XVIII. Schlußbetrachtungen.

    Schließen wir die vorigen Kapitel noch mit einigen allgemeinsten und rekapitulierenden Betrachtungen ab.

    Wenn wir uns nach Allem in Natur- und Geisteswissenschaft überall weigern, hinter das Aufzeigbare, die Erscheinung und das im Sinne derselben Vorstellbare zurückzugehen, selbst der Philosophie ein solches Recht nicht, weil die Kraft nicht, zuerkennen mögen, nur Abstraktionen, Verallgemeinerungen, Verknüpfungen, Gesetze, Grenzen, die vom Aufzeigbaren und danach Vorstellbaren über dasselbe hinausführen, ohne sich vom Bezuge dazu lösen zu können, statuieren, so fragt sich, was bleibt zuletzt für das Bedürfnis einer tiefergehenden Betrachtung, ein ideelleres Interesse, eine nicht bloß mit dem Gegebenen befriedigte Sehnsucht übrig; und nimmer wird man den menschlichen Geist und das menschliche Gemüt in die Erscheinung so einsperren, dass er sich in dieser Gefangenschaft begnügt fände, nicht zum tieferen Wesen zurückverlangte, nicht zu etwas Übersinnlichem strebte, nicht Ungesehenes auch wirklich halten sollte.

    Aber dies ganze Bedürfnis, Interesse, Verlangen wird, indem es in die rechten Schranken seiner möglichen Befriedigung gewiesen wird, in vollerem Maße befriedigt als durch Vorspiegelung von Aussichten ins Unmögliche und Leere. Denn indem die Betrachtung sich weigert, hinter die Erscheinung und das dadurch Vorstellbare zurückzugehen, weigert sie sich doch nicht, das Vorstellbare bis ins Letzte zu analysieren, also dass zum Kleinsten wie zum Größten, was in die Erscheinung treten kann, die Elemente wie Methoden des Baues gewonnen werden; indem sie von einer Qualität, einem Wesen rücklings der Erscheinung nichts weiß und nur leere Worte darin findet, verzichtet sie doch nicht, das Wesentliche aller Erscheinung zu erkennen, d. h. das in aller Erscheinung Konstante, Gesetzliche, Allgemeine, ewig Bleibende, und mit Bezug darauf auch jede einzelne Erscheinung abzuwägen; indem sie mit etwas Höchstem und Unendlichem nicht anzufangen weiß, blickt sie danach doch als nach einem Ziele; indem sie keine Ahnung von etwas zu haben bekennt, das nie in die Erscheinung treten kann, noch aus ihr zu gewinnen ist, und selbst eine Idee für Nichts hält, die nicht in einem Geiste erscheint, so trachtet sie um so mehr danach, aus Dem, was heute, hier und mir und Dir und möglichst Vielen erscheint, zu erforschen, was anderswo und anderswann und unter jedweden anderen Bedingungen und anderen Wesen erscheinen kann, und dem Dasein anderer Wesen selbst nachzuforschen; so treten Jenseits, Gott und Seelen gegenüber, ob und wie sie sind, das heißt wie sie sich selbst erscheinen und erscheinen können, in den Kreis der Betrachtung auf Grund der Verallgemeinerung, Erweiterung, Steigerung, Gipfelung Dessen, was uns erscheint, und wie wir uns erscheinen. Wer von anderem Übersinnlichen, oder vom Übersinnlichen anders spricht, als was im Kreise des hier aufgeführten Erscheinlichen und daraus Gewinnbaren enthalten ist, weiß nicht, was er spricht, weiß nicht, was er sucht.

    Das bleiben die Grundprinzipien alles haltbaren Wissens: vor allem das Gegebene fest, die Vorstellung davon klar zu stellen, davon zu sammeln, was zu sammeln möglich ist, aus dem Gegebenen das Nichtgegebene, aus dem Vorstellbaren anderes Vorstellbare zu finden, nie umgekehrt aus dem Nichtgegebenen das Gegebene, nie aus dem Unvorstellbaren das Vorstellbare finden zu wollen, das Höchste auf das Niedrigste, das Allgemeinste auf das Besonderste zu stützen, dem Abstraktesten nur in Beziehung zu seinen Concretis Bedeutung beizulegen, die Begriffe nach den Dingen und dann erst die Dinge nach den Begriffen zu konstruieren, kein Wort zu brauchen, ohne es, sei es für sich, sei es im Zusammenhange auf etwas in Wirklichkeit oder danach in der Vorstellung Aufzeigbares oder klar Erläuterbares zu beziehen; mit Rücksicht auf alles Dies aber in Allem das Allgemeinste, Höchste, Letzte, Eine, Ewige zu suchen, und nichts Einzelnes, Niedriges, Endliches ohne den Bezug dazu und den Abschluß in solchem zu gestatten.

    Indem ich unter diesen Forderungen die stelle, das Höchste auf das Niedrigste, das Allgemeinste auf das Besonderste zu stützen, behaupte ich damit nicht, dass die Philosophie, als Wissenschaft der Wissenschaften, nichts weiter als eine Zusammenstellung nur eben des Einzelnen, Niedrigen, Endlichen sein soll, auf dessen Grunde sie erst aufzusteigen hat. Sondern es hat mir immer folgendes Bild treffend geschienen: man muß einen Turm von der breiten Basis, nicht von der Spitze aus erbauen, und je höher der Turm werden soll, so breiter muß die Basis sein; ist man aber auf die Spitze gelangt, ja auf jeder Stufe zur Spitze, kann man sich viel weiter ins Land umsehen, als auf allen tieferen Stufen, die doch erst zur Spitze führen mußten. Weiter umsehen, sage ich, und die allgemeinen Verhältnisse hiermit richtiger fassen, obwohl, wer im Lande selber geht, immer das Einzelne noch triftiger fassen wird, als wer es auf dem Turme von oben ansieht. Auch mag man nach der Spitze des Turmes zum voraus den Gedanken richten, ehe man den Turm dahin geführt hat, doch vielmehr eine Aussicht auf höhere und weitere Aussichten in das Land, als solche selbst dadurch schon begründet halten, und vor allem im Träumen über idealen Aussichten nicht die wirklichen aus dem Auge verlieren.

    Es gibt aber allerdings eine Weise, den Turm auf der Spitze zu erbauen, ja rasch zu schwindelnder Höhe aufsteigen zu lassen, so dass er doch so fest zu stehen scheint, als wurzele er im Boden, und alle seine Klammern so haltbar scheinen, als wären sie von Stahl und Eisen. In der Wirklichkeit erzeugt man diesen Schein dadurch, dass man den Turm in einem Hohlspiegel betrachtet, in der Philosophie dadurch, dass man die Welt im Spiegel des Schelling’schen, Hegel’schen oder Herbart’schen Systems betrachtet, die sich in der Hauptsache dadurch unterscheiden, dass erstere Beide die verkehrte Lage des Turms für die wahre, letztere den Schein für den Turm und den Turm für den Schein ausgibt; dass die Spitze der ersteren ganz in der Luft schwebt, die des letzteren den festen Boden doch leise berührt.

    Worin ist denn nun der wirkliche Turm dem Scheinbild vorzuziehen? Man kann auf seine Stufen wirklich treten, seine Glocken läuten wirklich in das Land, von seinem Gipfel kann man wirklich Neues sehen; das Scheinbild ist nur da, es selber anzusehen.

    Gewiß sind von Schelling und Hegel große Blicke ausgegangen. Aber Alles zerrinnt ins Vergebliche oder bedarf erst der festen Gestaltung und Gründung, weil ihr Blick, anstatt sich auf die Dinge scharf zu richten, die Dinge selbst hervorzaubern will. Immerhin zieh’ ich den kühn ausschauenden, weittragenden Blick von Schelling und Hegel weit vor dem spintisierenden, das Enge noch verengenden von Herbart, ihre Welt voll gewaltiger, einander fassender, haltender, tragender Nebelbilder den einzelnen Nebelbläschen, in die er die Welt zerfällt, die Hand, die sich ins Blaue streckt, die Welt mit einem Griffe zu umspannen, der Hand, die sich anschickt, sie in Staub zu zerreiben; Beides ein gleich vergebliches Bemühen; doch jenes Streben ist wenigstens gerichtet auf Das, was ist, das Hohe, das Ewige, das Unendliche, das Ganze, und die Menschenhand verwechselt sich nur bald mit Gottes Hand, bald das Greifen nach dem ganzen Weltinhalt mit dem ganzen Inhalt; indessen die andere das Werk von Gottes Hand zertrümmert und Gott selbst als ein Stäubchen mit unter die Trümmer wirft. Doch, wie ich das Blatt wende, bedenke ich auch wieder, Herbart zerreibt doch die Welt nur deshalb, um das nicht weiter Zerreibliche zu finden, tritt doch ursprünglich auf ein Festes, ist’s auch nur, um es zu zertreten, indes man in der flüssigen Welt von Jenen umsonst nach dem Strohhalm sucht, an dem sich zu halten. Und so ist’s freilich kein Wunder, wenn Mancher, um dem Ertrinken zu entgehen, sich lieber auf den Sand werfen läßt, hat er schon darauf statt des Ertrinkens nur das Verhungern zu erwarten.

    Nichts hindert, da alle Erscheinung es doch nur durch ein Bewußtsein ist, in das sie fällt, da die verschiedensten Erscheinungen dies und nur eben dies gemein haben, da das Bewußtsein seinerseits nur als Verknüpfung einer Mannigfaltigkeit und eines Wechsels von Erscheinungen besteht, nichts, sage ich, hindert, die Totalität des Erscheinens und hiermit den Realgrund aller Dinge, alles Geschehens, in ein einziges, ewiges, allumfassendes Bewußtsein selbst zu verlegen, was alles zeitliche Erscheinen aus sich selbst gebiert und in sich zurücknimmt, und dessen Einheit letzter Halt und Kern und Knoten aller Dinge ist, also dass daran zuletzt auch alle einheitlichen Bezugspunkte hängen, durch die sich die Erscheinungen zu sogenannten Dingen außer uns und zu Gedanken in uns verknüpfen. Dass sich unser Bewußtsein bei äußerer Wahrnehmung äußerlich bestimmt fühlt, hinge nur davon ab, dass das allgemeine Bewußtsein, indem es über das unsere herausgreift, mit Dem, was es mehr als unseres hat, bestimmend auf das unsere wirkt, wie schon in unserem Bewußtsein jedes Moment durch die Totalität der übrigen bestimmt wird. Doch darein weiter einzugehen ist hier nicht der Ort.

    Nachdem ich so geschlossen, kann man sagen: ist solcher Idealismus, in den das Ganze ausläuft, noch ein Anschluß an die geltenden physikalischen Ansichten zu nennen?

    In der Tat, nicht dieser Abschluß ist ein Anschluß daran zu nennen; aber der ganze Weg, der dazu führt. Denn nirgends ist auf diesem Wege über die Erfahrung hinausgegangen, als mit Klärung der Begriffe, unter welchen die Erfahrungen sich verknüpfen, und mit verallgemeinernder Auffassung der Erfahrung. Im Übrigen fordert dieser Idealismus so sehr zu seinem Bestande die Materie und gibt der Abhängigkeit des Geistes von der Materie so volles Recht, sonst hätte eine Psychophysik daraus nicht fließen können, dass man ihn von einer anderen Seite mit Materialismus verwechseln könnte, wenn nicht der Glaube an ein göttliches bewußtes Wesen, was die Materie nur als immanente Bedingung seines Daseins einschließt, und an die ewige Fortdauer unseres Geistes, die sich als Verallgemeinerungen auf unserem Wege gewinnen lassen, den scheidenden Charakter unserer Weltansicht von der materialistischen böte. Ihre zusammenhängende Entwickelung aber gehört nicht hierher; ich habe sie anderwärts an mehreren Orten gegeben.1)

            1) In Kürze in der Schrift: "Über die Seelenfrage", S. 198 ff.