Sauerstoff besteht aus ungepaarten Atomen, welche entweder frei oder lose gebunden sein können, und je nachdem diese Atome elektronegativ oder elektropositiv sind, bilden sie Ozon oder Antozon."

        7) Pogg. CIII S. 644. CXXI. S. 250.

    Die Frage, ob alle Grundatome gleichartiger Natur sind, hängt oder fällt in gewissem Sinne zusammen mit der Frage, ob allen Atomen dieselben Grundkräfte zukommen, weil eine Ungleichheit der Atome sich nicht wohl anders als in einer Verschiedenheit des Gesetzes oder der Größe der Grundkräfte äußern könnte. Und so hat schon Boscovich8) als einen, freilich nicht durchschlagenden, aber doch gut mit der Annahme überall gleichartiger (wägbarer) Grundatome stimmenden Umstand geltend gemacht, dass die Schwerkraft bei aller scheinbaren Verschiedenheit der Körper den letzten Teilchen derselben in gleicher Weise zugeschrieben werden muß, nicht minder die Undurchdringlichkeit aller Körper auf eine in größte Nähe allen gemeinsam zukommende Repulsivkraft hinweist.

        8) Theor. philos. nat. p. 41. §. 92

    Größere Schwierigkeit freilich, als alle wägbaren Materien auf gleichartige Atome zurückzuführen oder doch zurückführbar zu halten, hat es, dies gemeinsam für die wägbaren und unwägbaren Stoffe zu leisten; indem bis jetzt noch kein bestimmter Gedanke zu fassen ist, wie diese Zurückführung gegenüber folgender Schwierigkeit geschehen könnte. Dadurch, dass man einen Körper elektrisch oder magnetisch macht, kann man höchst beträchtliche Änderungen in den Anziehungs- und Abstoßungserscheinungen desselben gegen andere elektrische und magnetische Körper hervorbringen, ohne dass etwas Wägbares zutritt oder weggeht, und mithin ohne dass das Gewicht desselben sich dadurch ändert. Indem man nun der Elektrizität, dem Magnetismus ein besonderes Substrat unterlegt, kann man sagen, dass wegen der verschiedenen Qualität dieses Substrates von dem der wägbaren Stoffe die Anziehung und Abstoßung desselben gegen andere elektrische und magnetische Substanzen auch bei unmerklichem Gewichte, d. h. unmerklicher Anziehungsgröße gegen das Wägbare aus der Ferne, sehr starb sein könne; welche Anziehung oder Abstoßung zwischen den unwägbaren Substanzen sich dann auf die wägbaren, mit denen sie durch Anziehungskraft aus der Nähe in Verbindung stehen, überpflanze. Sollten aber die Erscheinungen des Wägbaren und Unwägbaren von derselben Materie abhängen, so müßte man annehmen, dass durch irgendwelche unbekannte Veränderungen in der Anordnung oder im Bewegungszustande der letzten Teile der Materie, welche bei den Wirkungen des Imponderabeln ins Spiel treten, große Änderungen in den nach Außen wirkenden Kräften erzeugt werden könnten, was sich aber bis jetzt nicht mit bekannten Gesetzen in Zusammenhang bringen läßt. Nur muß man auch hier im Auge behalten, dass, so lange die letzten Grundkräfte des Molekularen noch nicht bekannt sind, eine ferne Möglichkeit in dieser Beziehung nicht ganz ausgeschlossen bleibt. Nachdem namentlich W. Weber gefunden, dass die elektrodynamischen Erscheinungen der Einführung früher unbekannter, von relativer Geschwindigkeit, Beschleunigung, Richtung der Bewegung abhängiger, Kräfte bedürfen, ließe sich vielleicht denken, dass durch eine weitere Entwickelung der Vorstellungen in dieser Richtung noch das Problem, um das es sich handelt, gelöst werden könnte, ohne dass freilich auf eine so unbestimmte Möglichkeit sonderliches Gewicht zu legen.

    Nach all’ dem hat man sich zu erinnern, dass, wenn bis jetzt keine irgendwie versprechende Aussicht vorhanden ist, die denkbar einfachste Ansicht zu verwirklichen, eine metaphysische Notwendigkeit dazu auch nicht vorliegt.

    Die Frage, ob allen Atomen dieselben Grundkräfte zukommen, leitet zu der allgemeineren Frage über, ob sich alle Kräfte der Atome auf eine einzige Grundkraft reduzieren lassen, oder nicht wenigstens die bisher angenommenen Grundkräfte auf eine geringere Zahl herabbringen lassen.

    Man spricht zuvörderst von Anziehungs- und Abstoßungskräften. Nachdem aber die bestbestimmte Kraft zwischen wägbaren Teilchen, die Gravitationskraft, eine anziehende ist, kann man fragen, ob nicht alle Kraft überhaupt auf anziehende zu reduzieren und die scheinbaren Abstoßungskräfte durch geeignete Betrachtungen zu eliminieren seien. In der Tat hat man dies mehrfach versucht, und es bietet sich dazu zunächst folgender Gesichtspunkt dar.

    Scheinbare Abstoßungswirkungen können auf doppelte Weise unter dem Einfluß bloß anziehender Kräfte zu Stande kommen, einmal so, dass ein Körper stärker nach einer, als der entgegengesetzten Richtung angezogen wird, mithin den schwächer anziehenden Körper zu fliehen scheint; zweitens so, dass durch Zusammensetzung der Anziehung mit den Wirkungen der Beharrung, in Folge eines anfänglichen seitlichen Impulses, der Körper eine krumme Bahn beschreibt, die ihn zeitweis oder vielleicht ins Unbestimmte von dem anziehenden Körper abführt, wie es bei den himmlischen Bewegungen der Fall. Es läßt sich zur Zeit schwerlich berechnen, wie viel von den in der Natur vorkommenden scheinbaren Abstoßungswirkungen auf Rechnung solcher Ursachen zu schreiben.

    Jedenfalls reicht die zweite Ursache allein schon hin, die Entfernungsbewegung im großen Weltraume eine genau eben so große Rolle spielen zu lassen, als die Näherungsbewegung. Beides kompensiert sich in der Tat bei den himmlischen Bewegungen vollkommen. Bei oberflächlicher Betrachtung, und wie die Sache von den meisten Naturphilosophen wirklich gefaßt wird, könnte man hiernach gerade eben so gut im Weltenraume eine anziehende und abstoßende Grundkraft (Schwerkraft und Fliehkraft), die sich die Wage halten, annehmen, als man zwei entgegengesetzte magnetische und elektrische Grundkräfte, die sich im Ganzen kompensieren, annimmt. Da sich nun aber doch im großen Weltraum diese scheinbar polare Doppelkraft, unter Rücksichtnahme auf die Beharrung, auf eine einfache Anziehungskraft reduzieren läßt, ja reduziert werden muß, um eine genaue und klare Analyse der Erscheinungen und Anwendung der Rechnung zu gestatten, so wäre es fraglich, ob nicht dasselbe auch mit der Doppelkraft, welche die Erscheinungen im Kleinsten zu fordern scheinen, der Fall ist, und weiter könnte man dann fragen, ob nicht das Gesetz dieser anziehenden Kraft überall auf das Gravitationsgesetz zurückkommt.

    Ich selbst habe früherhin (Biot’s Lehrb. d. Physik. 2. Aufl. 1828. I. S. 408) aus diesem Gesichtspunkte einen Versuch gemacht, die Abstoßungskräfte aus der Welt des Kleinsten unter Zuziehung von Bewegungen des Kleinsten zu eliminieren und damit die Wirkungen des Ponderablen und Imponderablen von einer gemeinsamen Anziehungskraft, Gravitationskraft, abhängig zu machen. Einen anderen dahin zielenden Versuch, welcher in gewissen Gesichtspunkten mit dem meinigen zusammentrifft, hat Séguin gemacht (Cosmos par Moigno, T. I. II.). Aber ich kann diesen Versuchen keine Bedeutung mehr beilegen. Weder die elektrischen Abstoßungskräfte und elektrischen Kräfte auf große Distanzen überhaupt, noch die bei den elektro-dynamischen Erscheinungen tätigen Kräfte können meines Erachtens durch das bloße Gravitationsgesetz repräsentiert werden, wenn schon möglicherweise die den wägbaren Teilchen in Bezug zu einander zuzuschreibenden Kräfte.

    Inzwischen ist auch dies noch zweifelhaft. An sich kann es nicht wahrscheinlich erscheinen, dass es zwei Arten von Atomen gibt, eine (ponderable) bloß mit Anziehungskräften, die andere (imponderable) mit Anziehungs- und Abstoßungskräften begabt. Und wenn schon die exaktesten mathematischen Physiker, wie namentlich Poisson, diese Vorstellung jetzt zu Grunde legen, geschieht dies doch nicht mit der Behauptung, dass man darin die letzten Grundkräfte der Materie zu sehen habe.

    Allgemein gesprochen kann man weiter fragen: wenn sich ohne Abstoßungskräfte neben Anziehungskräften nicht auskommen läßt, ob sich die Anziehungskraft in Abstoßungskraft durch Änderung der Teilchen oder durch Änderung der Distanz oder Bewegungsverhältnisse verwandelt, und ob man nicht durch eine Verwandlung letzter Art eine Verwandlung erster Art ersparen kann.

    Nun ist jedenfalls gewiß, dass in einem gewissen Gebiete durch bloße Änderung der Bewegungsverhältnisse Anziehung in Abstoßung übergeht. So nämlich im Gebiete der elektro-dynamischen Erscheinungen. Dass auch bei bloßer Änderung der Distanz ein solcher Umschlag erfolgen könne, erscheint von vorn herein nicht wahrscheinlich. Bei der genannten Erscheinungen knüpft sich der Umschlag der Richtung der Kraft an den Umschlag in der Richtung der relativen Bewegung; aber welcher rationelle Gesichtspunkt soll sich dafür aufstellen lassen, dass die Kraft bei Änderung der Entfernung ihr Vorzeichen wechsele? Challis9) sagt geradezu: "Wenn Kraft eine den Teilchen inwohnende Eigenschaft ist, so muß sie in ihrem Ursprunge (in its origine) entweder anziehend oder abstoßend sein, und es scheint unmöglich, wie sie durch Ausbreitung in eine Ferne (by emanation to a distance) ihre Beschaffenheit ändern kann."

        9) Philosoph. Magaz. XIX. 1860, p. 89.

    Inzwischen habe ich auf die Unhaltbarkeit der Challis’schen Auffassung der Kraft nach dem, was im 16 Kapitel darüber gesagt worden, nicht nötig zurückzukommen; und werde im folgenden Kapitel zeigen, dass sich doch wirklich ein rationeller Gesichtspunkt für eine Änderung des Vorzeichens der Kraft mit der Distanz angeben läßt. Auch wird man da finden, dass es an älteren und neueren Physikern nicht gefehlt hat, welche eine solche Änderung statuieren. Überhaupt aber scheint mir die Weise, die Sache zu fassen, die ich im folgenden Kapitel entwickeln werde, bezüglich der betreffenden Frage am meisten für sich zubehalten, indem sie Allgemeinheit mit Bestimmtheit und Einfachheit der Gesichtspunkte verbindet und weitgreifenden Bedürfnissen der Physik entgegenzukommen verspricht. Doch bleibt das Prinzip davon bis auf Weiteres hypothetisch und seine Tragweite noch nicht zu übersehen. Auch bleiben noch folgende allgemeine Möglichkeiten, die Sache zu fassen.

    Wie das Beharrungsvermögen jedes Atom für sich oder sofern es nur nach seiner Beziehung zum unendlichen Raume gefaßt wird, bloß nötigt, in der einmal angenommenen Richtung und Geschwindigkeit zu verharren, diese aber uranfänglich die mannigfaltigsten für verschiedene Atome sein können und unstreitig sind; so nötigt vielleicht auch das allgemeinste Kraftgesetz, welches das Verhalten der Atom in Bezug zu einander beherrscht, nur dazu, dass der Zuwachs von Geschwindigkeit, den je zwei in Bezug zu einander erhalten, derselbe für dieselben Atome bei demselben Abstand bleibe, und bei verhältnismäßiger Vermehrung oder Verminderung des Abstandes überall und immer in demselben Verhältnis sich vermindere oder vermehre. Aber sowohl die ursprüngliche Richtung der relativen Geschwindigkeit als die Größe derselben kann für je zwei verschiedene Atome uranfänglich verschieden sein, d. h. mit andern Worten, die verschiedenen Atome können sich zu einander teils anziehend, teils abstoßend verhalten, auch dasselbe Atom sich anziehend gegen das eine, abstoßend gegen das andere verhalten (wie bei den beiden Elektrizitäten der Fall), und können die verschiedensten Stärken der absoluten Kraft gegen einander haben (wie sich in den chemischen Verwandtschaftsverhältnissen anzudeuten scheint), nur immer in der Art, dass sie ihr einmal angenommenes Verhalten in dieser Hinsicht so gut fest beibehalten, wie jedes im Beharren seine einmal angenommene Geschwindigkeit und Richtung.

    Nun würde nichts hindern, hiernach wirklich den verschiedenen Atomen eine uranfänglich verschiedene Grundqualität und Grundquantität beizulegen, nur dass solche nicht wie Herbart’s Qualität eine besondere Beschaffenheit der Atome an und für sich bedeutete, sondern nur in ihren Beziehungen sich verriete und in Änderung ihrer Beziehungen äußerte, wie die beiden Elektrizitäten für sich gleicher Beschaffenheit erscheinen und nur in Beziehung zu einander eine verschiedene Qualität verraten, die selber in nichts Anderem besteht, als dass sie ihre Beziehung zu einander unter denselben Umständen der Lage und Distanz verschieden ändern, und eben damit beweisen, dass außer den Umständen der Lage und Distanz noch ein nicht darauf zurückführbarer Umstand stattfindet, wovon die Erscheinungen abhängen.

    Man sieht jedenfalls aus Vorigem, dass dem Gedanken, alle Kräfte der Atome müßten in letzter Instanz auf eine einzige anziehende Grundkraft zurückkommen, wozu das Streben, die einfachsten und einheitlichsten Grund- und Grenzvorstellungen zu gewinnen, leicht führen kann, doch auch eine andere Vorstellungsweise als möglich gegenüber tritt. Unstreitig ist die Wurzel der großen Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen und Naturereignisse schon in deren Grenz- und Grundverhältnissen zu suchen; und es ist sehr fraglich, ob die verschiedene Urausteilung und Bewegung von Atomen, die sich den Kräften, d. h. dem gesetzlichen Verhalten nach, in Nichts unterscheiden, hinreichend ist, sie zu bedingen; auch sieht man a priori keinen Grund, warum bei der gleichen Denkbarkeit, dass zwei Atome sich in der Richtung ihrer Verbindungslinie von einander entfernen, und dass sie sich einander nähern, das eine Verhältnis vor dem anderen bevorzugt worden sein sollte. Auf der anderen Seite wäre es ebenso untriftig, aus der gleichen Denkbarkeit auf eine gleiche Wirklichkeit zu schließen. Ein Rad kann eben so leicht vorwärts als rückwärts rollend gedacht werden, aber die Weltentwickelung geht doch stets im Ganzen nur vorwärts, und so wäre es auch möglich, dass, wenn schon die Grundtendenz der Dinge ebensowohl als eine solche, sich zu fliehen, als sich zu verbinden gedacht werden könnte, doch in Wirklichkeit nur die eine stattfände, und Hand in Hand mit jenem Prinzip des Fortschritts ginge; was sich so ausdrücken ließe: Zum Grundprinzip des Fortschritts besteht ein Grundprinzip der Liebe, aber nicht des Hasses in der Welt. Wo Haß erscheint, geht er aus dem Konflikt verschiedener Richtungen der Liebe hervor. Unstreitig aber läßt sich nach derartigen Betrachtungen, die sich so und so wenden lassen, überhaupt nichts über diesen Gegenstand entscheiden.

    Wie schön wäre es, wenn wir bei der Ungewißheit, in der wir noch seitens der exakten Wissenschaft über diese fundamentalen Verhältnisse schweben, uns einer sicheren Entscheidung seitens der Philosophie erfreuen könnten. Aber je leichter es ihr fallen mag, eine solche zu geben, desto leichter wird sie leider wiegen.