XVII. Über den Realitätsbegriff in Beziehung zur Atomenfrage.

    Indem ein wirkliches Ding nicht bloß durch die Erscheinungen charakterisierbar ist, die es wirklich gibt, sondern auch, die es möglicherweise unter anderen Umständen (die selbst in letzter Instanz immer nur durch einen Zusammenhang und Verhältnisse von Erscheinungen charakterisierbar sind) geben kann, wird zur vollständigen Charakteristik eines Dinges erfordert, zu wissen, wie es sich unter jeder denkbaren Abänderung der Umstände bis zu den Grenzfällen der Abänderung darstellen wird; und je erschöpfender und gründlicher die Betrachtung sein soll, so mehr wird man sich dahin getrieben finden, die letzten Grenzen denkbarer Abänderung mit in Betracht zu ziehen, selbst wenn die Abänderung nicht bis dahin geschehen könnte, sofern Das, was geschehen kann, in der Betrachtung und für den Schluß damit in continuo zusammenhängt.

    Die Erscheinungen, wie sie an der Oberfläche der Erde von statten gehen, hängen zu großem Teile (nach allen die Schwere betreffenden Beziehungen) davon ab, dass Materie in einer Tiefe der Erde, bis zu der wir nie dringen können, enthalten ist; damit aber, dass wir doch solche tasten würden, wenn wir dahinab dringen könnten, hängt Vieles einfach und leicht schließbar zusammen, was an der Oberfläche sichtbar und tastbar von statten geht, nachdem freilich erst verwickelte Schlüsse aus Dem, was wir an der Oberfläche tasten, selbst zu jener Annahme der Materie in der Tiefe führen konnten.

    Wie wir nun den Erdkörper erst vollständig erkannt zu haben glauben dürfen, wenn wir wissen, was uns erscheinen würde, wenn wir in seine größte Tiefe drängen, der Himmel, wenn wir wissen, was uns erscheinen würde, wenn wir die Kraft unserer Fernröhre ins Unbestimmte vergrößern oder unserem Auge eine unendliche Tragweite zu erteilen vermöchten; so gehört nun auch zur vollständigen und erschöpfenden Charakteristik der körperlichen Dinge überhaupt, dass wir einen der wichtigsten Grenzfälle in Betracht ziehen, dass wir uns fragen, wie würden die Körper erscheinen, wenn wir unsere Sinne, die wir schon mit dem Mikroskop bis zu gewissen Grenzen verfeinern und verschärfen können, bis ins Unbestimmte verfeinern und verschärfen könnten. Und wir haben hierauf die Antwort gegeben: dann würden die Teilchen, die jetzt zusammenhängend erscheinen, gesondert erscheinen, als Atome. Ungeachtet nun unsere Sinne immer zu grob bleiben werden, die Atome als solche gesondert zu sehen, behalten doch die Atome in Rücksicht jener Weise, wie alle wirklichen Dinge charakterisiert werden (nicht bloß nach Dem, wie sie wirklich erscheinen, sondern auch wie sie unter Umständen erscheinen würden, die vorstellbar mit den vorhandenen zusammenhängen), den Charakter der Wirklichkeit. Und ungeachtet wir erst durch verwickelte Schlüsse von Dem, was Jedem ins Gesicht und Getast fällt, zur Annahme der Atome gelangen mußten, vereinfacht und klärt sich doch, nachdem wir dazu gelangt sind, nun dadurch die Betrachtung Dessen, was Jedem in Auge und Getast fällt, selbst, gewinnen wir dadurch Brücken des Zusammenhangs für die Vorstellung, wie früher gezeigt worden.

    Im Übrigen aber wird nichts hindern, Allem, was nur als Grenzvorstellung des wirklich Erscheinlichen, doch jenseits aller Möglichkeit der wirklichen Erscheinung liegt, statt des Namens eines physisch Wirklichen den eines metaphysisch Wirklichen zu geben (was zuletzt Sache der Definition, vgl. die philosophische Abteilung dieser Schrift); und also, falls eine so große Verschärfung der Sinne absolut nicht möglich wäre, um die Atome je als Das, was sie sind, d. h. in ihrer Diskretion zu sehen und zu fühlen, solchen nur eine metaphysische statt physische Wirklichkeit beizulegen. Das Aufsuchen solcher metaphysischen Realitäten belohnt sich jedenfalls durch die fruchtbaren und klaren Folgerungen für die physische Realität selbst, die wir darauf zu begründen wissen, und rechtfertigt sich nach Maßgabe als es der Fall. Hier läge von gewisser Seite eine Annäherung an die bisherige Philosophie, deren metaphysische Realität auch nicht mit der gemeinen sinnlichen zusammenfällt, und worin sie Fundament und Abschluß der gemeinen sucht. Nur mit dem Unterschiede, dass die unsere nichts hinter, vor oder über der gemeinen erfahrbaren Wirklichkeit mit der Bedeutung sein soll, dass diese zu einem leeren Schein erniedrigt oder verflüchtigt würde, sondern die gedankenmäßige Grenze der erfahrbaren Wirklichkeit selbst, eine Grenze, von und zu der ein Fluß der Vorstellung und des Schlusses durch die erfahrbare Wirklichkeit geht.

    Zuletzt führt aller Streit überhaupt, ob die Atome ein Wirkliches sind oder nicht, zur Klippe des Wortstreits zurück, wenn man sich eben nicht verständigt, was man wirklich nennen will, und es kommt wie immer auf das Wort eigentlich nichts an, sondern nur auf die Sache. Mit aller Behauptung, dass diskrete Atome wirklich sind, können wir nicht machen, dass wir sie als solche wirklich sehen und fühlen, mit aller Behauptung, dass die Atome nicht wirklich sind, können die Gegner nicht wegbringen, dass wir durch ihre Vorstellung uns im Sichtbaren und Fühlbaren besser orientieren, als wenn wir sie uns nicht vorstellen; nicht wegbringen, dass ihre Vorstellung nach denselben Schlußprinzipien aus Verhältnissen der erscheinlichen Wirklichkeit folgt, nach denen wir diese selbst erschließen; dass umgekehrt Ableitungen Dessen, was in die erscheinliche Wirklichkeit fällt, auf ihre Vorstellung begründet werden können. Dieser Zusammenhang, in dem sie durch Vorstellung und Schluß mit der erscheinlichen Wirklichkeit stehen, diese Leistungen für die erscheinliche Wirklichkeit sind jedenfalls wirkliche und werden dadurch nicht im Mindesten verkürzt und verkümmert, dass man die Atome nicht wirklich nennt; auch übertreffen sie darin die Begriffe, welche die Philosophie an ihre Stelle zur Orientierung in den Erscheinungen setzen möchte; und das ist der durchschlagende Grund, sie diesen vorzuziehen. Hier ist das Sachliche, um das sich’s handelt; das Wort wirklich tut nichts dazu und nichts davon. Doch bleiben wir im Zusammenhange des Sprachgebrauchs, wenn wir die Atome mit solchem Charakter und solchen Leistungen wirkliche nennen. Sie wirken Erscheinungen, sie bedingen Erscheinungen, das ist genug, wenn sie auch nicht selbst erscheinen; der Sprachgebrauch verlangt es nicht. In diesem Sinne haben wir oben und überall darauf bestanden und werden ferner darauf bestehen, dass die Atome wirkliche Dinge sind.

    In gewisser Weise tritt bei dieser Frage ein analoger Fall ein als bei jener Frage, ob man die Imponderabilien Materie nennen soll, da sie doch die Eigenschaft nicht aufzeiglich besitzen, an welche sich ursprünglich der Begriff der Materie knüpfte, die Tastbarkeit, indes sie die allgemeinen Gleichgewichts- und Bewegungsverhältnisse mit dem Tastbaren teilen, nach denen wir sonst das Dasein der Materie beurteilen. Immerhin bleibt die Behandlung der Imponderabilien aus den gemeinsamen Gesichtspunkten, die für sie mit den Ponderabilien bestehen, nützlich und nötig. So möchten wir zweifeln, ob wir diskrete Atome noch wirkliche Dinge nennen sollen, da sie die Erscheinlichkeit, die Basis aller Wirklichkeit, nicht aufzeiglich mehr besitzen; aber da sie Alles, wonach wir sonst das Wirkliche beurteilen, besitzen, sind sie doch aus den gemeinsamen Gesichtspunkten, die sie mit denselben teilen, auch zu behandeln.

    Dabei sind wir gern bereit, in Herbart’s Sinne zuzugeben, dass die Atome wirklich nur ein widerspruchsvoller Schein, ganz fern von aller wahren Wirklichkeit. Denn da er Alles, was man im gewöhnlichen Sprachgebrauche seiend nennt, nach jenem Sachs’schen Prinzip als widerspruchsvollen Schein erklärt und hinterwirkliche, in sich widerspruchsvolle Begriffe als wahre Realität, so wollen wir ausdrücklich die Atome zu dem widerspruchsvollen Scheine, nicht zu der Realität in Herbart’s Sinne gerechnet wissen. Sie sollen nur wirklich sein in dem Sinne, wie Jeder außer Herbart die Wirklichkeit, Herbart aber die Unwirklichkeit versteht.

    Auch in Hegel’schem Sinne mögen sie nicht existieren; da in diesem Sinne nur Das wahrhaft existiert, was dialektisch aus der Selbstentwickelung des Seinsbegriffs hervorgeht, bisher aber sich weder in einem der Dialektiker vom Fache noch in uns selbst der Seinsbegriff zu Atomen entfaltet hat; wenn auch, wie schon gesagt, nicht zu bezweifeln, dass er es ganz gut vermöchte, wenn ihn die Neigung zu dieser Richtung der Selbstbewegung anwandelte. Bis dahin mögen sie mit zu den, dem Begriffe unadäquaten, in sich zerfallenen Scheinexistenzen gehören, von denen die Natur ja nach Hegel selbst so voll ist; ja wovon voll zu sein zum Begriffe der Natur nach Hegel gehört.